Sich wirklich auf die Mythen einzulassen und ihre Motive mit den eigenen Seelenbildern abzugleichen kann ein innerer Prozess sein, der eine ewige Spirale anstößt, die sich immer weiter windet und in deren Verlauf Erfahrungen und Erlebnisse zur Reifung und Entwicklung des eigenen Wesens beitragen. Du siehst in den Göttern und Göttinnen Regungen, die du auch in dir erkennst, du siehst Beweggründe und das daraus folgende Handeln, du siehst Konsequenzen der Taten und bewertest deine eigenen Beweggründe unter Umständen neu. Du lernst vom Subtext aller Mythen, der auf nichts anderes als Menschlichkeit abzielt und den Versuch unternimmt, diese Menschlichkeit irgendwie und irgendwo im Kosmos zu verorten:
Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?
Was bedeutet es, auf diesem Planeten zu leben, zu atmen, zu hoffen und zu glauben?
Welche Verbindung gibt es zwischen der Welt und der eigenen Seele?
Was bedeutet es, Fehler zu machen?
Was bedeutet Schuld?
Wie fühlt sich Vergebung an?
Wie lassen sich negative Gefühle überwinden?
Wie gestaltet man das Zusammenleben mit anderen Menschen und anderen Wesen so, dass alle gut leben können?
Was heißt es, wirklich Verantwortung zu übernehmen?
Wie erweitert man die eigene kleine Welt und umarmt das große Ganze?
Wie begegnet man der Vergänglichkeit?
All diese Fragen haben initiatorischen Charakter. Sie führen dich aus dem sicheren Bereich fort und stellen dich in einen größeren Zusammenhang und mitten ins große Unbekannte hinein. Du verlässt das Bekannte, setzt dich den großen Fragen aus, die das Leben an dich stellt, und kommst mit eigenen Antworten zurück, die du gegebenenfalls mit anderen teilen kannst. Es ist das Muster der klassischen Heldenreise129, die ein mythologisches Bild für etwas ist, das sehr einfach klingt, aber zu den schwersten Dingen gehört, die Menschen tun können: erwachsen werden!
Mythen können in diesem Prozess eine große Hilfe sein, denn sie bilden einen Weg ab, den wir gedanklich beschreiten und sozusagen „testen“ können, bevor wir unsere eigenen Schritte machen. Die Geschichten sind da, sind erzählt worden … und nun ist es an dir, sie für dich zu verstehen und sie in dir wahrhaft zum Klingen zu bringen.
Da all dies wie gesagt als Initiation verstanden werden kann, wollen wir dieses letzte Kapitel mit einer Initiationsgeschichte beschließen, die zum einen zeigt, dass der Weg der Initiation nicht gerade leicht ist, sondern vielmehr sogar sehr schmerzhaft sein kann, und zum anderen daraufhinweist, dass sich die Mühe lohnt und der Reifeprozess letztlich zum wahren Selbst und zur ganz eigenen Kraft führt. Ausgehen wollen wir dabei von einer Stelle in der Völuspa:
„Als sie Gullveig mit Speeren stießen
Und sie in der Halle des Hohen verbrannten;
Dreimal verbrannten sie die dreimal Geborene,
Oft, nicht selten, aber sie lebt.
Heidr wurde sie genannt,
In welches Haus sie auch kam,
Die richtig weissagende Seherin, die Zauberei verstand.
Sie zauberte, wo sie konnte,
Sie zauberte in Trance …“130
Gullveig taucht namentlich ausschließlich in der Völuspa, dem Lied der Seherin, auf. Unsicher ist dabei, ob sie auch selbst die Seherin ist, um deren Lied es sich hier handelt. (Jakob Grimm vermutet das, andere Forscher bezweifeln es.) Ihr Name wird als „Goldrausch“ oder „Goldtrank“ übersetzt, wobei Gull für das Gold steht und Veig ein eher unklarer Begriff ist, der jedoch meist als „Rausch, Rauschgetränk“ oder aber auch „Kraft“ beziehungsweise „Stärke“ gedeutet wird. Die Historiker sehen in ihrer Geschichte vielerlei, und es gibt einen großen Deutungsspielraum, weshalb sie sich wundervoll für eine eigene mythologische (und hier gern auch schamanisch inspirierte) „Forschung“ eignet!
Manche Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von einem Opferritus, dessen Überreste hier überliefert sind, andere sprechen von einer bloßen Verurteilung Gullveigs als Hexe, die sich in den Dienst der Vanen stellte und daher von den Asen bestraft wurde. Wieder andere sehen eine Parallele zur Figur der Pandora in der griechischen Mythologie. Doch dies leuchtet uns eher weniger ein, denn Gullveig wird keinesfalls wie Pandora von den Göttern erschaffen, um die Menschheit zu strafen. Der deutsche Altgermanist Karl Viktor Müllenhoff sah im 19. Jahrhundert dagegen eine Art alchemistischen Gold-läuterungsprozess in dieser Geschichte widergespiegelt131 – eine Auffassung, mit der wir viel eher etwas anfangen können und die wir hier gern ausführlich präsentieren möchten.
