DIE OBERMAGD

Kornblumenblau leuchtete der Himmel über dem Tal, als der Futscher-Bauer die Gäule aus dem Stall führte. Auf dem Fuhrwerk standen Körbe mit Saatkartoffeln. »Die Josefine, die Zilli und die Zenz gehen auch mit.« Er deutete auf seine Schwestern, die mit wilden Strichen den Hof kehrten.

Der Acker lag nahe am Haus, der Fußmarsch war kurz. Das Fuhrwerk knarrte, und die Stute und der Wallach schnauften; nur mindere Bauern spannten Ochsen ein, die ganz armen sogar Kühe. Die Cecilia lief mit ausholenden Schritten, die Kreszentia schwang die Arme, die beiden wirkten wie Witzfiguren. Die Obermagd marschierte schweigend hinterher, der Zipfel ihres roten Kopftuchs wippte auf und ab. Am Wegrand blühten Butterblumen, und winzige Vögel hüpften umher. Die Sonne blendete und der Bauer zog seinen Hut tiefer ins Gesicht. »Ist der April sonnig und warm, macht’s den Bauern auch nicht arm.« Sein knochiges Gesicht verzog sich zu einem Lachen.

Der Acker grenzte an einen Fichtenwald. Im Herbst hatte der Bauer ihn gepflügt, im März geeggt und noch einmal gepflügt, diesmal nicht so tief, hatte saubere, schnurgerade Furchen gezogen. Trocken und locker rieselte die Erde durch meine Finger, als ich eine Hand in den Boden grub. Die Obermagd zog einen Korb von der Ladefläche, ich nahm einen anderen und lief zum Ackerrain und kniete nieder. Die Obermagd folgte mir. In gerader Reihe setzte ich die Kartoffeln in die Erde, teilte größere in zwei Hälften und gab acht, dass auf jeder Hälfte ein Keimling saß. »Ist’s recht so?«, fragte ich.

Sie verzog das Gesicht und wandte sich wortlos ab.

Der Bauer bückte sich, strich der Stute mit der Hand die Fessel hinab, dass sie den Huf hob, und kratzte etwas vom Hufeisen. Dann schob er seinen Hut zurück, kletterte auf den Bock und schnalzte. »Ich fahr und hol Mist.« Schwerfällig zogen die Rösser an. Die Sonne wärmte, und der Himmel war blassblau, ein paar Wolken weiß wie Rahm zogen langsam übers Tal. In der Ferne sah man die Berge, grau und schroff und mit verschneiten Spitzen. Die Schwestern hockten ein Stück entfernt, ab und zu kicherte eine. Sie schienen dem Bauern keine Hilfe zu sein; sie schafften oft langsam, umständlich, als verrichteten sie eine Arbeit zum allerersten Mal. Kinder waren tüchtiger als diese beiden Weiber. Wahrscheinlich konnten sie froh sein, dass ihr Bruder sie bei sich aufgenommen hatte.

Etwas stieß gegen meine Schulter, ich verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber. »Du schaffst nicht grad geschwind.« Die Obermagd stützte sich auf eine Hacke und sah auf mich herab.

Langsam richtete ich mich auf. Ich wischte die Erde von meinen Händen, tat einen Schritt auf sie zu und streckte die Schultern. Sie war nicht viel größer als ich. Ihr Kopftuch hing tief ins Gesicht, ihr Blick war kalt. Über ihrer Oberlippe wuchs blonder Flaum. Wir standen einander so dicht gegenüber, dass ich ihren Atem spürte. »Ordentlich soll’s schon sein, gell?«

»Bis zum Sommer kannst dir nicht Zeit lassen. Dann wollen wir die Kartoffeln nämlich ernten …« Ihr Mund verzog sich zu einem bösen Lächeln.

Statt zu antworten, wandte ich mich um, schob den Korb mit dem Fuß weiter, nahm eine Handvoll Kartoffeln und bückte mich. Ich klaubte einen Stein aus der Erde, setzte weiter eine Saatkartoffel nach der anderen in die Furche und überlegte, was die Obermagd getan hätte, wäre der Bauer nicht fortgefahren. Eine der Schwestern setzte sich auf, schirmte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab und sah zu uns herüber. Die Obermagd lächelte. »Mach’s ordentlich«, zischte sie, trat mit ihren Holzpantinen nach den Kartoffeln und schulterte ihre Hacke.

»Dummes Weib«, murmelte ich und legte die Kartoffeln, den Keimling nach oben, zurück in die Furche.

»Vesperzeit!«, rief die Kreszentia. Ich tat, als hätte ich nichts gehört, stand auf, trug den Korb zur nächsten Reihe und kniete nieder. Kartoffeln auszubringen war nicht die schwerste Arbeit, in der Viehweid hatte ich es oft getan, hatte mit der Mutter und den anderen Weibern geschwätzt und es war gesellig gewesen. Schaffte man schweigend, war es eintönige Arbeit. Ich schlug nach einer Fliege, die auf meiner Nase landete. Vögel zwitscherten, und ein Käfer krabbelte durch die aufgewühlte Erde. Vom Ackerrain hörte ich Gelächter, das Schnappen von Verschlüssen, das Rascheln von Pergament. Ich dachte daran, wie die Obermagd an meinem ersten Abend auf dem Hof in unsere Kammer gekommen war, sich wortlos ausgekleidet hatte und ins Bett gestiegen war. Ein heller, dünner Wurm kroch vor meinem Knie entlang. Ich zerdrückte ihn mit einem Stein.

Der Korb war fast leer, als der Bauer mit dem Mistwagen zurückkehrte. Mit klammen Fingern legte ich die letzten Kartoffeln in die Erde, lief vor, lud mit der Gabel einen Haufen Dung ab. Reihe um Reihe breitete ich ihn gleichmäßig über die Furchen. »Man könnt meinen, der Teufel ist hinter dir her«, sagte der Bauer, »so verbissen schaust aus.«

Unwillkürlich sah ich zur Obermagd, die ihr rotes Kopftuch band. »Ich schaff halt ordentlich«, murmelte ich und lief weiter. Der Bauer sah mir nach, mit einem seiner Blicke, die schwer zu lesen waren. Mit dem Rechen zog ich Erde über die mit Mist bedeckten Kartoffeln.

»Gib Obacht und tritt nicht auf die Kartoffeln«, zischte die Obermagd im Vorbeigehen. Stur rechte ich weiter, bis der Boden eben und alle Kartoffeln bedeckt waren.

Am Abend hatten wir drei Morgen Land bestellt.

 

Um vier in der Früh lag Tau auf den Weiden und ich musste laufen, um Schritt zu halten mit dem Bauern, der einen Schubkarren den Pfad hinterm Haus entlangzog. Die Weiden glänzten silbrig in der Dämmerung, Tautropfen glitzerten auf den Halmen, feuchte Spinnweben schillerten in den Zweigen der Apfelbäume. An der Schlaufe seines Gürtels klapperte ein ausgehöhltes Kuhhorn mit einem Wetzstein darin.

»Weißt, wie man wetzt?« Er nahm eine Sense aus dem Wagen.

»Freilich.«

»Zeig’s mir.« Er zog den Wetzstein aus dem Kuhhorn.

Mit schnellen Strichen schliff ich ein paarmal über das Sensenblatt, ein lautes Geräusch in der Morgenstille, Vögel flogen auf.

Der Bauer deutete auf den Wiesenrand. »Fang dort drüben an. Nicht dass ich dir beim Ausholen die Füß wegmäh.«

Das Gras war weich und feucht. Ich tat einen Schritt vor, so dass ich fest stand, packte die Sense an beiden Griffen, holte aus und mähte. Das Gras fiel zu Boden, leicht, wie Daunen einer frisch gerupften Gans.

Ich hab schon immer gern gemäht.

Als Kind hatte ich eine Freude, wenn die Viehweid-Bauern in weiten Reihen über Wiesen und Äcker zogen, mit ihren Sensen Gras und Getreide mähten, Heu und Korn fielen wie dahingeweht. Es war eine anstrengende Arbeit, doch schön sah es aus. Als der Vater mich Mähen lehrte, hielt er meine Hand und ich hab’s gleich verstanden. Bald holte ich das Gras für die Hasen, für die Gänse.

Der Bauer stapfte vor und begann ein Stück entfernt zu mähen. Er holte weit aus, er war ein Mannsbild; meine Bewegungen waren kleiner, dafür mähte ich schneller. Schweigend schafften wir, während es langsam heller wurde, die Tiere erwachten und der Gesang der Vögel sich mischte mit dem gleichmäßigen Klang der Sensen, die durchs Gras fuhren. In zwei Stunden wäre der Tau fort und das Gras nicht mehr so leicht zu schneiden, die Kleeblumen, der Löwenzahn. Der Bauer hustete und spuckte aus. Er zog den Wetzstein aus dem Kuhhorn und schärfte seine Sense. Ich begann, das Gras zusammenzurechen und in den Schubkarren zu laden. Es türmte sich, doch bei zwölf Stück Vieh reichte ein voller Wagen grad einen Tag lang.

»Das ist genug«, sagte der Bauer, lehnte seine Sense gegen den Wagen und nieste, laut wie ein Gewitter. Spatzen flogen davon. Aus der Hosentasche zog er ein Taschentuch und schneuzte sich. »Gehen wir.« Er schob den Schubkarren, ich trug die Sensen und den Rechen.

Der Wetzstein im Kuhhorn klapperte bei jedem Schritt.

Unterdessen hatte die Obermagd gestallt, grad trug sie Milchkannen auf den Hof. Der Bauer und ich schippten das Futtergras in die Tröge, die Kühe muhten und drängelten, rupften, kauten und schmatzten. Nebenan grunzten die Sauen. »Du bringst die Milch zur Käserei«, raunte die Obermagd und verschwand ins Haus.

Ich lud die Kannen auf und machte mich auf den Weg.

Wieder auf dem Hof, saßen der Bauer und die Obermagd in der Stube, kauten Brot und Käse. Kaum hatte ich mich gesetzt, sprang der Bauer auf. »Beim Misten hast gezeigt, was du kannst. Mal schauen, wie du dich beim Heuen anstellst.« Er schob noch ein Stück Käse in den Mund, trank seinen Malzkaffee aus, strich sein dickes Haar zurück und setzte seinen Hut auf.

Schweigend zogen wir, jeder eine Sense über der Schulter, wieder hinaus. Diesmal liefen wir zu einer der Wiesen in der Nähe des Walds. Inzwischen war es hell, man hörte das Vieh, die Rösser, die schnaubten, Geißen, Gänse, Gockel. Auf dem Nachbarhof hingen Bettlaken auf der Leine, wie weiße Bretter standen sie in der Luft, steif und glatt, denn es ging kein Wind. Insekten surrten, erste Fliegen umkreisten uns. Eine rollige Katze schrie.

Bis neun Uhr mähten wir, dann liefen wir heim, um zu frühstücken. Die Bäuerin schob mir einen Löffel hin, gierig tauchte ich ihn in die Mehlsuppe. »Später geht’s zum Heuwenden.« Der Bauer riss ein Stück Brot ab. In seinem Becher dampfte frischer Malzkaffee. »Beim Misten hast dich geschickt angestellt, beim Mähen auch«, sagte er mit vollem Mund. Ich sah nicht auf, doch ich war sicher, dass die Obermagd zusammengezuckt war. »Mal schauen, wie dich beim Wenden anstellst.« Er nahm einen Schluck Kaffee.

