1929

In der Früh half ich dem Vater und dem Oswald im Stall, denn die Mutter lag in Leutkirch im Spital. Später bereitete die Amme Frühstück. Sie stieg die Treppe hinab in die Speis. »Habt ihr kein Mehl?«

Ich stand am Herd und goss warme Milch in eine Schale. »Nein.«

Schnaufend stieg die Amme die Stufen wieder hinauf und sah mich an. Ich zuckte mit den Schultern und tauchte einen Brocken altes Brot in die Milch. »Es ist kein Korn mehr da, das der Vater zur Mühle bringen könnt.« Ich nahm einen Krug Honig vom Sims und stellte ihn in der Stube auf den Tisch. Verkaufte der Vater ein Kalb auf dem Viehmarkt, kehrte er mit einem Rucksack voller Geld zurück. Doch man konnte nichts dafür kaufen. »Milch und Honig sind auch ein Frühstück.«

Die Amme seufzte und schüttelte den Kopf.

Ich tunkte einen zweiten Brocken in den Honig. Vor ein paar Tagen hatte der Oswald die Frida, die Monik und mich zu seinen Bienenstöcken mitgenommen. Mit einem Besen hatte er die Bienen von den Honigwaben gekehrt, die Waben in einer Kasserolle erwärmt, bis der Honig in einem dicken goldenen Strahl herauslief. Als der erste Krug voll war, hat er schnell einen zweiten gegriffen und uns die leeren Waben zum Auslecken gegeben. Wir haben unsere Münder hineingedrückt, so gierig und hungrig waren wir. Sogar das Wachs haben wir mitgegessen.

Oben in der Schlafkammer hörte ich Schritte. Ich stand auf und ging hinauf. Die Frida kniete in ihrem Sonntagskleid vor dem offenen Fenster, in den Händen meine Kerze.

»Tu nicht schon wieder so heilig!« Ich nahm die Kerze und schloss das Fenster.

Mit verklärtem Blick schaute die Frida mich an.

»Du machst mich narrisch mit deinen ständigen Gebeten.«

Die Monik saß auf dem Bett und kicherte.

»Kleid dich an und geh frühstücken.« Ich scheuchte sie, schüttelte die Kissen aus und strich das Laken glatt.

»Mir ist kalt!«, rief die Monik.

»Kleid dich halt schneller an. Wenn du bald zur Schule kommst, wirst du das wohl können, gell?«

Sie zerrte an ihrem Kleid und riss an den Knöpfen.

»Frida, hilf deiner Schwester.«

Ich zog die schwarzen Strümpfe an und die Schuhe, die die Mutter besorgt hatte, wickelte die Kerze in ein Stück Papier, nahm mein Gebetbüchlein und lief die Stiege hinunter. Im Hausgang wichste ich die Schuhe. In der Stube nahm ich eine Jacke vom Haken an der Tür; auf dem Tisch standen Kartoffeln, Milch und Honig für meine Schwestern. Ich rief Ade! und zog die Tür hinter mir zu.

Der Hund lag vor seiner Hütte, und als er mich sah, sprang er auf. Er legte den Kopf schräg, spitzte die Ohren und leckte meine Hand, als ich ihn streichelte. Im Stall muhte das Vieh, ich muhte zurück. Auf den Wiesen blühte Löwenzahn und der Himmel lag wie ein blaues Tuch über den Wiesen. Der Hund lief mal vor und mal hinter mir, schnüffelte an einem Zaunpfahl, an einem Baumstamm. Eine Amsel sang, und als wir das Wäldchen am Ufer des Hinterweihers erreichten, raschelte es im Unterholz und ein Hase schoss heraus. Der Hund jagte hinterher. Der Hase war schneller. Hechelnd und mit heraushängender Zunge kehrte der Ammi zurück und ich bückte mich und kraulte sein struppiges Fell. »Und jetzt lauf wieder heim.« Er sah mich an, die Ohren gespitzt, die Rute schwang hin und her. Er nieste zweimal, dann wandte er sich um und trottete fort.

Im Dorf nahm ich den Weg zur Käserei, den Hügel hinauf, vorbei am Gasthof Krone mit den vielen grünen Fensterläden. Vor der Käserei hängte der Senn Kästücher auf, ich grüßte, er winkte. Im Oberdorf machte der Weg eine Kurve, vorbei am Geislinger-Hof, einem stattlichen Bauernhaus, und dem kleineren Reutlinger-Hof. Ich klopfte an der Tür der Näherin.