Wie wir aus der Völuspa entnehmen können, wurde Gullveig „mit Speeren gestoßen“ und dreimal verbrannt, wobei die Drei wie gesagt immer für eine Ganzheit steht und ebenso auf Magie und Zauber verweist. All das überlebt sie nicht nur, sondern sie wird eingeweiht in tieferes Wissen, stirbt dreimal einen mystischen Tod und wird wiedergeboren als Heidr, eine große Zauberin und Seherin. Heidr bedeutet als Substantiv „Ruhm“ und als Adjektiv „klar“ beziehungsweise „hell“ – sie ist also nach ihrer Wiedergeburt die Ruhmreiche und Klarsehende, diejenige, die Wissen durch ihr Leiden erworben hat. Dieser initiatorische Aspekt der Geschichte taucht später sehr ähnlich bei Odin auf, als dieser am Weltenbaum hängt und sich selbst mit einem Speer verletzt. Odin gewinnt dabei das Runenwissen, Gullveig wurde zu Heidr und erlangte das Wissen um die Zauberkunst Seidr.
In diesem ganzen Mythos um Gullveig/Heidr gibt es also reichlich Zauber und Magie – die sich jedoch erst entfalten können, als die „personifizierte Goldgier“ (also Gullveig, der Goldrausch) verbrannt ist. Zunächst ist da also die Gier, das Habenwollen und Greifen nach mehr, das auf lange Sicht zu Leiden führt. Das Leiden ereignet sich über einen längeren Zeitraum – immer wieder wird Gullveig getötet und dabei wird doch nicht vollständig die Gier ausgelöscht. Dreimal muss sie verbrannt werden, bis sie dann nach dem dritten Mal als helle und klare Heidr wiedergeboren wird, die ihre Gier überwunden und das Loslassen gelernt hat. Dann erst wird sie die „richtig weissagende Seherin, die Zauberei verstand.“132 Hier kann man auch einen Hinweis darauf sehen, dass sich das Spirituelle erst zeigt, nachdem das Materielle verwandelt wurde.
Verbrennen gilt seit jeher als eine Methode, um bösartige Wesen zu vernichten, fehlgeleitete Kräfte zu bannen oder etwas an einer Rückkehr zu hindern – der Goldrausch musste offensichtlich mehrfach entzündet werden, um ihn letztlich zu läutern und transformiert wiedergeboren zu wissen.
Dies ist mit dem alchemistischen Goldläuterungsritus gemeint und es verleiht in unseren Augen diesem Mythos eine neue Aktualität für die heutige Zeit: Wahre Magie kann sich erst (wieder) vollständig zeigen, wenn der Rausch und die Gier nach Gold erfolgreich transformiert sind.
Erst wenn keine Gier nach Geld oder anderen das Ego aufplusternden Werten mehr vorhanden ist, kann man in voller Größe zauberkundig sein, kann man seinen Blick für die wahren Wunder dieser Welt schärfen. Diese achtsame Zauberkunst wird einem in der nordischen Tradition offenbar erst dann zuteil, wenn niedere Instinkte überwunden sind, wenn wirklich der volle Einsatz sichtbar ist und etwas geopfert, etwas hinter sich gelassen wird. Es ist ein Weg durchs Feuer – für Gullveig ganz konkret, für uns Menschen heute eher symbolisch. Ein Weg, auf dem übermäßige persönliche Wünsche in den Hintergrund treten und den Blick auf den wahren Schatz im Inneren freigeben, auf die Essenz unseres Seins.
Diese Läuterung in Verbindung mit Trance und Zauber, die auch heute für jeden Menschen zugänglich ist, ist ähnlich wie bei Odins Erlangung der Runen ein Bild für schamanische Initiation. Wie der große Mythenforscher Joseph Campbell sagt: „Der Leidensweg des Schamanen ist das älteste uns bekannte Beispiel für (…) einen entschlossenen (…) Gebrauch des Mythos (…) als Weg zu seelischer Verwandlung.“133
Das Leiden wurde damals durch das Feuer und einen Speer verursacht, heute ist es eher das Sich-Vergessen in den Ansprüchen und Rollen unseres Lebens, das Scheitern daran, die Tränen und das gebrochene Herz. Immer wieder müssen wir Menschen uns an diese Essenz erinnern, müssen diesen Vorgang der Erinnerung zu einem bewussten Prozess machen, müssen das Feuer selbst schüren und den Speer der Wahrheit ergreifen, um uns von der Selbsttäuschung zu befreien. In den Mythen kannst du jede Menge Material finden, um solch einen Speer herzustellen, und jede Menge Brennholz wird ebenfalls mit jeder Geschichte frei Haus geliefert. Du liest die Mythen, du hörst die Mythen, du erkundest sie auf deine Weise, unternimmst schamanische Reisen, um gewisse Aspekte besser zu verstehen, benutzt die Kunst der Trance, um tiefer zu schauen … und begibst dich so auf deine eigene Heldenreise, brichst auf ins Unbekannte, wirst durch läuterndes Feuer und den Speer der Wahrheit initiiert, trägst die Narben, die das Leben dir zugefügt hat, mit Stolz und kehrst zurück als du selbst. Ohne Masken, ohne Rollen. Keine Spielchen, kein Verstecken. Ein wahrhaft erwachsener Mensch, der seine eigene Urkraft lebt.
129 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten
130 Völuspa 15 und 16
131 Vgl. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 160
132 Völuspa 16
133 Joseph Campbell: Mythologie der Urvölker, S. 518