»Wie ein Depp werd ich mich nicht anstellen.« Ich kratzte die letzte Suppe aus der Schüssel. »Aufladen hab ich mit dem Vater oft müssen.«

»Ein winziges Mädle wie du?« Die Obermagd rümpfte die Nase. Die Schwestern kicherten. Ich trank einen Schluck Milch. Und nickte.

»Abendtau im Mai bringt viel Heu!«, sagte der Bauer und schaute mich über den Becherrand hinweg an. »Bestes Wetter zum Heuen, also los, auf!«

Ich lief hinauf in die Kammer und band ein Kopftuch um. Als ich herunterkam, warteten auf dem Hof die Schwestern, die Bäuerin und ein paar Weibsbilder, einige hatte ich schon in der Käserei gesehen. Ein Bub jagte den Spitz, der wild kläffte, eine Katze streifte um den Misthaufen. Die Weiber trugen Schürzen und einige hatten ihre Kopftücher gegen Strohhüte getauscht. Alle hatten Heugabeln und Rechen dabei. »Das sind Nachbarinnen von den umliegenden Höfen. Sie helfen uns beim Heuen und anschließend helfen wir ihnen.« Die Bäuerin schlüpfte in ihre Holzpantinen.

Ich nickte. »So halten wir es in der Viehweid auch.«

»Man muss einander helfen.« Sie wischte sich eine Wimper von der Wange.

Die Mütter riefen ihre Kinder, die meisten waren barfuß. Eine Alte in einem geflickten, beinahe bodenlangen Rock hatte spröde Füße wie Holzscheite. Der Bauer hieß die Obermagd, den Handkarren mit dem Essen für die Vesper zu ziehen, und die Bäuerin zog ein Leiterwägele, in dem ihr Bub schlief. Wir liefen nach Osten, der Sonne entgegen. Hier und da auf einer Wiese stand ein Heustadel, das Holz grau vom Regen; Bauern, deren Höfe weit entfernt lagen, hatten sie gebaut, um Heu und Öhmd darin einzulagern. Schafe weideten, und ein Hund trieb eine Herde Geißen vor sich her. »Dort vorne beginnt Bayern.« Ein Mädle neben mir deutete in die Ferne.

»Der Ort drüben in den Wiesen?«

Sie nickte. »Das ist Dilpersried und gehört zu Bayern.«

»So nah ist die Grenze?«

»Freilich.« Sie hatte lange blonde Zöpfe wie ich, war aber ein gutes Stück größer. »Uns gehört der Weiler-Hof dort drüben.« Sie deutete auf ein Gehöft. »Ich bin die Magdalene.«

»Dora. Ich komm aus der Viehweid.« Sie sah mich an, drum fügte ich hinzu. »Bei Herlazhofen.«

»Da war die Mutter neulich zu Besuch.«

Der Bauer setzte seine Heugabel ab. »Hier fangen wir an.« Vor uns lag die Wiese, die wir gestern gemäht hatten, rund fünf Morgen groß. Die Bäuerin schob das Leiterwägele unter einen Apfelbaum; der Bub ballte im Schlaf seine Hände zu kleinen Fäusten. Die größeren Kinder nahmen Rechen und die Weiber ihre Heugabeln. In einer langen Reihe verteilten sie sich über die Wiese und begannen, das gemähte Heu zu wenden. Wenn es eingefahren wurde, musste es trocken sein, sonst konnte es sich in der Scheune entzünden. War das Wetter feucht und unbeständig, hängte man das Heu auf Hoize, hölzerne Gestelle, die in die Erde gerammt wurden. Doch da seit Tagen die Sonne schien, konnten wir es heuer auf dem Boden trocknen lassen.

»Schneller, hopp, hopp!«, zischte die Obermagd, die plötzlich neben mir stand. »Auch wenn du kurze Arme hast.« Sie ging weiter, als sei nichts geschehen.

Dummes Weib, dachte ich und wischte mir mit dem Schürzenzipfel übers Gesicht, ich schwitzte bereits.

Als die Sonne senkrecht stand, liefen wir heim zum Mittagessen. Die Bäuerin und die Kreszentia waren vorausgelaufen, hatten Maultaschen bereitet und Kartoffelsuppe. Alle drängten sich um den Tisch in der Stube, der Bauer sprach ein Tischgebet, Löffel stachen in Schüsseln, Gabeln pickten Maultaschen auf, man musste sich sputen, um satt zu werden.

»Eine meiner Cousinen hat einen Mann von Herlazhofen geheiratet«, sagte ein kräftiges Weib mit vollem Mund. »Den Theobald. Kennst ihn?«

»Freilich.« Ich stopfte eine halbe Maultasche in den Mund. »Sein Bruder ist der Schwager von unserer Nachbarin.«

Das Weib trank einen Schluck Sprudel und biss ein Stück Brot ab. Sie hatte freundliche Augen und Sommersprossen. »Wir wohnen auf dem Nachbarhof. Ich bin die Antonia.«

Ich nickte und kaute und versuchte dabei zu lächeln. Ich hatte die Antonia beim Heuwenden beobachtet, sie hatte nicht viel geschwätzt und tüchtig geschafft, sicher war sie eine gute Bäuerin. Die Alte langte nach der letzten Maultasche, die Cecilia zog ein Gesicht. Die Kreszentia pulte in ihren Zähnen und die Bäuerin sprang auf und trug die leeren Schüsseln in die Küche. Der Bauer leerte seinen Becher mit Most und stellte ihn mit einem lauten Knall auf den Tisch. »Gehen wir.«

Die Sonne brannte und der Spitz lag faul im Schatten vorm Haus. »Faulpelz!«, rief die Magdalene und lachte. »So ein Leben tät’s für mich nie geben.« Die Schwestern kicherten.

Der Spitz hob erschrocken seinen Kopf.

 

»Heut kannst zeigen, was du kannst«, sagte der Bauer, als er die Gäule vor den Heuwagen spannte. Auf der Ladefläche lagen Rechen, Heugabeln und Ladegabeln mit langen Stielen.

Tu ich das nicht alle Tage?, dachte ich, nickte und sagte: »Freilich.« Am Abend zuvor hatte ich den Kühen gute Nacht gesagt, hatte allen geweihtes Wasser auf die Stirn gespritzt, dann war ich in die Kammer hochgestiegen, hatte ein Vaterunser für die Mutter, eins für den Vater, eins für die Geschwister und eins für den Bauern und die Bäuerin gesprochen. Wie ein Stein war ich ins Bett gefallen und hatte so fest geschlafen, dass ich beinahe den Gockel nicht gehört hätte. Nun war ich ausgeruht und voller Kraft. Was immer es wäre, ich würd’s ihm zeigen. Ich knotete mein Kopftuch fester und blinzelte in die Sonne. »Bisher kannst mir nichts Schlechtes nachsagen, oder?«

Der Bauer wischte die Hände an den Hosen ab. Sagte nichts, maß mich nur mit diesem Blick. Sechs Wochen schaffte ich schon auf seinem Hof; um die Obermagd scherte ich mich nicht, jedenfalls versuchte ich es, doch dass der Bauer mich für ein Mädle hielt, das nicht schaffen konnte, ärgerte mich.

Einen Rechen über der Schulter, stapfte ich los.

Die Sicht war klar, das Licht scharf. Am Horizont sah man die Alpen, davor erstreckten sich grüne Hügel, hier und da durchbrochen von Teppichen aus Löwenzahn. Am Himmel ein paar Schönwetterwolken. Der Heuwagen knarrte, die eisenbereiften Räder knirschten über Sand und Schotter, die Stute und der Wallach schnauften und schüttelten die Köpfe, um Fliegen zu vertreiben. Ihre Hufeisen hinterließen flache Spuren. Die Bäuerin zog wieder das Leiterwägele und schwätzte mit der Magdalene und der Antonia. Die Kreszentia – in der Früh hatte sie beinahe feierlich erklärt, ich solle sie jetzt Zenz nennen und die Cecilia Zilli, so würden alle sie rufen – fuhr Fahrrad. Kinder liefen herum, riefen, lachten. Nur die Mannsbilder sagten nicht viel.

»Wie heißt du?« Ein strubbeliger Bub in blauen Hosen hatte aufgeschlossen. Er trug einen Rechen.

»Dora. Und du?«

»Ich bin der Kaspar.«

»Grüß Gott, Kaspar.« Ich trat nach einem Stein. »Wo kommst denn her?«

Der Bub zeigte auf ein Gehöft in einer Senke.

»Und wie alt bist?«

»Zehn.«

»Dann kannst schon schaffen.«

»Ich helf dem Vater beim Pflügen, beim Säen, beim Ernten. Ich kann misten und melken und die Gäule führen.«

»Tüchtig.« Ein weißer Schmetterling flatterte durchs Gras am Wegrand und Mücken surrten. Der Bub sah mich an. Sein Hemd stand offen, seine Wangen leuchteten rot. »Hast noch Geschwister, Kaspar?«

»Ja, aber die sind noch klein. Ich bin der Älteste. Der Papa sagt, ich bin ihm eine rechte Hilf.«

Ich lächelte und dachte an den Sepp.

Die erste Wiese lag an einem Hang. Der Bauer befühlte das trockene Gras und nickte. Wie auf ein stilles Kommando verteilten sich die Weiber und Mannsbilder und Kinder über die Wiese und begannen, das Heu zusammenzurechen. Der Bauer fuhr den Heuwagen ans Ende einer Reihe, die Antonia stieg hinauf. Ein derber Kerl mit nacktem Oberkörper und prallen Muskeln stach mit einer langen Ladegabel in einen Haufen und stemmte ihn hoch. Andere stachen ebenfalls ihre Gabeln ins Heu, holten aus und luden auf, manche Männer hoben riesige Bündel, ein paar Weiber taten es ihnen gleich. Die Antonia verteilte das Heu am Rand des Wagens, lud dann die Mitte voll, damit nichts verrutschte und wir mit einer Ladung möglichst viel Heu einfahren konnten. Die Kinder, auch der Kaspar, liefen hinter dem Wagen her und rechten zusammen, was herunterfiel. Die Alte mit den Füßen wie Holzscheite lief hinter den Kindern her und rechte noch den allerletzten Halm auf. Sie nahm es sehr genau. Sie hatte recht. Mit dem Heu würden wir im Winter die Gäule füttern; das Gras vom nächsten Schnitt in ein paar Wochen taugte für die Kühe, doch Rösser bekamen von Öhmd Koliken.

Ich spießte eine Gabel auf und hob sie auf den Wagen. Das Heu duftete und kitzelte in der Nase. Ich nieste.

»Prosit!«, rief die Antonia. Ich lachte. Die Obermagd starrte finster vor sich hin. Ich nieste wieder.

»Nach dem zehnten Wagen ist’s vorbei«, sagte die Bäuerin.

»Mir macht’s nichts«, lachte ich. Und nieste. Ich holte aus und stemmte die nächste Ladung hoch. Heu war leicht, doch ein großes Bündel hatte Gewicht, es nach oben zu stemmen brauchte Kraft und Geschick. Vor allem die Mannsbilder schafften schnell, und oben auf dem Wagen stand die Antonia schon hoch auf dem Heu.

»Fahren wir!«, rief der Bauer.

Der Wagen war haushoch beladen. Die Antonia spießte ihre Gabel ins Heu und schwang sich herunter. Ihr Kleid flog hoch, ein junger Bursche pfiff. »Hast ja nichts gesehen«, fuhr sie ihm über den Mund. Der Bursche lachte. Die Alte durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Ich dachte daran, dass die alten Weiber, wie christlich sie sich auch gaben, wie einst in ihrer Kindheit noch immer keine Unterhosen unter ihren Röcken trugen. Doch die Antonia war jung. Der Bauer trieb die Gäule an und der Heuberg setzte sich schwankend in Bewegung. Wir anderen blieben zurück und rechten weiter Heu zusammen.

