DAS RAGNARÖK-MISSVERSTÄNDNIS: WELTENBRAND ODER KREISLAUF DES LEBENS?

Ein gewaltiger Winter, der drei Jahre andauert und in dem sich die menschlichen Königreiche gegenseitig zerfleischen, während Neid, Gier und Missgunst herrschen, geht der eigentlichen Ragnarök voraus. Frostriesen regen sich und bringen immer eisigere Kälte nach Midgard, der Fenriswolf zerrt mit immer größerer Kraft an seiner Kette, die Midgardschlange Jörmungandr wühlt das Meer auf, und auch die Götter und Göttinnen rüsten sich zum Gefecht. Die Elben frieren erbärmlich und die Zwerge verlassen ihre schützenden Erdhöhlen, in die sie danach nicht mehr zurückfinden und verloren durch die Welten ziehen. Alles wankt, alles bebt und Yggdrasils Äste brechen, nachdem die Nornen es nicht mehr schaffen, den Weltenbaum zu nähren. Loki befreit sich und dann auch den Fenriswolf, der auf Rache an seinen Peinigern sinnt. Heimdallr stößt nun in sein Gjallarhorn … und das Ende nimmt seinen Anfang. Götter und Göttinnen kämpfen gemeinsam mit den gefallenen Helden aus Walhall gegen Riesen und eine Armee von Toten, die Hel aus ihrem Reich hinausgelassen hat. Jörmungandr greift Thor an, der die große Schlange zwar erschlagen kann, aber letztlich an ihrem Gift zugrunde geht. Freyr fällt im Kampf gegen den Feuerriesen Surt, Tyr und der Unterwelthund Garm bringen sich gegenseitig um, ebenso wie Heimdallr und Loki. Alle Ordnung zerbricht, Sonne und Mond werden von zwei riesigen Wölfen gefressen, und auch die Sterne verblassen oder kommen von ihrer Bahn ab und verschwinden in den Weiten des Alls. Die Welten liegen im Dunkeln und Surt setzt alles in Brand, vertilgt alles, lässt Asgard niederbrennen und auch Midgard zu Asche werden. Dann stürzt Yggdrasil ins große Weltenmeer, dessen von Jörmungandr aufgepeitschte Wellen alles in die Tiefe ziehen. So wird in der großen Ragnarök-Sage der Untergang der Götter und ihrer Welt geschildert.

Man kann den nordischen Völkern beim besten Willen nicht vorwerfen, dass sie keinen Sinn für Dramatik gehabt hätten! Doch das oben Geschilderte ist nur die halbe Geschichte, wird aber oft so erzählt, als wäre Ragnarök das absolute Ende, der vollständige Untergang. Das mag an Richard Wagner liegen, dessen Opernzyklus Der Ring der Nibelungen mit dieser Götterdämmerung abschließt und der den letzten Vorhang der Aufführung genau dann fallen lässt, wenn alles in Schutt und Asche liegt. Diese Art der Darstellung hat sich offenbar tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägt und letztlich der nordischen Mythologie zu einem düsteren und nihilistischen Ruf verholfen. Diesen hat sie genauso wenig verdient wie den Vorwurf, dass sie fatalistisch sei, was sich vor allem durch eine einseitige Interpretation der Aufgabe der Nornen hartnäckig gehalten hat.

Ragnarök ist nicht das pessimistische Ende allen Seins – nein, die Geschichte geht wie gesagt weiter. Die Sonne hatte, bevor sie verschlungen wurde, noch eine Tochter geboren: eine kleine Sonne, die nun wächst und heller wird und dadurch auch die Sterne zurück in ihre Bahn lockt. Diese neue Sonne wärmt die Fluten, in denen zuvor alles versunken war, und eine neue Welt erhebt sich aus den Wellen, noch grüner und schöner, als es die alte je war! In der See tummeln sich Fische und Robben, große Viehherden ziehen übers Land, glitzernde Flüsse und Seen bieten klares, belebendes Wasser, eine Unzahl verschiedenster Vögel kreisen am Himmel und sitzen in den Ästen der neu entstehenden Bäume.

Auch einige der Asen haben überlebt, zum Beispiel die Söhne von Thor ebenso wie einige andere Söhne Odins. Und aus den Tiefen Hels entsteigen Baldur und Hödur, friedlich vereint – ein wunderbares Bild dafür, dass Versöhnung neues Leben hervorbringt. Sie bauen die Hallen Asgards wieder auf, doch diesmal ohne Schilde und Schwerter an der Wand, sondern geschmückt mit grünem Blattwerk und farbenprächtigen Blumen. Und da eine Wurzel Yggdrasils ebenfalls überlebt hat, wächst auch der Weltenbaum wieder, sodass alle Welten wieder ihren Platz finden. Und dort, an der Wurzel Yggdrasils, haben auch zwei Menschen namens Lif (das Leben) und Lifthrasir (der nach Leben Strebende) den Weltenbrand überstanden und erheben sich nun staunend in eine neue grüne Welt, die sie dann mit jeder Menge Kinder wieder bevölkern.109

Einen echten „Cliffhanger“ haben die Mythen da auch noch zu bieten, denn auch Niddhöggr, der schlangenartige Drache, der immer schon an Yggdrasils Wurzeln gekaut hat, überlebt ebenfalls, erhebt sich in die Lüfte und fliegt gemeinsam mit einigen Toten aus der vergangenen Schlacht auf seinem Rücken davon. Er verschwindet hinter dem Horizont und niemand weiß, was dann passiert. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie nach dieser Szene einfach „Fortsetzung folgt …“ eingeblendet wird und der Abspann läuft.

