Hallo, Emma.
Sich an den Rückenlehnen festhaltend ist Emma nach vorn gekommen, um ihre Decke zu holen, die zweite Decke, um es dahinten etwas wärmer zu haben. Man sollte aber in einem solchen Geholper und Geschlenker nicht versuchen, über schlafende dicke Amerikaner hinweg nach einer Decke zu angeln. Es endet damit, dass man gegen seinen Bauch geworfen wird. Peinlicherweise, Adverb korrekt.
Bill ist wach. Er ist mit Mühe aufgestanden, um sie auf den Mittelsitz durchzulassen. Mittelsitz, damit er nicht so laut sprechen müsse. Er werde flüstern, er wolle nicht, dass der Junge da auf der anderen Seite des Gangs mithöre, der hat nicht nur Martha beleidigt, der arbeitet auch heimlich gegen mich, sagte Bill, wahrscheinlich auch jetzt, obwohl er tut, als ob er schlafe.
Emma sagt nichts. Sie sitzt mit der Decke auf den Beinen und in Bills dunkelblauem Kapuzenpullover über der schwarzen Strickjacke auf dem Mittelsitz, 63j, von der plötzlichen Wärme benommen.
Bill sah, dass sie vor Kälte zitterte, Ihre Jacke ist zu dünn, warten Sie, ich habe hier was für Sie, und holte den Pullover unter dem Sitz hervor.
Jetzt prüft er, wie viel von Martha noch in seinem Glas ist, drei Finger, davon das meiste Eiswasser, verflucht nochmal, aber also, wissen Sie, ich bin in Grand Forks, North Dakota, aufgewachsen.
Emma sagt nichts.
Bill sagt, in einem Haus, das uns mein Großvater finanziert hat, Joe M. Kovacsics. Ich hoffe, dass Sie sich den Namen gemerkt haben. Und nicht vergessen, dass er Uhrmacher und Varietékünstler war. Es ist immer noch die sechste Stunde, weil die sechste Stunde ist lang, die Karawane steht verloren am toten Punkt der Nacht, wo die Yaks hingelaufen sind, weiß keiner, sieht keiner, hört keiner, obwohl die alle Schellen tragen, was, Martha, ich sage nicht einmal, lass mich nicht so reden, doch, lass mich so reden, wer in der sechsten Stunde nicht zwei Geschichten erzählt, ist verloren. Und Musik würde auch dazugehören, haben wir gesagt, so etwas wie ein Guqin, den du von China nach Hause geschleppt hast und jetzt wieder in Richtung China schleppst, weil du, verwöhnter kleiner Italiener im rubinbestickten Wams, während der Rast wünschst, dass man dir aufspiele, die Klänge sollen deinen Ärger darüber vertreiben, dass ihr schon einen Monat auf dem Treck nach Süden seid, wegen des verdammten Hicsuntlands, und noch immer ist der Indische Ozean nicht in Sicht, aber hier am toten Punkt der Nacht kannst du den Guqin vergessen. Vergessen wir’s halt, was, Martha, es geht auch ohne Musik. Sehe auch so klar. Sehe klar, wie klar mein Vater gesehen hat. Wissen Sie, mein sterbender Vater in Vietnam hat mir einen Brief geschrieben. Habe ich schon erzählt, was. Habe gesagt, dass ich den Brief immer in diesem Täschchen hier mit mir herumtrage, was. Habe erzählt, dass mein Vater vom Mordskrach mit Rosie, meiner Mutter, schreibt, was.
Was.
Emma erinnert sich nicht an den Mordskrach.