Gegen zehn Uhr, die Sonne brannte, die Wolken hatten sich verzogen, und meine Arme begannen zu schmerzen, rief die Bäuerin: »Vesperzeit!« Alle legten Gabeln und Rechen beiseite, setzten sich im Schatten eines Heustadels ins Gras. Die Obermagd packte Brot, Butter, Wurst und Äpfel aus, Milch und einen Topf Honig. Der Bauer schenkte Most ein; einem Mannsbild kann man nicht mit Sprudel kommen, einem Weib noch eher, doch gute Bauern gaben all ihren Dienstboten Most. Ich nahm einen Schluck, reichte den Becher an die Antonia weiter und strich Butter und Honig auf einen Kanten Brot. Die Magdalene schnitt ein Stück Schwarzwurst ab und legte es obendrauf. Der Kerl mit den prallen Muskeln rülpste. Das Baby wachte auf und die Bäuerin verschwand mit ihm im Heustadel; alle Weiber nahmen ihre Kinder mit aufs Feld, es kam sogar vor, dass Schwangere, die es weit zum Hof hatten, in einer Scheune am Wegrand niederkamen. Ich wischte Heustaub von meiner Schürze und streckte heimlich den Rücken. Ein Bub trieb Kühe auf eine Weide, Glocken schellten.

Der Bauer stand auf.

Die Obermagd stellte den leeren Mostkrug in den Korb, alle erhoben sich, streckten sich. Diesmal stieg der Knecht vom Brauchle-Hof auf den Wagen. Meine Arme schmerzten, als ich die erste Ladung Heu hochstemmte. Doch ich biss mir auf die Lippe und spießte gleich die nächste auf. Und noch eine. Und noch eine. Irgendwann war mein Körper taub, bewegte sich mechanisch, holte aus, stemmte hoch, stemmte hoch, stemmte hoch. Der Kaspar rechte hinterher. »Bist ein fleißiger Bub«, sagte ich. »Wirst sicher mal ein guter Bauer.«

Er lächelte und schaute ernst. Sein Haar sah noch struppiger aus als in der Früh, es war voller Heuhalme. »Der Vater sagt, ich werd den Hof erben.«

Ein paar Männer luden sich riesige Berge auf ihre Rücken, so riesig, dass man ihre Köpfe nicht mehr sah. Wenn sie liefen, schien es, als habe das Heu Beine bekommen. Den Oberkörper vorgebeugt, trugen sie ihre Last zum Heustadel, wo der Bauer es im Winter, wenn die Vorräte daheim in der Scheune zu Ende gingen, holte.

Ich stemmte hoch und stemmte hoch.

»Mädle, mach langsam«, sagte die Alte. »Du bist noch jung, du kannst noch genug schaffen im Leben.« Die Bäuerin wischte sich mit der Hand durchs Gesicht und nickte stumm. Die Obermagd kniff die Lippen zusammen.

Bis zum Mittagessen hatten wir zwei Wagenladungen Heu eingefahren. Bis zum Abend waren es fünf. Es war dunkel, als der Bauer, die Magdalene und ich die letzte Fuhre auf dem Heuboden überm Kuhstall verstauten. Den ganzen Tag hatte dort die Hitze gestanden und noch immer war es glühend heiß.

»Warst tüchtig, Mädle«, sagte der Bauer, nachdem die Magdalene sich verabschiedet hatte. Er lehnte am Scheunentor, rieb sein Kinn, hustete trocken, spuckte aus. »Wirklich tüchtig.« Sein Blick war offen und anerkennend.

Ich schloss die Augen und streckte mich. Meine Arme und mein Rücken brannten. Jede Bewegung schmerzte.

Der Bauer steckte die Daumen unter seine Hosenträger und ließ sie knallen. »Wirklich tüchtig.«

 

Ein gelber Käfer mit dunklen Streifen auf dem Rücken krabbelte über das Blatt. »Sakrament!«, schimpfte der Bauer. Er riss seinen Hut vom Kopf und beinahe wäre er auf die Knie gegangen.

Ich schlug mit der Hacke nach dem Käfer.

»Wir müssen schauen, wo sie sitzen.« Der Bauer begutachtete die Unterseiten der Blätter. »Wahrscheinlich haben sie längst ihre Brut gelegt.« Kartoffelkäfer waren eine Plage. Innerhalb von Tagen konnten sie einen Acker kahlfressen. »Fang sofort an. Später schick ich die Zenz und die Zilli.«

Mit hochgezogenen Schultern stapfte er zum Fuhrwerk. Ich kniete nieder und befühlte die Kartoffelstauden. In der Früh hatte ich begonnen anzuhäufeln, Erde auf die Pflanzen zu schütten, bis nur noch die obersten Blätter heraussahen, damit kein Licht auf die Knollen fiel, sie nicht grün wurden. Ich hatte Unkraut gehackt, damit die Kartoffeln Platz hatten und wuchsen. Es war eintönige, anstrengende Arbeit, der Rücken schmerzte vom Bücken. Als der Bauer in der Früh gesagt hatte, heut wird angehäufelt, war die Obermagd in die Küche gelaufen, in die Speis, wieder in die Küche und hinaus in den Garten. Sie hatte geschäftig getan, bis der Bauer sagte: »Du gehst, Dora.«

Ich ging. Doch ich verzieh es ihr nicht.

In unserer Kammer tat sie stets, als wäre ich nicht dort. Sie sprach kaum, hatte noch kein einziges Mal gefragt: Wie geht’s? Sie wollte mich nicht in ihrer Nähe haben; doch für mindere Arbeiten war ich ihr recht. Die Bäuerin sagte nichts. Der Bauer merkte nichts. Beim Heuen, beim Aufbieten, beim Holzreinholen, beim Vieh sagte er oft: »Das macht die Dora«, doch dann wusste ich, dass er mich ausgesucht hatte, weil ich tüchtig war.

Ich fuhr zusammen. Ein Blutstropfen rann über meinen Finger. Ich zog den Stachel aus dem Fleisch und schlug mit dem Distler, den der Bauer am Vorabend gezimmert hatte, einem Stück scharfen Blechs, das an einem Stecken befestigt war, die Distel aus der Erde und warf sie in den Korb. Eine schwarze Katze strich zwischen den Stauden hindurch, kam und schnupperte an meiner Hand. »Bist ein feines Tier.« Sie drückte ihren Kopf an mein Knie, ließ sich streicheln und schnurrte. »Ein ganz feines Tier …«

Im Grunde war ich froh, dass der Bauer mich allein hinausgeschickt hatte.

Reihe um Reihe rutschte ich durch die Erde, hob die Blätter und suchte sie nach Kartoffelkäfern ab. Die Blätter waren feucht. In der Früh hatte es wie aus Eimern geschüttet, nun war der Himmel blau, doch über den Wiesen und Äckern hing Dunst. Über den Fichten am Waldrand zogen sich breite Wolkenstreifen bis zum Horizont. In wenigen Tagen war Siebenschläfer; brachte er Sonne, musste man sich um die Ernte nicht sorgen.

Hackte die Mutter daheim wohl auch grad Kartoffeln?

Schickte sie die Monik und den Sepp zum Unkrauthacken? Die Gedanken kamen plötzlich und einen Moment war mir weh ums Herz, dann riss ich mich zusammen. Wenn ich an sie dachte, vermisste ich die Eltern, doch meist blieb vor lauter Arbeit gar keine Zeit für Heimweh. Außerdem gingen alle Mädle irgendwann fort von daheim, schafften als Magd oder heirateten.

Als es Zeit war zu melken, band ich den Sack mit den Käfern zu, warf ihn in den Korb und machte mich auf den Weg; daheim würde ich sie in heißes Wasser werfen und dann in die Güllegrube.

Die Obermagd hockte im Stall unter den Kühen. »Wo hast gesteckt?«

»Das weißt ganz genau«, gab ich zurück.

»Hättst dich eilen können. Hier gibt’s viel Arbeit.« Die Kühe zerrten an ihren Ketten und muhten. Manche schlugen ihre Köpfe auf und nieder, wollten auf sich aufmerksam machen. Ein Bulle brüllte und ein Kalb hatte Durchfall. Nebenan schrien die Sauen. Ich nahm einen Melkschemel und einen Eimer. »Nach dem Melken musst misten und außerdem den Graben saubermachen.«

»Bist dir zu fein dazu, was?«, murmelte ich.

»Was hast gesagt?« Die Obermagd fuhr unter der Kuh hervor.

Ich straffte die Schultern und sah ihr ins Gesicht. Sie zuckte zurück.

Ich molk, goss die Milch in Kannen und trug sie hinaus. Ich mistete und schüttete frisches Sägemehl aus, nahm eine Hacke und einen Mistbesen, zog die alte Streu in den Graben hinterm Vieh und lud sie in einen Schubkarren.

»Dora …« Die Bäuerin stand im Stalltor, einen Krug Milch in der Hand. »Was tust da? Und wo ist die Josefine?«

Ich zuckte mit den Schultern. Die Bäuerin schüttelte den Kopf und schloss das Tor. Die Kühe rupften Gras und kauten, und einen Moment schaute ich ihnen zu, lauschte dem gleichmäßigen Malmen und Schmatzen. »Lasst’s euch schmecken«, sagte ich und strich der Olga, einem kräftigen Braunvieh mit langen Hörnern, über den Rücken, füllte frisches Wasser in alle Tröge und zog meine Stallkleider aus.

»Du musst die Milch fortbringen«, rief die Obermagd aus dem Schweinekoben, als ich über den Hof lief. Ich lief weiter, bis in die Küche, wo die Bäuerin ihr Baby fütterte, nahm eine Kasserolle und Mehl, Milch, Salz, Butter. Ich rührte einen Teig für Flädle; was übrig blieb, würde ich mit Brühe aufkochen zu Flädlesuppe.

»Willst später mit mir im Garten sitzen, ein bissle stricken?«, fragte die Bäuerin.

Ich sah auf und lächelte. »Gern.«

 

Am Sonntag nahmen mich die Bäuerin und der Bauer mit zur Messe. Die Obermagd war am Samstag heimgelaufen.

Die Kirche in Ottmannshofen lag an einem Hang. Sie war nicht groß, recht schmucklos und von einer niederen Mauer umgeben. Die Leut standen auf dem Platz und schwätzten. Die Bäuerin und der Bauer grüßten nach allen Seiten, die Schwestern kicherten, ich sah die Antonia und die Magdalene und ihre Familie, den Kaspar mit seinen Geschwistern und Eltern. Sogar am Sonntag standen dem Bub die Haare in alle Richtungen. Kaspars Mutter fuhr ihrem Sohn über den Kopf. Die Alte mit den Füßen wie Holzscheite lief vor zum Friedhof, spritzte geweihtes Wasser auf ein Grab, schlug ein Kreuz. Heut steckten ihre Füße in ausgetretenen Schuhen. Der Kaspar winkte, ich winkte zurück. Die Glocken schlugen und jemand öffnete das Kirchenportal.

Drinnen war es kühl, es roch nach feuchtem Mauerwerk. Rechts stand der Beichtstuhl, links führte eine Treppe auf die Empore. Der Altar stand in einer Apsis; auch er war kleiner als der Altar in unserer Kirche daheim. Schritte schlurften über den Boden, alle schoben sich zu ihren Plätzen, das Holz der Bänke knarrte. Alte Weiber knieten nieder und beteten den Rosenkranz.