Genau dieses „Fortsetzung folgt …“ ist aber das eigentlich Entscheidende in der Geschichte um Ragnarök: Es ist nicht das Ende von allem, sondern nur das Ende eines Zyklus, aus dem ein neuer Zyklus hervorgeht. Und dieses Werden, Vergehen und erneute Werden wird immer so weitergehen. Ragnarök ist eine Verwandlung und ein Neubeginn, der gut zu einer spirituellen Weltsicht passt, die ihr Wissen aus der tiefen Schau der Natur geschenkt bekommen hat und die nicht versucht, die Realität der Vergänglichkeit zu negieren oder in irgendeiner Weise zu verniedlichen. Diese Weltsicht kann Vergänglichkeit annehmen, weil sie immer wieder beobachtet hat, wie die Jahreszeiten ineinander übergehen, wie auf den Winter wieder ein Frühling folgt und die Pflanzen, die tot schienen, wieder neues Grün hervorbringen. Sie hat Bärenmütter gesehen, die im frühen Winter allein in einer Höhle verschwinden und bei den ersten Strahlen der Frühjahrssonne begleitet von zwei oder drei Bärenkindern wieder ihre Nasen hervorstrecken. Diese Weltsicht versteht die kosmischen Kräfte als Zyklen, als rhythmisches Auf und Ab wie Ebbe und Flut, ein ewiger großer Kreislauf von Geburt, Wachstum, Fülle und Fruchtbarkeit, Alter, Tod und Wiedergeburt in einer anderen Form. Ein Kreislauf, dem sich selbst die Götter und Göttinnen nicht entziehen können, die in den Mythen trotz all ihrer Macht als verwundbar dargestellt werden. Sie verfügen über keine angeborene Unsterblichkeit, sondern bleiben nur jung, weil sie die Äpfel aus Idunas Garten zur Verfügung haben. Odins beständige Sorgen um die Zukunft, sein Sammeln der Krieger und die Vorbereitung auf Ragnarök zeigen sein Wissen um diese Gesetzmäßigkeiten. Und auch die Mauer um Asgard, die nie wirklich fertiggestellt wurde, ist ein Sinnbild für diese Zusammenhänge: Immer klafft dort eine Lücke, in die die Vergänglichkeit eindringen kann.

Die Göttinnen und Götter sterben, die Sonne verlischt, die Menschen und Tiere vergehen … und doch kehrt das Leben zurück, beginnt in anderer Form neu, gestaltet sich um, nutzt das Alte wie Kompost und beginnt schöner als je zuvor zu blühen.

Das ist nun wirklich alles andere als pessimistisch oder gar nihilistisch.

Wenn du diese Weltsicht auf dich und dein Leben beziehst, kannst du manche Ereignisse oder Entwicklungen vielleicht mit anderen Augen betrachten:

Gibt es Episoden in deinem Leben, in denen etwas mehr oder weniger tragisch endete, wodurch aber letztlich Platz für Neues geschaffen wurde?

Kannst du dir vorstellen, dass Vergänglichkeit eine notwendige Voraussetzung für einen Wandel ist?

Ist das Festhalten an Altem, nicht mehr Funktionierendem hilfreich, um zu wachsen?

Kannst du im Loslassen eine gewisse Freiheit spüren?

Kannst du das zyklische Muster von Werden und Vergehen und erneutem Werden in deinem Leben beobachten?

Und noch viel wichtiger: Kannst du es wertschätzen?

Solch ein Annehmen der Vergänglichkeit und ein bewusstes Eintauchen in die zyklische Realität des Seins kann dich von vielen etwaigen Ängsten befreien, letztlich auch von der Grundangst der meisten Menschen, der Angst vor dem eigenen Vergehen, dem eigenen Tod. Dieses Annehmen kommt einer Begegnung mit der Vergänglichkeit gleich, einer Begegnung, die verändert und die im Mythos von Baldur und seinem Tod (der Ragnarök in letzter Konsequenz auslöst) ein sehr spannendes Bild zeichnet. Damit wollen wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen.

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109 Dass die beiden Menschen versteckt in den Wurzeln Yggdrasils überlebt haben, zeigt einen Rückgriff auf die erste Schöpfung der Menschen aus zwei Holzstücken. Auch hier – in der neuen Welt nach Ragnarök – sind die Menschen mit dem Holz des Baumes verbunden.