Wieso nicht, sagt Bill. Wozu erzähle ich dann. Denken Sie bloß nicht, das alles sei belangloses Flugzeuggeplauder, dummerweise hätten Sie einen Mitreisenden mit Redezwang erwischt, vor dem Sie zwischendurch davonlaufen müssen. Aber Sie sind wiedergekommen. Ja, ich weiß, weil Sie Ihre Decke holen wollten. Aber Sie sind wiedergekommen. Hören Sie also gut zu und gehen Sie nicht weg, verdammt nochmal, im stockdunklen Dunkel darf man sich nirgendwohin bewegen, weil es keine Richtungen gibt, was meinen Sie, warum die Karawane stillsteht, keiner macht in keine Richtung keinen Schritt, weil man sich nicht bewegen soll, geschweige denn mit nahezu Mach eins in Richtung eines vermuteten Westens donnern. Westen, dass ich nicht lache. Könnte genauso gut der Erdmittelpunkt sein, wir donnern vielleicht in Richtung des Erdmittelpunkts, seien Sie also froh, dass Bill das Erzählen übernimmt, das Herstellen von Koordinaten. Das sind die einzigen, die wir haben, auch wenn die Piloten da vorn vermutlich auf irgendwelche idiotischen Bildschirme starren. Aber falls Sie in Zurick landen wollen, müssen Sie sich an Bills Koordinaten halten, Sie haben keine Wahl, außer, Sie würden selbst erzählen, aber Sie wollen ja nicht. Sie denken, Ihre Sachen gehen einen Fremden nichts an. Sie sind höllisch diskret. Die Schweizer sind höllisch diskret. Arbeiten diskret auf einer indiskreten Bank, dann fliegen sie nach Thailand, um sich zu erholen, obwohl Sie nicht erholt aussehen, wenn Sie mich fragen. Na egal, hören Sie gut zu, Big Bill erzählt Ihnen vom sterbenden Brief seines Vaters, vom Brief seines Vaters, vom Brief seines sterbenden Vaters, oder was. Was ist los mit mir, Martha, tu das nicht. Verdammt nochmal, das ist nur, weil ich mich jedes Mal aufrege, wenn ich an den Mordskrach denke, von dem mein sterbender Vater schreibt. Der liegt in seiner dunklen Urwaldhütte und erinnert sich an diesen Scheiß statt an etwas Nettes. Lief ihm doch entgegen, wenn ich ihn vom Baum aus die Straße heraufkommen sah. Ich frage lieber nicht, ob Sie sich erinnern, dass bei unserem Haus eine Espe stand.
Emma nickt.
Danke. Wenn ich meinen Vater von da oben sah, kletterte ich hinunter und lief ihm entgegen. Hätte er sich doch daran erinnern können. Aber nein, Ende August nach Ausbruch des Vietnamkriegs haben Rosie und er diesen Mordskrach, daran erinnert er sich. Hat sich ja auch deswegen freiwillig gemeldet. Ich war dabei, wie er hinauslief, um sich melden zu gehen. Die Mückengittertür hing nachher schief, so hatte er sie zugeknallt. Rosie hat ihn in den Krieg getrieben, verdammt nochmal. Sie hat auch Joey verflucht, davon schreibt er auch in dem Brief, sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht gehört, ich bin sicher, wir sind sicher, was, Martha, dass ich das erzählt habe. Sie hat unsichtbare Mauern um Joey errichtet, weil sie schon ahnte, dass ich ihr davonlaufen würde. So war Rosie, und mein Vater wollte mich vor ihr warnen. Statt in seiner letzten Stunde an nette Dinge denken zu können. Das regt mich jedes Mal auf, dass er in seinen letzten Stunden so eine falsche Zuversicht hat, er würde nach Hause kommen und Rosies Fluch brechen. Also, mein Vater liegt mit Wundfieber in seiner Hütte und zermartert sich sein wahrscheinlich schon benebeltes Hirn, während er dabei ist, an Rosies Fluch zu sterben. Sage ich mal so. Rosie war ja eine, die dauernd daran arbeitete, ihren sogenannten Lieben Schaden zuzufügen. Direkt und indirekt, aber natürlich schon nicht so, dass sie im Basement unten Voodoo machte. Im Basement unten standen die Schränke mit den abgelegten Kleidern und anderem Zeug, weil sie sich nie entschließen konnte, etwas wegzugeben, und der Wäschekorb und ein kaputtes Dreirad und zwei Betten, für wenn die verfluchten Großeltern Fish zu Besuch kamen, der alte Joe Kovacsics seinerseits hätte da nie übernachtet, er hasste Räume mit wenig Licht, unser Basement hatte zwar Lukenfenster, aber für die hatte Rosie schwere Vorhänge genäht.
Emma wird auf einmal heiß in dem Kapuzenpullover. Was ist los mit mir. Soll ich ihn ausziehen.
Behalten Sie ihn an und hören Sie zu, verdammt nochmal, als Schweizerin können Sie da etwas lernen. Kenne von der Schweiz nur den Flughafen Zurick, aber ich bin sicher, dass ihr eine Menge zu lernen habt, in euren abgelegenen Bergen.
Ich bin keine Schweizerin. Ich arbeite nicht auf einer Bank. Ich bin Schriftstellerin.