Gegrüßet seist du, Maria,

voll der Gnade,

der Herr ist mit dir,

du bist gebenedeit unter den Weibern,

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus …

Durch die hohen Fenster fiel helles Licht. Ich bekreuzigte mich, knickste und rutschte auf der linken Seite bei den Weibern in eine Bank, neben die Bäuerin. Ein paar Reihen vor uns saß die Obermagd, sie trug ein hochgeschlossenes Kleid, ihr blondes Haar war hochgesteckt. »Ihre Familie ist von Ottmannshofen«, flüsterte die Bäuerin. »Ihr Vater ist der Schuhmacher.«

Ich hoffte, dass ich niemals mit einem Loch im Schuh zu ihm müsste.

»Und der dort drüben, der poussiert mit ihr.« Die Zenz kicherte und Zilli deutete auf ein Mannsbild rechts vom Mittelgang mit dichtem, dunklem Haar. Ein altes Weib ließ sich neben mir nieder, lehnte ihren Gehstock gegen die Bank. Ihre Hände waren knochig, die Finger knotig. Sie trug ein geblümtes Kopftuch, das sie fest unterm Kinn gebunden hatte. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. Sie hustete. Ich rutschte ein Stück zur Seite. Der Stock fiel zu Boden. Ich bückte mich. »Vergelt’s Gott«, murmelte die Alte.

Ich nickte.

»Vergelt’s Gott.« Der Mund der Alten verzog sich zu einem zahnlosen Lächeln. Sie zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich. Vorne trat der Pfarrer vor den Altar. Ich schlug mein Gesangbuch auf. Das erste Lied war Lobe den Herrn.

Lobe den Herrn,

den mächtigen König der Ehren!

Meine geliebte Seele,

das ist mein Begehren …

Während der Predigt wanderte mein Blick immer wieder zur Obermagd. Sie saß aufrecht, eine Haarsträhne lockte sich in ihrem Nacken. Sie war drei, vielleicht vier Jahre älter als ich, etwas größer, hübsch. Warum war sie so garstig?

Die Alte räusperte sich. Die Bäuerin blätterte in ihrem Gesangbuch und deutete auf das nächste Lied. Herzliebster Jesu. Ich war immer mit allen Leuten ausgekommen.

Warum war es mit der Josefine so schwierig?

 

Tags zuvor war der Bauer aufs Feld gegangen, hatte eine Ähre zwischen den Fingern gerieben, auf ein Korn gebissen und es war hart gewesen. »Morgen mähen wir«, hatte er gesagt.

Seit Tagen brannte die Sonne, und in der Früh trieb ich die Kühe nicht auf die Weide, sondern lief mit der Sense los, um Gras zu mähen. Beim Frühstück langten alle zu, als wäre es das letzte Mal, die Bäuerin trug Brote herein, die Obermagd Krüge mit Milch und Malzkaffee, ich holte Honig und Butter aus der Speis. Der Bauer sprach ein Gebet.

Was unsrer Erde Tiefe birgt,

es wächst durch Gottes Himmelssegen.

Dass dies Geschenk wir weitergeben,

hilf du dabei, Herr Jesu Christ.

Sein knochiges Gesicht wirkte angespannt, sein Kinn spitzer als sonst. Er trug kurze Hosen, seine Hemdsärmel waren aufgekrempelt. »Dora, du spannst die Gäule vor den Gespannmäher.« Er stopfte ein Stück Brot in den Mund, kaute. Ich nickte. Gäule waren Sache der Mannsbilder, die Weiber versorgten Kühe, Sauen, Hennen. Doch ich konnte es gut mit den Rössern, sie waren kluge und feinfühlige Tiere. Daheim hatte ich zugeschaut, wie der Vater einschirrte und den Wagen lenkte, die Gäule an der Deichsel gehen ließ, wenn sie selbst die Richtung vorgeben wollten. Ein paarmal hatte er mich sogar selbst fahren lassen.

Der Bauer setzte seinen Hut auf. Die Obermagd trug die leeren Krüge in die Küche, stellte den Honig auf den Sims, legte die Butter in eine Schale mit kaltem Wasser und trug sie hinunter in die Speis.

»Einspannen …«, zischte sie im Vorbeigehen. »Du reichst doch keinem Gaul bis zur Schnauze, wie willst ihm also Zaumzeug anlegen?«

Wortlos ließ ich sie stehen und ging in den Hausgang, wo ich in ein Paar Holzpantinen schlüpfte.

Im Stall zog ich einen Brocken Brot aus meiner Schürzentasche, ein Stück Apfel. »Wie geht’s, Liesl?« Die Stute schnupperte an meiner Hand, ihre weichen Lippen tasteten nach dem Apfel. »Und du, Hans …« Ich streichelte den Wallach, klopfte seinen warmen Hals, strich durch seine Mähne, über die Blesse auf seiner Stirn und gab ihm das Brot. Die beiden fraßen, kauten und mahlten, und standen still, während ich sie striegelte, schlugen höchstens einmal mit ihrem Schweif nach Fliegen. Von einem Haken an der Wand nahm ich ein Kummet. Es wog schwer in der Hand und es war nicht leicht, den Gäulen den ledernen Ring über den Kopf zu werfen, also tat ich ihnen schön, lobte sie und sie beugten ihre Köpfe herunter. Im Stall konnte ich leichter einschirren als auf dem Hof, denn auf dem Stroh stand ich höher. Ich hakte Riemen und Leitseil ein, band die beiden los.

»Grüß Gott, Dora.« Im Stalltor im Gegenlicht tauchte ein Kopf auf, Haare standen wild in alle Richtungen.

»Grüß Gott, Kaspar. Schaffst heut wieder mit?«

»Freilich.«

Er öffnete das Tor und ich führte die Gäule hinaus zum Gespannmäher und befestigte den Kummetbügel an der Deichsel. Der Spitz jagte den Gockel und eine Ente trieb ihre Jungen vor sich her. Eine Katze schlich um die Zinken einer Mistforke, schlug mit ihrer Pfote nach ihnen. Der Bauer nahm die Zügel. Die Obermagd, die Schwestern, die Magdalene und die Antonia, der Kaspar und seine Mutter schulterten Rechen und Heugabeln. Ich trug die Sense.

Der erste Acker lag dicht am Hof. Die Bäuerin stellte das Leiterwägele mit ihrem Kind im Schatten einer Weide ab. Das Baby weinte und sie nahm es heraus, schaukelte es, bis es sich beruhigte. Kaum legte sie es zurück, weinte es wieder. Sie bat den Kaspar aufzupassen. Einen Moment sah der Bub aus, als wollte er protestieren; dann fügte er sich. Ich band mein Kopftuch. Der Bauer warf einen kleinen Motor am Gespannmäher an und ließ den Messerbalken neben dem rechten Rad herab. Er hockte sich auf den Sitz, den breiten Rücken vorgebeugt, die Füße zu beiden Seiten der Deichsel, und lenkte die Stute und den Wallach auf den Acker. Die eisernen Klingen des Messerbalkens schnitten rasselnd durchs Korn.

Das Baby im Wägele schrie. Der Bauer lachte.

In dicken Büscheln fiel der Hafer, und die Weiber liefen hinterher, stachen mit den Heugabeln in das Getreide, lockerten es, bis die ganze Frucht schließlich ausgebreitet auf dem Acker lag wie strohgelbe Matten, die in der blanken Sonne trockneten. Ich lief hinter dem Gespannmäher her und mähte mit der Sense den Rain und die Halme, die der Messerbalken nicht erreicht hatte.

Ein Knirschen und die Gäule scheuten.

»Herrschaft!«, schrie der Bauer und sprang von der Mähmaschine. Er zog an den Zügeln, strich den Rössern über den Rücken, um sie zu beruhigen, bückte sich und zerrte an einem Bündel Haferhalmen, das sich zwischen den Messern verkeilt hatte. Er fluchte.

»Ist schon recht.« Die Antonia löste mit der Heugabel Erdklumpen vom Messerbalken. Der Bauer kletterte wieder auf seinen Sitz und trieb die Gäule an.

Nach einer Weile vesperten wir. Als die Sonne hoch am Himmel stand, aßen wir im Schatten der Weide zu Mittag, und wieder stopften sich alle Brot, Käse und Wurst in die Mäuler. Die Bäuerin sah nach ihrem Baby. »Das ist jetzt müd vom Plärren«, sagte die Antonia und schlug klatschend nach einer Mücke auf ihrem Arm. Überm Wald zogen Wolken auf, wie hingetupft sahen sie aus.

»Weiter geht’s!« Der Bauer sprang auf und stapfte zu seinem Gespann. Er warf den kleinen Motor an, kletterte auf den Sitz und ließ den Messerbalken herunter. Er trieb die Rösser mit der Geißel an und sie zogen in gerader Spur die Mähmaschine über den Acker. Ein paar Weiber und auch der Kaspar griffen nach den Heugabeln und folgten, breiteten den gemähten Hafer zum Trocknen aus. Ich nahm die Sense und mähte aus.

»Mach größere Bögen, damit du mehr fertigbringst!«, raunte die Obermagd. »Auch wenn du kurze Arme hast.«

»Ich schaff ordentlich. Ich muss mir nichts sagen lassen.« Ich zog den Wetzstein aus meiner Schürzentasche und fuhr über das Blatt. Die Obermagd sah mich an wie eine angriffslustige Ratte. Sie wollte etwas entgegnen, doch ihr fiel nichts ein. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu lachen. »Wenn man arbeitet, zeigt sich immer, ob man was wert ist oder nicht.«

Mit Schwung zog ich die Sense durchs Korn, und die Obermagd sprang zur Seite.

Reihe um Reihe mähten und wendeten wir den Hafer, bis die Sonne sank. Wir schafften still, ohne viel zu schwätzen. Die Arbeit war schwer. Doch niemand klagte. Anderntags würden wir das gemähte Getreide aufnehmen und binden, jemand würde ein Seil unter die Garben schieben, eine mindere Person, ein Kind, vielleicht der Kaspar; obwohl der grad ins Korn stach wie ein Großer. Wenn alles gebunden wäre, musste das Korn trocknen. In einer Woche käme der Bauer mit dem Wagen, die Antonia oder ein anderes Weib würde hinaufsteigen zum Laden, die anderen würden die Garben hochwuchten. Beim Laden musste man die Garben versetzt schichten, so dass die oberen den unteren Halt gaben. Eine Garbe Getreide war schwerer als ein Bündel Heu, doch lud ich lieber Getreide, denn es fiel nicht auseinander. War alles Korn verladen, gingen ein paar Weiber ein letztes Mal mit dem Rechen über den Acker. Danach durften die armen Leut Ähren auflesen; in der Mühle gab man ihnen Mehl dafür.

»Dora, wirst morgen laden?«, fragte die Bäuerin am Abend.

»Wenn der Bauer mich lässt.«

»Er wird’s dir schon sagen. Bloß fahren wird er dich nicht lassen, denn im Frühjahr hat oben im Dorf eine Magd Heu eingefahren, ein Mädel, kaum größer als du, ohne rechte Kraft. Der Wagen ist ihr umgekippt.« Die Bäuerin wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Die Haut auf meinen Armen brannte. Die hingetupften Wolken überm Wald hatten sich verdichtet. Der Bauer schneuzte sich. »Augustsonne, die früh brennt, nimmt nachmittags kein gutes End’«, murmelte er.

»Man kann nie wissen, wann’s wirklich regnet«, entgegnete die Bäuerin.

