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Der blinde Minenarbeiter

Elenna übernahm die Zügel und Tom hielt Schwert und Schild bereit, während sie am Rand des Sees entlangritten. Auf der anderen Seite führte die Straße wieder zum Fluss. Tom und Elenna sahen sich überrascht an. Das Flussbett war trocken und sandig.

„Was ist hier bloß geschehen?“, überlegte Elenna.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Tom und sah sich um. „Vielleicht ist Velmal mit seiner bösen Magie schuld daran?“

Plötzlich blieb Storm stehen. „Was ist los?“, rief Elenna verwundert. „Warum haben wir …?“

Ihre Stimme verstummte. Statt eines Sees, wie auf der Karte eingezeichnet, lag vor ihnen ein riesiger Krater.

„Hier muss der See gewesen sein“, sagte Tom. „Aber jetzt ist er knochentrocken.“

Auf der anderen Seite des Kraters waren dunkle Löcher im Hang zu erkennen. Trampelpfade führten zu ihnen. „Sieht aus wie Schächte“, meinte Tom. „Jemand muss den See absichtlich trockengelegt und die Stadt geflutet haben.“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum“, sagte Elenna.

„Vielleicht gibt es hier Minen“, vermutete Tom.

Auf einmal hörte er das Klappern von Hufen und das Quietschen eines Wagenrads. Ein Stück entfernt entdeckte er einen Pferdewagen, der langsam einem Pfad durch den Krater folgte. Ein Mann lief neben dem Pferd und hielt es am Zaumzeug fest.

„Er kann uns bestimmt etwas über diesen Ort erzählen“, sagte Tom. „Reiten wir zu ihm.“

Elenna lenkte Storm vorsichtig den Hang hinunter und achtete darauf, dass er sich nicht an den tiefen Furchen und Steinen verletzte.

Silver lief ein paar Schritte voraus und hob immer wieder die Schnauze in die Luft, um zu schnuppern. „Silver weiß immer, wann Gefahr droht“, dachte Tom. „Und ich bin mir sicher, dass hier irgendwo etwas Gefährliches lauert!“

Als sie näher kamen, erkannte Tom, dass der Wagen mit Spitzhacken und Hämmern beladen war. „Ich hatte recht“, wisperte er Elenna zu. „Es gibt hier Minen.“

Auf einmal blieb der Mann stehen und drehte sich zu ihnen um. Er war groß, hatte ein breites Gesicht und rote Haare. „Wer ist da?“, rief er.

Tom war überrascht, dass der Mann sie gehört hatte, obwohl sie sich so leise näherten. Noch überraschter war er über den ängstlichen Tonfall in seiner Stimme.

„Wir sind Reisende“, antwortete Tom. Elenna brachte Storm hinter dem Wagen zum Stehen. Toms Blick fiel auf die Spitzhacken. „Wir, äh … suchen nach der Mine“, sagte er.

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„Ja, genau, ist sie hier in der Nähe?“, fragte Elenna.

Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus und seine schwarzen Zähne wurden sichtbar. „Ah, ihr müsst die neuen Arbeiter sein“, sagte er.

Tom bemerkte etwas Seltsames im Gesicht des Minenarbeiters. Er trat dichter zu ihm und sah einen grauen Schleier in seinen Augen. „Er ist blind!“, dachte Tom.

„Wir sind zu wenige, seit wir Toby … äh … verloren haben“, sprach der Mann weiter. „Was für ein Glück, dass sie gleich zwei geschickt haben!“

Ein Schauer rann Tom über den Rücken. „Was ist mit Toby passiert?“, fragte er.

Das Lächeln des Mannes verschwand. „Das geht euch nichts an“, sagte er. „Folgt mir, ich zeige euch den Weg.“

Elenna sah Tom fragend an. „Warum willst du –“, begann sie flüsternd.

Tom legte den Finger auf seine Lippen. Da der Minenarbeiter blind war, war sein Gehörsinn vielleicht so gut, dass er selbst ein Flüstern hören konnte.

Er ahnte, dass Elenna wissen wollte, warum sie zu der Mine gingen, wenn sie doch ein Biest finden mussten. Er zog das Amulett aus dem Hemd und deutete auf das Bild. Elenna verstand und ihre Augen wurden groß – das Bild von Pharox war über dem ausgetrockneten See erschienen.

Der Mann führte sein Pferd weiter und Tom und Elenna folgten mit Storm und Silver. Tom bewunderte die Fähigkeiten des Blinden, der das Pferd und den Wagen sicher den Pfad entlang führte.

„Er kann nichts sehen“, flüsterte Tom und hoffte, dass das Rumpeln des Wagens seine Stimme übertönte. „Aber er kennt den Weg so gut, dass er kein einziges Mal stolpert.“

Elenna nickte. „Das Pferd weiß auch, wo er hin will.“

Das Pferd war alt und ausgemergelt. Es sah aus, als würde es schon seit Jahren den Wagen hin und her ziehen.

„Ist es schwierig in der Mine zu arbeiten, wenn man blind ist?“, fragte Tom den Mann.

Der Mann zuckte mit den Achseln. „Da drinnen ist es dunkel. Ich habe meine Sehkraft verloren, weil ich schon so lange unter der Erde arbeite und –“ Er unterbrach sich keuchend und schien nach etwas zu lauschen, das Tom nicht hören konnte. „Aber diesen Preis ist es wert“, sprach er dann weiter.

Tom und Elenna sahen sich erstaunt an. Tom beschlich das Gefühl, dass der Mann Angst hatte. „Warum will er nicht, dass jemand hört, wie er sich beklagt? Es ist doch niemand in der Nähe außer uns.“

Sie kamen zur Mitte des Kraters. Als der Pfad eine Kurve machte, rutschte der Huf des alten Pferdes an einem Stein ab. Es stolperte und wäre gestürzt, wenn es nicht am Wagen festgeschirrt gewesen wäre.

Der Minenarbeiter beugte sich über den Huf des Pferdes und tastete das Bein ab, dann stieß er einen bestürzten Ruf aus. „Er ist lahm!“

Tom stieg ab und warf einen Blick auf das Bein des Pferdes. Es konnte den Huf nicht abstellen, schwitzte und rollte vor Schmerz mit den Augen.

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„Das wird wieder“, beruhigte Tom den Mann. „Sein Bein muss verbunden werden und er muss sich eine Weile ausruhen.“

„Aber wie soll ich dann meine Ladung abliefern?“, fragte der Mann ängstlich. Sein Gesicht war blass und verschwitzt. „Der Meister wird sehr wütend werden!“

„Aber dein Herr wird das doch bestimmt verstehen“, sagte Tom.

„Oh, nein, nein!“ Der Mann schlug die Hände vors Gesicht und fing beinahe an zu weinen. „Er wird mich bestrafen, wenn ich das Werkzeug nicht rechtzeitig in der Mine abliefere.“ Er fiel vor Tom auf die Knie. „Bitte! Ihr müsst mir helfen!“

Tom warf Elenna einen verwunderten Blick zu. „Dieser Meister muss wirklich Furcht einflößend sein, wenn seine Arbeiter solche Angst vor ihm haben“, dachte Tom.