Was. Schriftstellerin. Bill verschlägt es die Sprache.
Ausgerechnet.
Bill ringt nach Luft.
Ausgerechnet neben so einer muss ich sitzen, gottverflucht nochmal. Passen Sie mal auf, sagt er schwer atmend, da hat sich Bill verkalkuliert. Hütet sich vor dem kleinen Arschloch mit seinem iPad und sitzt neben einer, die seine Geschichten aufsaugt und dann abdrucken wird. Ich kenne euch Schriftsteller. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ich gegen euch vorgehen müsste. Tut mir leid, Emma, aber so ist das Leben. Und jetzt verzieht sich Bill anderswohin, dahinten haben Sie ja auch irgendwo gesessen, den Sitz nehme ich mir. Das war’s. Goodbye. Den Pullover können Sie behalten, den schenke ich Ihnen, draußen ist es sehr kalt.
Bill versucht aufzustehen. Kann nicht. Er flucht. Er versucht wieder aufzustehen. Kann nicht. Er verschüttet whisky. Er weint.
Tatsächlich, er weint. Nicht mehr nur peinlich, sondern auch abstoßend. Sitzt da und schluchzt, sein Shirt ist nass vom verschütteten Drink. Emma löst ihren Sitzgurt, klappt die Armlehne hoch, verschiebt sich auf ihren Fenstersitz. Draußen stockdunkel, die pulsierende Nebelhelle vom Positionslicht. Der Flügel vibriert im Takt zu dem Geholper und Geschlenker. Emma sieht aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Der Junge. Er ist aufgestanden, er sagt etwas zu Bill.
I’ll get you a glass of water.
No, bring me Martha.
Bill sitzt da und starrt vor sich hin und sagt, was bin ich für ein Arschloch.
Der Junge kommt wieder, sich mit den Ellenbogen links und rechts an den Rückenlehnen abstützend, mit zwei Gläsern in den Händen. Ein Glas Wasser, ein Glas Whisky.
Er sagt, ich bin gegen den Alkoholkonsum, mein Vater ist abstinent, aber eine alte Freundin meiner Mutter hat auch Ihr Problem, und sie kann auch nicht so plötzlich auf Entzug. Aber trinken Sie unbedingt das Glas Wasser dazu.
Sie reden nicht mehr. Bill hat das wasser getrunken. Er sitzt mit dem drink in der hand. Emma schaut nicht mehr zum fenster hinaus. Meiner meinung nach wartet sie darauf dass er etwas sagt. Sie steht auf ihn. Sie hat es ohne ihn nicht ausgehalten.
Nichts, denkt Emma, liegt mir ferner, als Bills Geschichten zu verwenden. Er müsste nicht einmal davonlaufen. Wenn er könnte. Er kann ja nicht. Was werden sie mit ihm am Ende der Reise tun. Sie werden ihn da herauswuchten müssen. Das heißt also, dass wir bis Zürich hier blockiert sind. Das geht doch nicht. Irgendwann muss man doch wieder aufs WC. Über ihn hinwegsteigen geht auch nicht, das heißt, es ginge schon, aber Emma muss zu oft hören, dass solche Turnübungen nicht zu ihrem Alter passen. Und nicht allen Leuten, die so konventionell denken, kann man ausweichen.
Bald gehe ich weg von hier, sagt Bill. Sobald ich kann. Diese verfluchten Schriftsteller.
Über der Rückenlehne vor Emma erscheint Walters Gesicht.
Lassen Sie das nicht auf sich sitzen, Frau Dél.
Er seinerseits habe vor den Schriftstellern den größten Respekt und freue sich, sie kennengelernt zu haben. Er befürchte auch nicht, sie würde die privaten Dinge, die er ihr erzählte, irgendwo verwenden. Er sei ja nicht so unbeleckt anzunehmen, dass Schriftsteller gleich alles vertexten, jedenfalls hoffe er, das den Schriftstellern und der Literatur nicht unterstellen zu müssen. Er bitte aber um Entschuldigung, es sei anstrengend, so verkehrt nach hinten zu sprechen, er wolle sich lieber wieder auf die Suche nach seiner Visitenkarte machen, die er noch nicht gefunden habe, obwohl er geschworen hätte, sie ins Seitenfach seiner Reisetasche gesteckt zu haben.
What a language, sagt Bill, wie reden diese Schweizer.