Müde stieg ich in der Nacht in die Kammer hinauf. Ich betete ein Vaterunser für die Mutter und den Vater daheim, eines für die Bäuerin und den Bauern und dass es trocken blieb, bis die Ernte eingefahren war. Dann kroch ich ins Bett. Meine Muskeln schmerzten, mein Rücken brannte. Meine Beine waren zerstochen von Halmen und Mücken. Und ich hatte immer noch Hunger.

Leise stand ich wieder auf, stieg hinab, lief in die Küche, nahm einen Laib Brot, brach ein Stück herunter, strich Butter drauf und schlich auf Zehenspitzen zurück durch den dunklen Hausgang. Die Tür zur Stube stand einen Spalt offen. Drinnen brannte eine Kerze und vor dem Herrgottswinkel kniete der Bauer, den breiten Rücken vorgebeugt, die Hände gefaltet.

Er betete.

 

In der Küche lagen Erdklumpen und Heuhalme auf dem Boden und ich kehrte sie zusammen, bevor ich Wasser in den Badezuber goss. Auf einen Schemel hatte die Bäuerin ein Stück Kernseife, einen Lappen und eine Bürste zurechtgelegt. Ich lief hinauf, nahm frische Wäsche aus dem Schrank, ein neues Kleid, das ich auf dem Markt gekauft hatte, eine Schürze. Draußen im Stall muhte das Vieh, die Sauen schmatzten.

Ich verriegelte die Küchentür, öffnete das Band meiner Schürze und knöpfte mein Kleid auf. Dort, wo der Saum begann, lief ein dunkler Rand über meine Beine. Ich löste meinen Zopf und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, es fühlte sich staubig an. Staub klebte in meinen Wimpern, in meinen Nasenlöchern, in meinen Ohren. Die ganze Woche hatten wir Öhmd gemäht, gewendet, aufgeboten, geladen. Der Heuboden überm Stall war voll und auch in den Heustadel auf dem Acker passte nicht mehr viel hinein. Futter, das der Bauer nicht für sein Vieh brauchte, konnte er im Frühjahr verkaufen; es wäre willkommenes Geld.

Ich tauchte einen Zeh ins Wasser, es war lau, drum nahm ich den Kessel vom Herd und goss noch etwas heißes Wasser nach. Der Zuber hatte an einer Seite eine höhere Wand und ich ließ mich ins Wasser gleiten und lehnte den Kopf an. Mein Körper war müde, aber auch voller Kraft. Meine Haut brannte, die Muskeln in meinen Armen und Beinen waren fest, fast hart. Draußen hörte ich die Schwestern kichern. Jemand lachte. Der Spitz bellte. Hühner gackerten.

Ich tauchte unter.

Einen Moment war die Welt ganz still.

Wasser rann über mein Gesicht, als ich wieder auftauchte, es brannte in den Augen. Ich nahm den Lappen, schrubbte meine Arme, die Hände, die Füße, die schwarz waren wie Kohlen, die Sohlen rauh, fast wie bei der Alten. Ich seifte mein Haar, bis mein Kopf voller Schaum war, und spülte es. Ich griff einen Eimer, der neben dem Zuber stand, übergoss mich mit einem Rest klaren Wassers und stieg aus dem Zuber.

Mit einem Leintuch rubbelte ich mich trocken. Von irgendwoher wehte ein Luftzug, frisch und kühl. Ich zog saubere Wäsche an, das Kleid, die weiße Schürze, die nach Soda duftete, und kämmte mein nasses Haar, dass es offen über die Schultern fiel. Ich nahm mein Wäschebündel, öffnete die Küchentür. Der Spitz kam angesprungen, stellte sich auf die Hinterpfoten, tänzelte. Ich bückte mich und kraulte ihn. Ich rief nach der Obermagd. »Das Bad ist frei …«

Im Garten auf der Bank unter der Rotbuche saß die Bäuerin. »Setz dich, Dora.« Sie deutete auf den Platz neben sich. Ihre grünen Augen leuchteten im Abendlicht. Sie hatte ein verschlissenes Laken aufgetrennt und nähte es an den Außenkanten neu zusammen. »Magst Erdbeeren?« Sie schob eine Schale herüber. Der Spitz legte sich ins Gras, rollte sich zusammen, wie eine Wurst lag er dort. Die Erdbeeren schmeckten süß. »Kannst Marmelade einkochen?«

»Das hab ich daheim mit der Mutter gemacht.«

»Dann kannst mir helfen.«

»Wenn der Bauer mich nicht draußen braucht.«

»Die Josefine kann mit ihm Kartoffeln klauben. Die Zenz und die Zilli pflücken seit Tagen Himbeeren, Kirschen, Johannisbeeren, und ich brauch jemanden in der Küche, der mir einkochen hilft.«

»Ich mach jede Arbeit, die man mir gibt.«

»Ich weiß, Dora.« Sie biss einen Faden ab. »Und der Bauer weiß es auch. Er ist zufrieden mit dir.«

Ich sah auf. »Wirklich?«

»Freilich. Er sagt’s nicht, aber ich kenn ihn.« Sie fädelte einen neuen Faden durchs Nadelöhr. »Weißt, die Mannsbilder sind so, kriegen die Zähne nicht auseinander, außer zum Schimpfen.«

»Schimpfen tut er mich nicht.«

»Eben.« Die Bäuerin setzte ihren Fingerhut auf und stach die Nadel durchs Tuch. Überm Tal ging die Sonne unter, gelbes Licht lag auf den Wiesen und in der Ferne verschwanden die Berge im Dunst. Die Blumen schlossen ihre Blüten, manche ließen die Köpfe hängen. Ein mächtiger Haselnussstrauch raschelte leise. Drüben im Hühnerstall gurrten ein paar Hennen. Der Spitz schnarchte.

Es war ganz friedlich.

 

Am ersten Sonntag im Oktober zog ich mein gutes Kleid an und holte mein neues Fahrrad aus der Scheune. Der Vater hatte mir fünfundsechzig Reichsmark geliehen und ich hatte beim Schmied in Herlazhofen, der auch Fahrräder zusammenbaute, ein schwarzes Damenrad gekauft. Jeden Monat zahlte ich von meinem Lohn einen Teil des Geldes zurück und war nun viel schneller daheim; zu Fuß brauchte ich zwei Stunden für jede Strecke, mit dem Fahrrad halb so lang.

Die Zilli kam vom Füttern aus dem Hühnerstall, als ich das Rad aufpumpte. Sie schlenkerte den leeren Futtereimer und bohrte die Spitze ihrer Holzpantinen in den Sand. Ihr Kopftuch saß schief. »Feierst Erntedank bei deiner Familie?«

Ich nickte und schraubte das Ventil auf den Reifen. »Ich freu mich, ich war seit Wochen nicht daheim.« Ich richtete den Lenker aus, stieß mich vom Boden ab und stieg auf.

»Behüt dich Gott.« Die Zilli winkte. »Bis heut Abend!«

»Bis heut Abend!«, rief ich, fasste die Lenkstange mit beiden Händen und fuhr vom Hof, den Schotterweg hinauf ins Dorf. Vor der Kirche hatten die Ottmannshofer Getreide, Kohlrabi, Kohlköpfe und Äpfel aufgefahren. Neben dem Portal stand die Erntekrone. Ich winkte der Magdalene und der Antonia und radelte weiter, an der Schreinerei vorbei und hinaus aus dem Ort, die drei Hügel hinab, am Spital vorbei, die Marktstraße hinunter bis zum Hotel Post, bog am Friedhof links ab, fuhr zur Stadt hinaus. Vor mir lagen die flachen Weiden, der Schotterweg, der sich wie ein dunkles Band hindurchschlängelte. Ich fuhr an der Feldkapelle vorbei und die Dorfstraße hinauf. Auch hier liefen Bauern zum Kirchplatz, die Arme voller Roggen und Weizen, Hafer und Gerste, Kartoffeln und Kohlrabi. Ein paar Uniformierte riefen Anweisungen. Vor dem Rathaus flatterte die rote Fahne mit dem Hakenkreuz.

Ich bog in den Weg hinaus zum Hinterweiher und radelte an abgeernteten Äckern und gemähten Wiesen vorbei. In der Ferne ertönte Schellengeläut, ein paar Kühe grasten auf einer Weide. Die Luft war frisch und klar und der Wind fuhr mir durchs Haar. Ich fühlte mich leicht. Die langen Tage und kurzen Nächte der Erntezeit waren vorüber.

Die Mutter (rechts) mit der Frida (links), ihrer mittleren Tochter

Daheim hatte die Mutter die Hände voller Mehl, als sie mich in die Arme schloss. Der Ammi bellte, seine Rute schwang aufgeregt hin und her. Die Monik war gewachsen, der Sepp hielt ein Kissen im Arm und blinzelte. »Die Frida ist fort«, sagte die Mutter und schob den Kuchen in den Ofen. »Als sie im Sommer aus der Schule kam, ist sie gleich als Magd zu einem Bauern in Gebrazhofen gegangen.« Sie schnitt eine Scheibe vom Hefezopf und goss mir einen Becher Milch ein. Ich kraulte die dicke weiße Katze.

»Der Bauer hat auch eine Wirtschaft auf dem Hof.« Der Vater kämmte sich vor dem kleinen Spiegel. »Da gibt’s viel zu tun.«

»Seit sie fort ist, ist sie erst ein einziges Mal heimgekommen.« Die Mutter seufzte und wischte sich Mehl von den Händen. Ich kaute und freute mich über den süßen vertrauten Geschmack des Hefezopfs und pulte eine getrocknete Weinbeere aus meinem Backenzahn.

»Das Kissen ist meins«, murmelte der Sepp und rutschte von der Ofenbank. Er legte den Kopf in den Nacken und sah mich herausfordernd an.

»Nimm’s halt«, sagte ich. Ich würde es nimmer brauchen.

Bald spannte der Vater ein. »Willst fahren?«, fragte er und hielt die Zügel.

»Freilich.« Ich kletterte auf den Bock. Hinten hatte er ein Brett quer übers Fuhrwerk gelegt, darauf setzten sich die Mama, der Sepp und die Monik.

Die Blätter leuchteten bunt vor einem hellgrauen Himmel. Am Wegkreuz lagen frische Astern, im Wald roch es nach Erde und Laub. Frösche quakten und das Wasser plätscherte, als wir den Bach überquerten. Eichhörnchen jagten Stämme hinauf, sprangen von Ast zu Ast, leicht und behende. Im Gebüsch raschelte es. Vögel sangen. Hinter der Mühle flatterten auf einer Wäscheleine zwanzig, dreißig, vierzig dunkle Socken im Wind. Ich trieb die Rösser über die Dorfstraße und die Gasse zur Kirche hinauf. Auf dem Kirchplatz schwätzten die Leut, Mannsbilder, die im Gasthaus Zum Adler eingekehrt waren, liefen hinüber zur Kirche. Auf dem Friedhof spritzten alte Weiber geweihtes Wasser auf die Gräber ihrer verstorbenen Männer. Die Mutter ging zum Grab ihrer Eltern und tat es ihnen gleich.

Drinnen war der Altar mit Getreide geschmückt und in der Mitte stand eine große, mit Blumen und bunten Bändern verzierte Erntekrone. Überall lagerten Körbe mit Kohlrabi und Kartoffeln. Schuhe schoben sich über den steinernen Boden, Schritte hallten von den Wänden wider, das Gestühl knarrte. Der Pfarrer begrüßte die Gemeinde, sprach das Schuldbekenntnis, wir sangen das Kyrie eleison, das Gloria. In seiner Predigt dankte er dem Herrn für die Frucht der Erde und lobte die Arbeit der Bauern. Niemand musste den Winter fürchten, niemand würde hungern müssen, alle hatten ihre Scheunen und Dachböden gefüllt. Ich dachte an meinen Bauern, an seine volle Scheune und daran, dass ich ihm gezeigt hatte, dass ich etwas wert war, auch wenn ich klein war. Ich dachte an die Bäuerin. Ich dachte an den Kaspar, der den Hof seines Vaters erben würde. An die Frida, die nun auch als Magd schaffte.