»Ist offen!«

Ich trat ein. Es dauerte einen Moment, bis meine Augen sich an das schummrige Licht gewöhnten. Es roch süß und auch etwas scharf. Die Stube war klein, außer einem Tisch, zwei Stühlen, dem Ofen, der Nähmaschine und einem Kanapee war für nichts Platz. Die Näherin kniete neben dem Kanapee. »Der Mama geht’s heut nicht gut.« Sie breitete eine Decke über die Alte. »Sie muss immer spucken.«

»Grüß Gott.« Ich knickste und reichte der Alten die Hand; ihre war kalt, die Haut dünn wie Papier. Sie bewegte die Lippen, doch ich verstand nicht, was sie sagte.

Die Näherin war ein kräftiges Weib mit dunklem Haar und dunklen Augen, eine schöne Frau, obwohl unter ihren Augen Schatten lagen. Sie war ledig und brachte mit Näharbeiten sich, ihre Tochter und die kranke Mutter durch. Sie hatte unsere Sonntagskleider genäht; die Werktagskleider und unsere Schürzen nähte die Mama selbst. Sie erhob sich und deutete auf ein weißes Kleid, das auf einem Bügel an einem Haken an der Wand hing. »Schau, dort hängt’s. Ich werd’s geschwind bügeln. Du kannst dich schon auskleiden.« Mit einem Haken fischte sie Kohlen aus dem Ofen und füllte sie ins Bügeleisen. Ich zog meine Jacke aus und löste die Bänder meiner Schürze.

»Dein Hemd gehört gestopft«, sagte die Näherin, als ich in Hemd und Hose vor ihr stand.

»Die Mama ist fort«, murmelte ich.

»Ist sie schon im Spital?«

Ich nickte.

»Aber sie kommt ja bald wieder.« Die Näherin stellte das Bügeleisen beiseite und hielt das Kleid hoch. Der Stoff raschelte. Die Alte auf dem Kanapee schluckte und hustete, ihre Tochter warf ihr einen besorgten Blick zu. Die Alte schloss die Augen. Die Näherin legte ihr eine Hand auf die Stirn, als wollte sie prüfen, ob ihre Mutter Fieber hatte. Die Alte atmete flach. Die Näherin schlug ein Kreuz und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Dann nahm sie das Kleid und knöpfte es auf. »Hättest gern ein Brüderchen? Oder noch eine Schwester?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollt gar kein neues Baby; doch das traute ich mich nicht zu sagen.

Die Näherin streifte mir das Kleid über. »Aber ihr solltet eine Störnäherin holen. Mit Löchern in den Sachen könnt’s doch nicht herumlaufen.«

Ich fuhr in die Ärmel und mit dem Kopf durch den Ausschnitt. Der Stoff knisterte und raschelte. Der Vater hatte der Mutter verboten, eine Störnäherin zu holen; beim Flicken würde sie den ganzen Tag in der Stube sitzen und man müsste sie bei jeder Mahlzeit mitessen lassen.

Die Näherin zog das Kleid zurecht. Sie schloss die Knöpfe, bauschte die Ärmel, strich über den kleinen Kragen, kniete nieder und kontrollierte den Saum. Dann schob sie mich vor den Spiegel. »Siehst aus wie eine kleine Braut.« Sie zupfte einen Fussel von der Manschette. »Gefällt’s dir?«

Ich nickte. Das Kleid war von der Brandl-Bäuerin, sie hatte es der Mutter geschenkt und die hatte es zur Näherin gebracht, um es kürzen und abnähen zu lassen. Jetzt sah es aus, als wäre es für mich geschneidert worden. »Fein …« Ich beugte mich vor und zog die Strümpfe hoch.

»Komm, ich frisier dich geschwind.« Die Näherin löste das Band in meinem Zopf. »Du sollst ordentlich aussehen an deinem Weißen Sonntag.« Sie nahm einen Kamm, zog einen Scheitel und begann mein Haar mit einer Bürste zu bürsten. Es war lang und dick und glänzte, je länger sie es bürstete. Sie flocht es zu einem Zopf und mit ein paar Haarnadeln befestigte sie einen Blumenkranz. Dann trat sie einen Schritt zurück. »Schad, dass die Mama dich nicht so sieht.«

Ich biss mir auf die Lippe. »Der Vater hat gesagt, er lässt eine Fotografie machen. Dann kann’s die Mama sehen.« Die Alte auf dem Kanapee schlug die Augen auf und lächelte.

Ich wickelte meine Kerze aus, nahm mein Gebetbüchlein. Die Näherin spuckte auf ihren Schürzenzipfel und wischte über meine Wange. »Und jetzt lauf zur Kirche!«

Ich sprang die Stufen hinab, lief über die Straße. Doch ich sah den Stock nicht, der vor dem Brunnen lag, und stolperte.