Er ist kein Schweizer, sagt Emma.
Auf einmal ist keiner mehr ein Schweizer, sagt Bill. Vorhin waren sie noch Schweizer, jetzt sind sie keine Schweizer mehr. Aber das ist Big Bill vollkommen egal. Er hält von jetzt an die Klappe und wird von hier weggehen, sobald er kann, Schweizer oder nicht Schweizer.
Bill ist wütend. Er sagt nichts mehr. Emma ist schriftstellerin. Hoffentlich postet sie nicht auch bills geschichten. Ich werde aber schneller sein. Poste meine texte gleich nach der landung in zurich. Das flugzeug schüttelt. Aber die japaner mit dem chick schlafen mit augenmasken.
So holpern wir gute hundert Kilometer dahin. Das Geratter von der losen Klappe, oder was immer es war, hört mit einem Mal auf. Bill hebt den Kopf und nimmt einen Schluck von Martha. Er sieht Stefan zurückkommen, kreidebleich, hinter ihm Michael. Sie halten sich an den Rückenlehnen fest.
Das kommt nicht gut, sagt Bill, ein verdammtes Gelaufe mitten in der Nacht, und was mache ich. Ich halte die Klappe, weil da ist diese Schriftstellerin. Wir verlieren die zweite Geschichte der sechsten Stunde. Das kommt nicht gut. Wenn auf dem toten Punkt der Nacht plötzlich glühende Teile vom Himmel fallen werden, wird es die ganzen Pferde, Maulesel und Dromedare auseinandersprengen. Du in deinem rubinbestickten Wams wirst glitzern in diesem Licht. Bill wird als Letztes an den alten Joe denken. Joe M. Kovacsics. Seinen Großvater. Uhrmacher und Varietékünstler aus der Slowakei. Er hat das Haus in Grand Forks, North Dakota, gebaut. Und das alles auf dem toten Punkt der Nacht, verdammt nochmal. Es fehlt die zweite Geschichte der sechsten Stunde, in welcher der junge Jozef Milos Kovacsics in Amerika ankommt und trotz seines schlechten Arms Anstellung als Gemüsestapler findet. Streifschuss, was, Martha. Der Mann hat ja zwei Kriegsjahre mitgemacht. Erster Weltkrieg, neunzehnvierzehn bis achtzehn. Das sage ich für jene, die im Dunkel der Nacht unter einer Decke mittippen und meinen, Bill merke es nicht. Aber Bill wird schon Mittel haben, die Posts zu stoppen.
Bill will mich provozieren. Tue so als ob ich schlafe.
Das wäre auf dem toten Punkt der Nacht die zweite Geschichte, verdammt nochmal. In welcher Großvater in Philadelphia Gemüsestapler wird. Er kann den rechten Arm knapp auf Schulterhöhe heben, wird aber trotzdem Gemüsestapler. Er stapelt auf einem Markt Kisten mit dem nicht verkauften Gemüse aufeinander, holt sie am nächsten Morgen um fünf wieder herunter. Das macht er drei Jahre lang. Wohnt in einem Gemeinschaftsheim, isst nur einmal am Tag, investiert den größten Teil seines Hungerlohns in eine Uhrmacherlehre. Geht in der Freizeit bei einem Uhrmacher in die Lehre, einem gewissen Bernie Lazar. Am Ende lässt er das Gemüsestapeln sein und macht eine Werkstatt für Uhrenreparaturen auf. Die ist so klein, dass der Tisch über die ganze Breite des Ladens geht. Damit Joe Licht hat, steht der Tisch ganz vorn im Laden, er muss unter ihm hindurchkriechen, wenn er hineinwill. Die Kunden stehen draußen. Für die Miete hat er beim Lazar ein Darlehen aufgenommen. Den rechten Arm kann er nicht mehr bewegen, er muss ihn zum Arbeiten mit der linken Hand auf den Tisch heben. Er arbeitet den ganzen Tag, und wenn er nichts zum Reparieren hat, stellt er Spieldosen her. Hat er sich selbst beigebracht, das Herstellen von Spieldosen. Solche mit kleinen Figuren obendrauf, die macht auch er. Meistens Zirkusszenen, der Löwe, der durch den Reifen springt, und solches. Und mit der Zeit auch Szenen aus dem Varieté, mit Sängerinnen und Stepptänzern und dressierten Hunden und allem. Der Mann hat einen Hang zum Varieté, das kommt jetzt heraus, während er an seinen Spieldosen schnitzt, die gar nicht schlecht Absatz finden. Er kann beginnen, dem Lazar das Darlehen zurückzuzahlen. Und er beginnt zu überlegen, wie er zum Varieté könnte. Aber was kann er schon machen mit seinem Arm. Alles, was mit Bewegung zu tun hat, fällt weg. Singen kann er auch nicht. Am liebsten würde er zaubern, aber dazu braucht’s ja auch zwei Arme. Was bleibt ihm also. Na egal, lassen wir’s, Bill hält ja die Klappe. Der Junge lehnt sich schweigend über den Gang und hält Bill das iPad hin.