Der Pfarrer hob seine Stimme.

Kommet, lasset uns danksagen für den Segen der Ernte, den uns Gott, der Geber alles Guten, geschenkt hat.

Bauern und Bäuerinnen, bucklige Weiber und Mannsbilder mit wettergegerbten Gesichtern, junge Knechte und früh gealterte Mägde falteten die Hände. Der Pfarrer sprach:

Aller Augen warten auf dich, o Herr.

Du gibst uns Speise zur rechten Zeit.

Du öffnest deine Hand

und erfüllst alles,

was da lebt, mit Segen.

Die Gemeinde antwortete: »Amen.«

Der Pfarrer segnete die mitgebrachten Gaben. Eine Woche würde man sie stehenlassen, dann würden sie an die Armen verschenkt.

Nach dem Gottesdienst gab es einen Aufmarsch der Uniformierten auf dem Dorfplatz. Männer der SA trugen eine Fahne, eine Musikkapelle spielte. Ein paar Bauern und Dörfler sahen zu. Dann gingen sie heim. Die Regierung hatte Erntedank zum nationalen Feiertag erklärt, doch wir hielten an unseren Traditionen fest, gingen in die Kirche, kehrten im Adler ein und liefen heim, wenn das Vieh gemolken werden musste.

Ein Wegkreuz: Gottes Schutz auf allen Wegen

Daheim schnitt die Mutter den warmen Kuchen auf und kochte Malzkaffee. »Vaters Schwester, die Agatha, hat heuer bei der Ernte geholfen.«

»Und ich auch!«, rief der Sepp.

Ich aß von dem Kuchen, trank Malzkaffee und erzählte von unserer Ernte, dass ich geladen und aufgeboten hatte. »Du schaffst wie ein Knecht«, sagte die Mutter. Der Vater zog an seiner Zigarre, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Die Mama schickte die Monik in die Speis, Äpfel holen und Himbeermarmelade. Man brauchte mich hier nimmer; doch ich wusste, dass die Eltern stolz auf mich waren.

»Musst schon wieder fort?«, fragte die Mama, als die Pendeluhr Viertel vor vier schlug.

Ich nickte. »Das Vieh …«

Vor dem Haus strich sie mir übers Haar und steckte mir zwei Reichsmark in die Schürzentasche. »Nimm’s halt, kannst es sicher brauchen.« Sie hatte den restlichen Hefezopf und die Himbeermarmelade eingepackt und befestigte das Päckchen auf meinem Gepäckträger.

 

Mit festen Schlägen hieb der Bauer den Stein in den Boden. Zu beiden Seiten lagen aufgeschaufelte Erde und Schnee. Immer wieder trat er zurück, betrachtete sein Werk, doch er war nicht zufrieden, rüttelte an dem Stein, zog ihn heraus, griff nach dem Spaten und hob das Loch tiefer aus. Ein zweites Mal schleifte er den Koloss an den Rand des Lochs, ließ ihn hinabsinken, richtete ihn auf und schlug, bis er fest stand.

Er sah aus wie ein Grabstein.

Diesmal war der Bauer zufrieden und begann, das Loch zuzuschaufeln. Dann verschwand er. Ich stand am Fenster der Kammer und wartete. Am Nachmittag war er nach Ottmannshofen gefahren und als er zurückgekommen war, hatten ein Stein und ein in alte Decken gehülltes Paket hinten auf dem Fuhrwerk gelegen. Spät am Abend hatte er begonnen, am Wegrand vorm Haus ein Loch auszuheben.

Im Dunkeln sah ich, wie er hinter der Scheune hervorkam, auf seiner rechten Schulter das schwere Paket. Vorsichtig legte er es ab und schob die Decken beiseite; ich konnte nicht erkennen, was darin war. Er richtete sich auf und rieb seinen Rücken, schob seinen Hut zurück, griff in seine Jackentasche. Er zündete sich eine Zigarette an, das Streichholz warf ein jähes Licht auf sein Gesicht. Er rauchte. Ich hatte ihn noch nie rauchen sehen. Eine Krähe schrie.

Still und aufrecht stand der Bauer vor dem Stein. Dann bückte er sich und hob ein Kruzifix aus dem Gras. Es muss schwer gewesen sein, denn er wankte. Er lief um den Stein, machte einen Schritt nach rechts, einen nach links, fast sah es aus, als tanzte er mit seiner Last. Dann ließ er das Kreuz in den Stein ein. Schwarz und mächtig stand das Kruzifix in der Dunkelheit und der Bauer davor. Er bekreuzigte sich. Die Glut der Zigarette glomm in seinem Mundwinkel.

Anderntags in der Früh lief ich vor dem Melken ums Haus. Ein Wegkreuz mit dem Heiland stand am Rain, eingerahmt von zwei Lebensbäumen. Ich hielt inne und sprach ein Vaterunser.

Warum hatte der Bauer es aufgestellt?

Aus Frömmigkeit? Hatte es an dieser Stelle einen Unfall gegeben? War ein Verbrechen geschehen? Ich schauderte, kniete nieder und wischte mit der Hand eine dünne Schicht Schnee von dem grauen Stein. Gelobt sei Jesus Christus. Plötzlich sah ich das Bild wieder vor mir, der Bauer vorm Herrgottswinkel in der Nacht während der Ernte. Am nächsten Tag waren die Wolken fort gewesen und wir hatten alles Korn gemäht und eingefahren. Gelobt sei Jesus Christus. Ich erhob mich, sprach noch ein Vaterunser und lief in den Stall, wo das Vieh mit vollen Eutern wartete und muhte.

Beim Frühstück lagen Nikolausgaben auf dem Tisch und es roch nach Lebkuchen. Mir schenkte die Bäuerin Bettwäsche und ein Marienbild, die Obermagd bekam eine neue Schürze und einen Rosenkranz. Wir bedankten uns, aßen, dann gingen alle wieder an die Arbeit. Später nahm der Bauer mich beiseite. »Sag, Dora, bleibst noch ein Jahr?«

Ich zögerte nicht. »Wenn du mich behältst.«

»Freilich, du bist ein tüchtiges Mädle.«

»Bekomm ich mehr Geld?«

Er rieb sein Kinn. Dann nickte er. »Von heut an kriegst zwanzig Reichsmark im Monat.«

 

In der Früh lagen zwei Ferkel im Stroh, blutig und nass. Ich stellte den Futtereimer ab und stürzte hinaus. »Die Sau ist am Ferkeln!«

Der Bauer, der die Nacht bei den Sauen verbracht hatte, ließ den Schubkarren stehen und lief in den Saustall. Die Sau lag im Stroh, heftig atmend, ihr Hinterteil zuckte, ein blutiger Zipfel hing heraus. Der Bauer langte kurzentschlossen hinein. Die Sau schrie. Sie quiekte und wälzte sich, sie presste und der Bauer zog. In den Nachbarkoben quiekten die anderen Sauen.

Mit der nächsten Wehe rutschte ein drittes Ferkel heraus.

Die Nabelschnur riss, ich wischte dem Neugeborenen Schleim aus den Nasenlöchern, es nieste, schnappte nach Luft, fing an zu atmen. Ich hielt es und rieb seine Brust mit Stroh ab. Quiekend richtete sich eines der zuvor geborenen Ferkel auf. Seine Haut schimmerte, sie war fast durchscheinend. Seine rosa Klauen fanden keinen Halt, die Vorderbeine rutschten, das Ferkel fiel um, fiel auf das soeben Geborene. Gleich rappelte es sich erneut auf, ich half ihm auf die Beine, während der Bauer wieder in die keuchende, quiekende Sau langte. »Wenn sie ungemütlich wird, musst die Ferkel schnell fortbringen. Sonst frisst sie sie schneller auf, als sie sie bekommen hat.«

»Freilich.« Daheim hatten wir auch eine Sau. Als sie zum ersten Mal Ferkel bekommen hatte, war sie vor Schmerzen und Angst außer sich gewesen, hatte den Vater in die Füße gebissen, er war schließlich aus dem Koben gesprungen, um sich in Sicherheit zu bringen. Erfahrene Sauen waren ruhiger, sie fraßen seltener ihre Jungen, oft ferkelten sie ganz allein. »Ich kann ein Gehege machen und die Ferkel hineinlegen, damit die Sau sie nicht erdrückt, wenn sie sich aus Versehen auf sie legt.«

»Warten wir’s ab.« Der Bauer schnaufte. Die Sau schrie und keuchte und presste.

Mein Herz klopfte. »Wie viele werden es wohl?«

»Zehn. Vielleicht elf. Eine Sau, die zum ersten Mal ferkelt, bekommt weniger Junge, aber diese ist schon älter.«

Die Sau hechelte und zitterte und presste. Im Abstand von etwa einer Viertelstunde brachte sie zehn Ferkel zur Welt. Dann rutschte nur noch die Nachgeburt heraus. Erschöpft lag die Sau in ihrem Koben, Fliegen tanzten über ihren zitternden Leib. Die Ferkel stolperten durchs Stroh, stiegen eins übers andere hinweg, wie ein Knäuel Katzenjunge sahen sie aus. Sie waren hungrig und suchten nach einer Zitze, wobei die kräftigeren Ferkel sich an die vorderen Zitzen drängten, wo es mehr Milch gab. Ein vorwitziges Junges tanzte seiner Mutter auf der Nase herum. Die Sau hob den Kopf. Das Ferkel rutschte herunter und fiel ins Stroh. Die Sau schnupperte an ihm, dann streckte sie sich wieder aus. Der Bauer gab Obacht, dass sie sich nicht auf ein Ferkel legte. Die Sau schloss die Augen, als ginge sie das alles nichts an.

Zwei Ferkel waren schwächer als die anderen, sie kamen kaum auf die Beine. Ich half ihnen ans Gesäuge. Eins nuckelte gierig. Dem anderen rutschte die Zitze immer wieder aus dem Maul. »Das hat keinen Wert«, sagte der Bauer, packte das Ferkel an den Hinterbeinen und schlug es an die Wand. Das Neugeborene schrie. Dann war es still. Eine Blutspur lief die Wand herunter. »Plärrst jetzt gleich?«

»Nein.« Ich schluckte.

»Das ist die Natur«, sagte der Bauer.

»Ich weiß.«

»Man kann nicht wegen jedem Tier plärren.« Er reichte mir das tote Ferkel. »Geh und wirf es in die Güllegrube.« Schlaff baumelte das Junge, das kaum vier Stunden gelebt hatte, an seiner ausgestreckten Hand. Ich trug es fort.

Dann nahm ich eine Mistgabel. Das Stroh im Saustall war nass, Blut und Nachgeburt klebten in den Halmen. Der Bauer holte frisches Stroh, die Ferkel sollten es weich haben. Aus einer Kanne goss ich Käswasser in den Trog. Die Sau richtete sich auf und fraß schmatzend.

Der Bauer ging und kam kurz darauf mit einem Wärmestrahler zurück und befestigte ihn an einem Balken, hoch genug, dass die Sau nicht heranreichte. Er richtete ihn auf die Ferkel. »So kalt wie es ist, lassen wir ihn Tag und Nacht an. Die Ferkel brauchen Wärme.«

Ich nickte.