»Dora!« Im nächsten Augenblick hockte die Näherin neben mir. »Hast dir weh getan?«

Ich setzte mich auf, Tränen in den Augen. Mein Kleid hatte Flecken, die Kerze war gebrochen.

»Kind, du bist manchmal so stürmisch.«

Ich stand auf. Die Näherin tauchte einen Schürzenzipfel in den Brunnen und wischte den Schmutz von meinem Kleid. Starr stand ich dort und dachte, wenn die Mama da gewesen wäre, wäre das nicht geschehen.

Je länger die Näherin rieb, desto größer wurden die Flecken. »Das richten wir anders.« Sie nahm mich an der Hand und ich stolperte hinterher. In ihrer Stube zog ich das Kleid aus, sie wusch die Flecken heraus und trocknete es mit dem Bügeleisen. Sie zündete eine Kerze an und hielt meine Kommunionskerze über die Flamme, bis das Wachs weich wurde, dann verrieb sie es. Der Riss war kaum noch zu sehen. Die Näherin half mir, das Kleid wieder anzuziehen, reichte mir die Kerze und mein Gebetbüchlein, führte mich zur Tür. »Diesmal gib acht …«

Vorsichtig stieg ich die Stufen hinab, lief den Hügel hinunter und bog in die Gasse, die zum Kirchplatz führte. Der Vater, die Frida und die Monik, der Oswald und die Oma warteten bereits. Alle trugen Sonntagskleider.

Nur ich trug ein weißes Kleid.

»In zwei Jahren hab ich Kommunion, dann bekomm ich das Kleid«, raunte die Frida.

»Warten wir’s ab«, sagte ich knapp.

»Und eine Kerze bekomm ich auch.«

»Warten wir’s ab.«

Die Glocken begannen zu läuten und ich trat neben den Vater und schritt zwischen ihm und der Oma in die Kirche. Stimmen hallten von den Wänden wider. Durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht, der Altar war mit Rosen, Margeriten und Buchsbaumzweigen geschmückt, auch im Gang neben den Bänken standen kleine Blumenbuketts. Das Holz vom Kirchengestühl knarrte und ächzte. Die Luft roch nach Weihrauch und Wachs. Alle Erstkommunionsmädle trugen weiße Kleider und Blütenkränze, die Buben schwarze Hosen und Hemden mit Matrosenkragen. Jedes Kind hielt eine lange, schmale Kerze in der einen und ein Gebetbüchlein in der anderen Hand.

Wir stellten uns neben dem Altar auf. Weil ich die Kleinste war, stand ich in der ersten Reihe. Ich sah, wie die Kirchenbänke sich füllten, und als die Orgel einsetzte, huschte die Näherin mit ihrer Tochter zur Tür herein, sie benetzten die Finger mit Weihwasser, bekreuzigten sich und rutschten auf einen Platz nahe dem Beichtstuhl. Der Kirchenchor stimmte Halleluja, lasst uns singen an. Ich dachte an die Mama. Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Der Pfarrer erhob sich, schritt zum Altar, kniete nieder und verharrte einen Moment. Als er sich wieder erhob, ließ er seinen Blick durch die Reihen schweifen, faltete die Hände und sprach das Schuldbekenntnis.

Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen,

und allen Brüdern und Schwestern …

Plötzlich fühlte ich mich noch kleiner vor den hohen Mauern, den Säulen, der Kanzel, den Seitenaltären, dem Kreuz und dem Heiland, der für uns gestorben war. Der Pfarrer sah hinauf zur Empore und der Organist spielte das Kyrie eleison. Die Gemeinde sang und ich sang mit, ein altes Weib putzte sich die Nase, ein Gehstock schlug zu Boden. Die Gemeinde sang das Gloria, und als der Pfarrer zu predigen begann, drang seine Stimme noch bis in den hintersten Winkel. Meine Beine wurden schwer. Ich trat von einem aufs andere. Mein Kleid raschelte. Die Marie neben mir schaute streng herab. Die Gemeinde erhob sich, alle blätterten in den Gesangbüchern, Papier raschelte. »Lasset uns unseren Glauben bekennen«, rief der Pfarrer und faltete die Hände.

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen,

den Schöpfer des Himmels und der Erde …

Alle sprachen mit dem Pfarrer.

… und an Jesus Christus,

seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn …

Meine Lippen bewegten sich, ein gleichmäßiges Murmeln, ein vielstimmiger Chor erfüllte die Kirche, stieg hinauf bis unter die Kuppel.

… empfangen durch den Heiligen Geist,

geboren von der Jungfrau Maria …

Ich dachte an den Katechismus, die Merksätze, die wir auswendig gelernt hatten, die der Pfarrer wieder und wieder abgefragt hatte. Die wir manchmal nicht verstanden hatten, doch Fragen waren nicht erlaubt, wir sollten brav lernen und sonst schweigen.