Tiernummer?
Bill starrt auf das iPad, schielt zum Jungen hin. Was ist, sagt er, willst du mich provozieren. Ich lasse mich nicht provozieren, aber weil du mir Martha gebracht hast, sage ich dir, dass Tiernummer stimmt. Hundenummer. Joe schafft sich einen Hund an, kann es sich knapp leisten, den durchzufüttern. Er muss ja auch immer mal ein paar Dollars nach Hause schicken, weil die von dort dauernd Druck machen, was ist, bist du noch nicht Millionär, und das alles. Der Rest interessiert sie nicht, wie es ihm geht, eventuell sogar, wie es seinem Arm geht, das ist denen egal. Als er schreibt, er stelle Spieldosen her, schreibt ihm Onkel Drahomír zurück, die echten, wahren Spieldosen gebe es nur bei ihnen in der Zilina, das amerikanische Zeug sei sicher nichts wert. Joe verzichtet also darauf, ihnen etwas von seinen Varietéplänen zu schreiben. Ist auch nicht der einzige Verzicht. Ich meine, er hat ihnen auch nie geschrieben, bei wem genau er in der Uhrmacherlehre ist. Vom Hund schreibt er auch nichts, die mögen Hunde nicht. Joe mag sie auch nicht besonders, hatte ja nie Gelegenheit, welche kennenzulernen, außerdem spart er auf einen Affen. Der Hund ist nur eine Notlösung, meint er, eigentlich schwebt ihm eine Affennummer vor, aber dafür fehlen ihm noch die Mittel. Was machen die Japaner hinter uns, wirf mal einen Blick nach hinten.
Sie schlafen
Bill schaut auf das iPad und sagt, ich verstehe, du willst die Fortsetzung der zweiten Geschichte der sechsten Stunde hören, in welcher Joe den Hund dressiert und sich auch herausstellt, wie der Hund heißt. Na?
Martha
Gut, sagt Bill. Der Hund hieß Martha. Ja, Bill hat seine lieben Drinks nach Großvaters Hund benannt. Was, Martha. Das wäre die Geschichte am toten Punkt der Nacht, in welcher von Großvater und Urmartha erzählt wird. Wir würden die beiden in verschiedenen Situationen sehen. Joe beim Feilschen um eine gebrauchte Hundepeitsche. Martha über Nacht angebunden in der winzigen Werkstatt, Joe kann sie ja nicht in sein Gemeinschaftsheim mitnehmen. Joe in der Bibliothek, wo er über Hundedressur nachliest. Martha vor der Bibliothek an einem Laternenpfahl angebunden, wo sie von einem Pferd getreten wird. Joe hat ja keine Ahnung, wie man mit einem Hund umgeht. Und keine Ahnung, wer Martha ist. Noch keine Ahnung. Er hat es dann schon begriffen. Etwas später stehen sie auf der Bühne eines Vorstadtvarietés. Martha macht nicht nur die üblichen Tricks, sondern nimmt auch Befehle aus dem Publikum entgegen. Martha versteht alles, die weiß schon im Voraus, was man von ihr will. Fast könnte man sagen, dass sie Gedanken lesen kann. Hatte Joe gemerkt, als er sie zu dressieren begann, mit Hundepeitsche und allem. Natürlich konnte man von ihr nichts Unmögliches verlangen, aber alles, was für einen Hund machbar ist, und noch einiges mehr, das konnte sie von sich aus. Das war ein Erfolg. Joe hat jetzt schon eine Einzimmerwohnung, zusammen mit Martha. Er sitzt am Tisch und zählt die Einnahmen. Er schiebt die letzte Rate für den Lazar auf eine Seite. Vergiss nicht, dass er das Geldzählen und Auf-die-Seite-Schieben mit der linken Hand macht, die rechte hebt er nur zum Arbeiten auf den Tisch. Er arbeitet nach wie vor auch als Uhrmacher. Auf den Spieldosen, auch die stellt er noch her, erscheint immer öfter auch Martha, kannst es dir ja denken. Habe so eine Dose immer