»Gib gut auf sie acht«, sagte der Bauer und stapfte aus dem Koben. Von draußen beugte er sich noch einmal übers Gatter, betrachtete die Sau und die neun Ferkel, die sich dicht an ihre Mutter drängten. »Ein guter Wurf, wenn sie alle am Leben bleiben.« Er nahm den Schubkarren. »Und gib Obacht, dass das Stalltor immer geschlossen ist. Die Ferkel dürfen keinen Zug bekommen.«

»Freilich.«

Als das Tor zufiel, hockte ich mich ins Stroh und betrachtete neugierig die Ferkel. Ich trennte zwei, die übereinanderkrabbelten, ohne dass eins von ihnen je auf die Beine kam. Ich nahm ein anderes, streichelte seine seidige Haut. Es schnüffelte an meinen Fingern, nuckelte daran. Seine blonden Wimpern klapperten, als es seine Äuglein öffnete und mich staunend ansah.

 

Im Herbst hatte der Bauer gepflügt. Tagelang war er neben der Stute und dem Wallach hergelaufen, die den Pflug über die Äcker gezogen hatten. Pflugschar und Sech hatten sich tief in den Boden gegraben, ihn gelockert und gelüftet, alte Wurzeln zerschnitten und Unkraut untergegraben, Disteln, wilde Kamille, Kornblumen, Mohnblumen, Schafgarbe. Pflügen war Sache der Männer, wie das Eggen und das Säen, denn mit Pflug, Egge und Sämaschine kannten sich die wenigsten Frauen aus.

Ein frisch gepflügter Acker sah immer schön aus.

Nun, im März, spannte der Bauer die Gäule vor die Egge und lief stundenlang hinterher, bückte sich und klaubte Steine auf, eggte jeden Flecken Acker mehrmals, bis die Erde so fein und eben war, dass er säen konnte. Er warf zwei Hände voll Getreide an den Rain, für die Vögel, dann zogen die Gäule die Sämaschine, einen breiten Kasten mit zwei kleinen Rädern vorn und zwei großen hinten, aus dem in gleichmäßigen Abständen Korn rann, durch Metalltüllen, die so lang waren, dass sie in die Erde ragten und das Korn gleichsam in den Boden gruben. Dabei durften die Gäule nicht aus der Spur kommen, sonst war an der Stelle später ein kahler Fleck, an dem nichts wuchs.

Unterdessen lief ich alle zwei, drei Stunden in den Saustall und sah nach den Ferkeln. Sie wuchsen schnell. Eines hatte die Sau in der Nacht nach der Geburt erdrückt, doch inzwischen waren sie schnell genug und konnten entwischen, wenn sich ihre Mutter ins Stroh legte. Ich füllte Wasser nach und gestampfte Kartoffeln in den Trog, den Ferkeln gab ich Mehl und verdünnte Milch. Sie stolperten und stiegen übereinander, sie schmatzten und schnauften und grunzten. Ich hockte mich daneben und schaute zu. Ein Ferkel kaute an meiner Schürze und ich hob es hoch. Seine Haut war nicht mehr so weich und wenn ich es streichelte, spürte ich schon feine Borsten. In ein paar Wochen würde der Bauer die Ferkel trennen, die Sauen in einen Koben, die Eber in einen anderen; die, die keine guten Zuchteber gaben, würden kastriert. Ein paar Ferkel würden wir aufziehen, die anderen verkaufen.

»Bist schon wieder hier?«

Ich zuckte zusammen. Licht blendete. Es zog kalt herein, als die Obermagd im Stalltor stand. »Mach das Tor zu. Die Ferkel dürfen keinen Zug bekommen.«

»Hat der Bauer dich zum Ferkelstreicheln geschickt?«

Ich setzte das Junge ins Stroh, stand auf. »Er hat gesagt, ich soll nach den Ferkeln sehen.« Das kleine Schwein quiekte und knabberte an meinem Schuh.

»Als gäb’s sonst nichts zu tun.« Die Obermagd schnaubte: »Geh den Hühnerstall misten. Und den Hof hast auch nicht gefegt. Hopp, hopp, wird’s bald?«

Mit einem Mal spürte ich eine heilige Wut.

Ich stieg aus dem Koben, lief vor, schob die Obermagd hinaus und schlug das Tor zu. Draußen baute ich mich vor ihr auf, sah ihr ins Gesicht, ohne Furcht. »Ich muss mir nichts vorwerfen lassen. Ich schaffe wie ein Knecht. Du lässt mich alle schweren und minderen Arbeiten verrichten, dafür bin ich dir immer recht. Wenn du neidisch bist, dass der Bauer inzwischen weiß, dass ich tüchtiger bin als du, ist’s deine eigene Schuld.«

Ich drehte mich um und lief ins Haus.

»Das wird dir noch leidtun!«

Laut schlug die Haustür hinter mir zu. Mein Herz klopfte, mein Kopf rauschte.

Am Abend, als ich nach dem Melken und Misten wieder nach den Ferkeln sah, stand der Bauer neben dem Saustall. »Du schaust aus, als wär der Teufel hinter dir her.« Er lachte. Dann wurde er ernst.

»Es hat Ärger gegeben mit der Obermagd«, sagte ich.

»Warum?«

Ich erzählte, was geschehen war. Er hörte zu, rieb sein Kinn.

»Bitte gib der Obermagd ihre Arbeit und mir meine, dass sie mich nicht mehr herumkommandieren kann.« Die Sauen schmatzten und ein Ferkel schnüffelte am Schwanz seiner Mutter, schnappte danach. Die Sau hob den Kopf und zuckte mit dem Hinterteil, das Ferkel kullerte durchs Stroh.

Der Bauer nickte.

Am Abend sagte ich den Ferkeln, den Gäulen und den Kühen gute Nacht und bespritzte sie mit geweihtem Wasser. Ich stieg die Treppe hinauf, betete und kroch unter meine Decke. Draußen pfiff der Wind durch die Bäume, irgendwo im Haus schlugen Zweige gegen eine Scheibe, und der Mond leuchtete hell in die Kammer. Als die Obermagd kam, zog sie ein Gesicht wie sieben Tage schlechtes Wetter.

 

In der Früh kam der Fuchs.

Im Hühnerstall lagen Federn im Stroh, als ich nach dem Melken die Hennen füttern wollte. Ich zählte rasch durch; drei Hennen fehlten. Manchmal lief eine fort, spazierte durch den Garten, pickte zwischen den Blumen, den Zwiebeln, den Obststauden im Garten der Bäuerin. Ich lief ums Haus, suchte überall. Doch die Hennen tauchten nicht wieder auf.

Der Bauer war wütend, doch er schimpfte nicht. Der Wald war nah und wir ließen die Hühner frei herumlaufen. »Da kann man nichts machen«, brummte er und stapfte in den Stall. Mit einer Kiste mit Ferkeln kam er zurück, lud sie aufs Fuhrwerk und spannte die Gäule ein.

»Dora, heut musst wieder auf den Jakob aufpassen.« Die Bäuerin steckte eine Haarnadel in ihren Dutt. »Wir fahren zum Markt.« Der Bub hockte in der Stube auf den Dielen und langte nach dem Spitz, der sich vor dem Kanapee zusammengerollt hatte.

»Wir werden schon zurechtkommen«, sagte ich und wischte mir die Hände ab.

»Ich schau dafür nach Schuhen.« Sie nahm ihre Tasche, zog eine Jacke über, winkte ihrem Buben und zog die Tür hinter sich zu. Der Jakob riss den schlafenden Spitz am Ohr. Jaulend sprang er auf, bellte. Der Bub erschrak und fing an zu plärren.

Ich hob ihn hoch und tröstete ihn.

Ich nahm den Jakob mit in die Küche, setzte ihn auf eine Decke auf den Boden, gab ihm einen Topf und einen Kochlöffel zum Spielen. Der Bub drosch auf den Topf ein. »Nicht so heftig, Jakob.« Er sah mich an – und drosch auf den Topf ein. Ich hätte gern mit ihm gespielt, doch es gab viel zu tun. Zuerst feuerte ich den Ofen, holte Reisig und Holz und füllte die Schublade unterm Herd. Ich holte Wasser vom Brunnen und kochte es. Ich öffnete den Schrank, stapelte Teller, Schüsseln, Becher und Tassen auf dem Tisch. Mit einer Bürste und Schmierseife schrubbte ich jedes Fach, während der Jakob auf allen vieren durch die Küche kroch. Am Sims richtete er sich auf, langte nach dem Mostkrug. Er war zu klein, um dranzureichen. Er deutete mit dem Finger in die Luft und krakeelte. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Jakob.«

Er schrie.

Ich hob ihn hoch, setzte ihn wieder auf die Decke und reichte ihm den Kochlöffel. Wütend drosch er auf die Fliesen. Aus einem Glas auf dem Tisch nahm ich eine Erbse, ließ sie langsam über den Boden rollen. Der Bub krabbelte hinterher. Der Spitz vor dem Kanapee gähnte und streckte sich. Der Jakob richtete sich auf, rief »Uuund!« und krabbelte hinüber in die Stube.

Ich räumte das Geschirr in den Schrank und dachte kurz an den Kaminkehrer, der bald wieder kam. Ich trug das schmutzige Wasser hinaus, setzte neues auf, kehrte den Boden. Ab und zu schaute ich in der Stube nach dem Buben, der auf den Dielen lag und den Spitz streichelte. Ich brachte ihm ein paar Bauklötze, dann kniete ich in der Ecke unterm Küchenfenster nieder und begann, den Boden zu schrubben.

Es krachte und der Jakob fing an zu plärren.

Ich lief in die Stube. Er lag zwischen den Bauklötzen, das Gesicht auf dem Boden, der Spitz stand daneben und leckte ihm die Hand. Ich hob den Buben hoch und setzte mich. Ich wischte ihm Tränen und Rotz aus dem Gesicht, sang Hoppe, hoppe, Reiter und ließ ihn auf meinen Knien wippen. Er zog die Nase hoch. Ich umarmte und wiegte ihn, bis er schwer und ruhig in meinen Armen lag. Im Hausgang hörte ich Schritte. Den Jakob auf dem Arm ging ich zur Tür.

»Bei uns ist heut der Metzger«, sagte die Magdalene. In den Händen hielt sie eine Schüssel mit Würsten. Der Spitz huschte hinaus.

»Komm herein.« Ein Schwall kalter Luft strömte mit der Magdalene in die Stube. Sie rieb sich die Hände, winkte dem Jakob, der scheu über meine Schulter guckte. Ich ging in die Küche, nahm die Kanne mit dem Malzkaffee, den die Bäuerin in der Früh aufgesetzt hatte, und stellte sie auf den Herd. »Der Bauer und die Bäuerin sind auf dem Markt.«

»Die Antonia auch.« Die Magdalene knöpfte ihre Jacke auf und hockte sich auf einen Schemel. Ihre Schürze war voller Flecken. Der Jakob steckte seinen Daumen in den Mund. Er war schwer und ich gab ihn der Magdalene. »So ein süßes Butzele.« Sie kitzelte ihn am Bauch. Der Bub schaute sie an und nuckelte dann noch heftiger an seinem Daumen. »Weißt …« Die Magdalene sprach plötzlich ganz leise, als könnte uns jemand hören. »Weißt, dass die Bäuerin schon ein Mädle geboren hatte, bevor der Jakob auf die Welt kam?«

Ich nickte.

»Heiliger Vater …«, seufzte sie und bekreuzigte sich. Ich nahm einen Lumpen und zog die Kanne vom Herd. Ich stellte Becher auf den Tisch, strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zog einen zweiten Schemel heran. Draußen blitzte ein schmaler Sonnenstrahl zwischen den Wolken hindurch.