… ich glaube an den Heiligen Geist,

die heilige katholische Kirche,

Gemeinschaft der Heiligen,

Vergebung der Sünden,

Auferstehung der Toten

und das ewige Leben.

Ich dachte an die Beichte, die wir vor der Erstkommunion hatten ablegen müssen, obwohl ich nicht wusste, was zu sagen, weil ich mir alle Tage Mühe gab, brav zu sein und hart zu schaffen.

»Amen«, sprach der Pfarrer.

»Amen«, flüsterte ich.

Wieder setzte die Orgel ein. Die Agathe neben mir kratzte sich. Der Alois gähnte. Wir sangen Fest soll mein Taufbund immer stehen und Lasst die Kinder zu mir kommen und schließlich Lobe den Herrn. Als der Gesang verstummte, hing der letzte Ton der Orgel noch in der Luft. Nachdem er verklungen war, herrschte Stille. Man hätte eine Nadel auf den Boden fallen hören können.

Der Pfarrer wandte sich den Kommunionskindern zu. Er trat vor die Marie. »Vor euch brennen die Kerzen …«

Die Marie fasste ihre ein bissle fester. Ihre Wangen leuchteten.

Der Pfarrer sah die Agathe an. »Ich frage euch …«

Er sah mich an. »Glaubt ihr an Gott …«

Er sah den Alois und die anderen Kinder an. »Glaubt ihr an Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, der euch das Leben gegeben hat, weil er euch innig liebt?«

»Ja, das glauben wir.«

»Glaubt ihr an Jesus Christus, den Sohn Gottes, der ganz uns Menschen gleich wurde, der sein Leben für uns gegeben hat und von den Toten auferstanden ist?«

»Ja, das glauben wir.« Ein Gesangbuch fiel zu Boden. Ein Kind hustete. Mein Magen knurrte. Ich sah den Vater, die Oma, den Oswald, die Monik und die Frida, die zur Muttergottes emporschaute und die Lippen bewegte. Ich war wohl eine gute Christin, aber vielleicht nicht die beste. Ich war nicht so heilig wie meine mittlere Schwester.

»Herr, unser Gott, diese Kinder bekennen vor dir ihren Glauben. Beschütze und segne sie.« Die Stimme des Pfarrers klang rein und mächtig. Ich senkte den Blick. Die Orgel setzte ein und wir sangen.

O Herr, wir loben und preisen dich,

und danken dir von Herzen.

Wir dürfen alle, Groß und Klein,

zu Gast an deinem Tische sein,

du hast uns eingeladen …

In seinem weiten Messgewand wandte der Pfarrer sich um, trat an den Altar, griff nach dem Kelch und den Hostien. Nacheinander traten wir vor zu unserem ersten Abendmahl. Die Enden seines Schnurrbarts zitterten in der Luft, als der Pfarrer mich den Mund öffnen ließ und mir die Hostie auf die Zunge legte. Ich schloss die Lippen. Die Augen.

Nach der Messe fuhren wir heim. Es roch nach Hasenbraten und Kraut. Der Vater sprach das Tischgebet und schloss ein Vaterunser für die Mutter an. Der Oswald zwinkerte mir zu. »Den Hasen hab ich für dich gefangen, meine Große.«

Die Monik kicherte. »Dora ist doch die Kleinste.«

»Halt den Mund«, fuhr ich sie an.

Die Amme trug Most auf und Sprudel und alle langten zu, schlangen Fleisch hinunter, stachen mit den Gabeln in die Krautkrapfen. Ich zerteilte einen, zog das Kraut heraus und schob es in den Mund. Es war kein rechtes Kommunionsessen ohne die Mama. Die anderen Kinder saßen jetzt mit ihren Eltern im Gasthaus, in der Krone, im Adler oder im Hirsch in Heggelbach. Sie bekamen Armbanduhren zu ihrer Kommunion geschenkt. Mir hatte die Oma einen neuen Griffel gegeben, der Onkel Oswald ein Taschentuch. Der Papa hatte nicht an ein Geschenk gedacht.

Am Abend schlug ich meine Kommunionskerze in ein Stück Stoff und legte sie in die Kommode in der Stube. Das Kleid hängte ich in der Schlafkammer auf einen Bügel.

Anderntags fuhr der Vater mit dem Fuhrwerk ins Spital. Die Mutter hatte einen Buben geboren.

Die Älteste ist die Kleinste: die Monik, die Dora und die Frida (von links nach rechts) bei Moniks Kommunion