Die Magdalene setzte den Jakob auf die Decke am Boden. »Die Bäuerin und der Bauer sind gute Leut«, sagte sie und griff nach dem Kochtopf. »Mit ihnen hast es gut getroffen.«

Ich nickte und nahm einen Apfel. »Wir essen gemeinsam, gehen zur Kirch und abends sitz ich mit der Maria beisammen und wir stricken oder flicken die Wäsche. Es ist fast wie daheim, als würd ich zur Familie gehören.«

»So was kannst vorher nie wissen.«

Ich zerteilte einen Apfel und reichte dem Jakob einen Spalt. »Ich bin zufrieden.«

Die Magdalene trank einen Schluck Kaffee. »Nur die Josefine ist eine Plage, gell?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sie ist eifersüchtig, weil du beim Bauern längst mehr giltst als sie.«

»Ich tu meine Arbeit und geh ihr aus dem Weg.« Ich schob der Magdalene ein Stück Apfel hin.

Sie biss hinein. »Ich hab sie in der Waschküche Kartoffeln dämpfen sehen, für die Sauen«, sagte sie, während sie kaute. »Sie hat ein Gesicht gemacht wie eine kranke Kuh.«

Ich lachte.

»Wer die einmal zum Weib kriegt …« Die Magdalene rollte mit den Augen, und ich dachte an das dunkelhaarige Mannsbild in der Kirche.

Am Nachmittag brachte mir die Bäuerin ein Paar schwarze Schuhe aus der Stadt mit. Ich gab ihr Geld, stieg nach oben in die Kammer und öffnete die Schranktür, hinter der meine Sachen lagen. Inzwischen besaß ich drei Kleider und drei Schürzen und Socken, die nicht gestopft waren. Ich hatte Wäsche gekauft, ein wenig Aussteuer. Ein Fahrrad. Und neue Schuhe für die Kirche.

Ich stellte sie vor mir auf den Boden und schlüpfte hinein. Sie saßen fest am Fuß. Sie hatten einen kleinen Absatz und Riemchen über dem Spann. Vorn an der Kuppe verlief eine Ziernaht. Das Leder glänzte und knirschte leise bei jedem Schritt.

 

Der Weizen fiel in dicken Büscheln und die Weiber stachen mit Heugabeln hinein, breiteten das Getreide in der Sonne aus. Am Ackerrain lief der Jakob hinter einer Katze her. Er stolperte, rappelte sich auf, lief weiter, lachte. Es war heiß, die Mücken schwirrten. Schwalben flogen tief. Wir mähten den dritten Tag.

»Hört der Juli mit Regen auf, geht leicht ein Teil der Ernte drauf«, murrte der Bauer, als er sein Gespann wendete. In der Früh hatte ich zum Herrgott gebetet, ihn um gutes Wetter gebeten. Doch am Horizont zogen Wolken auf.

Der Bauer ließ die Peitsche knallen. Die Gäule zogen, der Messerbalken fraß sich durchs Korn. Die Antonia und ich liefen nebenher und mähten mit der Sense. Die Halme piekten, Schweiß rann uns Rücken und Brust hinab, mein Kopftuch klebte. Das Licht war grau, die Hügel in der Ferne schienen dunkelblau. Wind raschelte in den Blättern der Weiden, der Apfelbäume.

Ein Knirschen. »Verflixt!« Der Bauer sprang von seinem Sitz. Er bückte sich, trat mit dem Fuß gegen den Messerbalken, zerrte an einer Distel, die zwischen die Schneiden geraten war und sich verkeilt hatte. Er zerrte und fluchte, hustete und spuckte. »Das verdammte Ding hat geschlampt!«

»Ist schon recht«, sagte die Bäuerin, ging mit der Heugabel dazwischen und löste Gras, Erde und Disteln.

Die Wolken schoben sich näher.

Die Magdalene legte ihre Heugabel beiseite, nahm eine Sense und begann ebenfalls von Hand zu mähen. Der Kaspar nahm die Heugabel und half, das Getreide auszubreiten. Die Alte wendete mit Geschick, bewegte sich wie ein junges Mädle. Die Bäuerin schaffte zügig und die Antonia und ich mähten immer schneller.

Der Bauer sah zum Horizont.

»Vesper gibt’s später!«, rief er, als der Himmel am Nachmittag zuzog, die Sonne verschwand. Kühler Wind kam auf. Er ließ die Peitsche knallen, die Stute und der Wallach liefen, der Messerbalken fraß sich ruckelnd durch die hohen Halme, und alle anderen liefen hinterher und nebenher und mähten von Hand und wendeten das Korn.

Der Wind frischte auf. Die Luft war abgekühlt. Noch immer schwitzte ich, doch der Schweiß stand mir kalt auf der Haut. Das Licht war grau und gelb und in der Ferne grollte Donner. Der Weizen wogte, die Halme raschelten, in den Bäumen rauschten die Blätter.

Ein Blitz zuckte.

Und plötzlich riss der Himmel auf. Die Bäuerin schrie und rannte zu ihrem Buben. Die Stute scheute, der Bauer versuchte, sie zu beruhigen, die Antonia zog den Kaspar mit, die beiden krochen unter den Wagen, die Magdalene auch, ich auch. Die Bäuerin suchte mit ihrem Kind Schutz unter einem Weidenbusch. Der Spitz kläffte wild, sein nasses Fell hing herab, er sah aus wie ein Gerippe. Der Kaspar zitterte, und der Jakob weinte. Der Bauer spannte die Gäule aus, damit sie nicht mit dem Gespannmäher durchgingen und ich kroch unterm Wagen hervor und half, den Messerbalken hochzuklappen.

Eine Sintflut ergoss sich über dem Tal.

Donner grollte, der Himmel war schwarz wie die Hölle. Blitze zuckten und ich schloss die Augen, so grell war ihr Licht. Wind peitschte und fegte durch den Weizen, bog die Halme zu Boden, fuhr in die Bäume, riss an den Blättern, schlug Äpfel, Birnen, Zwetschgen von den Zweigen. Er riss an den Kartoffelstauden auf den Nachbaräckern, Regen schwemmte die Erde fort. Hagelkörner, groß wie Taubeneier, droschen herab, sie schmerzten auf der Haut, schlugen auf die Äcker, die Kartoffeln, das Getreide, auf die Ernte eines Sommers, auf die Arbeit eines ganzen Jahres.

Die Bäuerin weinte. Der Bauer bekreuzigte sich. »Was tun wir jetzt?«

»Das ist höhere Macht«, flüsterte die Antonia.

»Plärren nutzt nichts«, sagte die Magdalene und ich drückte die Hand der Bäuerin, die unablässig Gebete murmelte angesichts dieses Unheils.

 

Am Nikolausmorgen kam der Bauer aus dem Stall. Sein spitzes Kinn wirkte spitzer als sonst, unter seinen Augen lagen Schatten. »Sechsundzwanzig«, sagte er.

»Sechsundzwanzig?«, fragte ich. »Die Sau hat sechsundzwanzig Ferkel geboren?«

Er nickte und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinab. »Wie viele leben?«

»Vierundzwanzig. Ein paar Junge hab ich zu der Sau getan, die letzte Woche geferkelt hat.« Seine Schultern hingen herab, Bartstoppeln sprossen auf seinen Wangen. An seiner Jacke klebte Blut. »Komm, schau sie dir an.«

Unsere Schritte knirschten auf dem Rauhreif. Die Luft klirrte vor Kälte, der Himmel hing voller Wolken. Bald würde es schneien. Der Bauer öffnete das Stalltor, es roch nach Gülle, nach nassem Stroh und Blut. Matt und riesig lag die Sau in ihrem Koben, eine Schar winziger Ferkel wimmelte um sie herum. Noch nie hatte ich so viele Ferkel auf einem Haufen gesehen. »Du weißt, was zu tun ist, gell?«

»Freilich.« Ich öffnete das Gatter und richtete den Wärmestrahler auf die Jungen. Ich holte eine Kanne Käswasser und fütterte die Sau. Ich holte frisches Stroh und mistete aus.

»Sag, Dora …« Der Bauer räusperte sich. »Bleibst noch ein Jahr?«

Ich richtete mich auf und trat einen Schritt zurück. Ich schlug nach den Fliegen, wischte mir die Hände an der Schürze ab. »Wenn du mich behältst.«

»Freilich, bist ein tüchtiges Mädle.«

»Aber …« Ich schaute in sein müdes, knochiges Gesicht.

»Ja?«

Ich streckte die Schultern. Ich reichte ihm grad bis zur Brust, doch ich hatte keine Furcht. »Ich bleib, wenn die Obermagd geht.«

Einen Moment sagte der Bauer nichts. Rieb sich bloß sein Kinn. Dann nickte er und ging.

 

Im Februar an Mariä Lichtmess ging die Obermagd. »Ich heirate«, sagte sie, obwohl Dienstboten, die kündigten, ihre Nikolausgeschenke und die Gaben zu Weihnachten und zum Namenstag zurückgeben mussten, erlaubte die Bäuerin der Josefine, ihre zu behalten.

Im März half ich dem Bauern beim Eggen. Im April säten wir und ich setzte Kartoffeln und Kohlrabi. Im Mai pflanzte ich Gurken, Rettich, Erbsen und Bohnen, im Juni mähten wir Heu, und der Kaspar hat wieder geschafft wie ein Großer. Ich erntete Erdbeeren und die ersten Kirschen, im Juli mähten wir Öhmd, im August das Getreide. Ich pflückte Äpfel, Birnen, Johannisbeeren und Zwetschgen, holte Kohlrabi aus der Erde und klaubte Kartoffeln. Mit der Bäuerin weckte und kochte ich ein, während der Bauer pflügte und Wintergerste säte. Ich zog Ferkel auf, machte Futter für die Sauen, und alle Tage brachte ich die Milch zur Käserei. Der Futscher-Bauer ließ mich manches machen und ich lernte viel, vor allem über die Sauen. Doch ich wollte mehr lernen, auf einem größeren Hof.

An einem Sonntag im Oktober, als ich heimfuhr in die Viehweid, lief ich dem Geislinger-Bauern über den Weg. »Mädle, willst nicht zu mir kommen?«

»Ich bin bei einem guten Bauern«, antwortete ich. »Ich kann nicht klagen.«

»Bei mir hast’s auch gut.« Der Geislinger-Bauer lächelte. Er war ein stattliches Mannsbild und Bürgermeister von Herlazhofen. »Überleg’s dir. Mein Hof ist groß, siebzig Morgen Land, dreißig Stück Vieh.« Er zog eine goldene Uhr aus seiner Westentasche, klappte sie auf. »Ich tät dir auch mehr bezahlen.«

»Wie viel denn?« Ein Bauer mit dreißig Stück Vieh war schon fast ein reicher Mann.

Er überlegte einen Moment. »Dreißig Reichsmark.« Er musterte mich, klappte die Uhr wieder zu und ließ sie in die Tasche seiner Weste gleiten. »Reichlich Essen gibt’s allemal.«

»Ich überleg’s mir.«

Als der Futscher-Bauer am Nikolaustag 1938 fragte: »Dora, bleibst noch ein Jahr?«, zögerte ich. Vor uns lagen die verschneiten Hügel und in der Ferne ragte die Kirche von Ottmannshofen zwischen den Schindeldächern der Häuser und Höfe hervor. Der Spitz kläffte und eine Sau quiekte.

Ich schüttelte den Kopf. »Es war eine schöne Zeit, doch ich geh.«