bei mir, nicht hier, sondern im eingecheckten Gepäck, weiß Gott, was die bei der Handgepäckkontrolle zu dem Walzenmechanismus sagen würden. Es ging also aufwärts. Joe und Martha tingeln nicht mehr nur durch Vorstadtvarietés oder Kinos, wo sie im Vorprogramm auftreten, die sind jetzt auch schon in besseren Lokalen beschäftigt. Was sie nicht hindert, auch mal auf dem Jahrmarkt aufzutreten, sie sind sich nicht zu vornehm dafür, weil es da gutes Geld gibt. Allerdings mag Martha den Tanzbären nicht. Hat Großvater immer so erzählt, ich musste den Jahrmarkt wieder aufgeben, weil Martha den Tanzbären nicht mochte. Aber nicht nur deswegen. Das weiß ich von meinem Vater, hat der alte Joe selbst nie erzählt, wie er wegen seines Arms verhöhnt wurde. Irgendwie konnte er den auf der Bühne besser verstecken, aber auf dem Jahrmarkt merkten es die Leute gleich. Einmal wurde er sogar mit Äpfeln beworfen. Da hatte er die Nase voll. Und dann hatten er und Martha auch diese Anstellung in einem Varieté für eine ganze Wintersaison. Kurz vor Weihnachten stehen sie in einer mit einem Kanonenofen geheizten Künstlergarderobe, und da kommt der verfluchte Petomane herein. Weißt du, was das ist.
Nein
Ein Furzkünstler. Einer, der Melodien furzen kann. Der furzte den Yankee Doodle und saisonbedingt auch Stille Nacht. Damit trat der auf. Wir wissen auch, wie er aussah. Klein, glatzköpfig, um die fünfundvierzig. Denk nicht, es spiele keine Rolle, wie der aussah. Leider spielt es eine Rolle, dass der klein und ungefähr doppelt so alt war wie der große, dünne, aber starke, vom Gemüsestapeln starke, Joe. Weil es Joe nur zu leichtfiel, ihn zusammenzuschlagen. Wehe, du schreibst das auf. Ist zwar längst verjährt, aber ich will nicht, dass du es aufschreibst. Hör zu. Fortsetzung der zweiten Geschichte der sechsten Stunde, in welcher dargelegt wird, warum Joe den Petomanen zusammenschlug. Der war eben geladen. Der Petomane, meine ich. Der wurde während seiner Auftritte immer mal ausgelacht, außerdem war ein Pfeifkünstler mit auf dem Programm, der konnte schöner pfeifen als sonst jemand, Opernarien und alles, was man wollte, gegen den hatte der Petomane einen schweren Stand. War auch keine gute Idee, die beiden Nummern im selben Programm, aber wir könnten nur mit Mühe in die Programmgestaltung eines Varietés vor gut neunzig Jahren dreinreden, was, Martha. Ja, eben, Martha. Der Petomane kommt geladen von seinem Auftritt zurück, sieht sich Martha gegenüber, beginnt ein Geschrei, dreckiger Köter in der Garderobe und solche Dinge, und überhaupt sollte man Krüppel nicht auftreten lassen. Da streckt ihn Joe mit seinem Gemüsestapelarm zu Boden. Der Mann bleibt liegen, er hat sich beim Fallen am Kanonenofen angeschlagen. Jemand schreit schon nach der Polizei. Joe sagte später, ihm wäre es gleich gewesen, ins Gefängnis zu kommen, aber man hätte ihn von Martha getrennt. So sagte es der alte Joe. Die beiden müssen untertauchen. Kommt wieder Bernie Lazar ins Spiel. Der versteckt Joe und Martha in seinem Basement. Ich habe mal gesagt, dass Joe dunkle Räume hasste. Deswegen. Bernies Basement hatte nicht einmal Luken. War mehr Keller als Basement, in einem Stadthaus. Als Rosie, meine Mutter, die Geschichte hörte, ein einziges Mal hat auch sie sie gehört, von meinem Vater, sagte sie, Joe hätte die gerechte Strafe für seine abscheuliche Tat auf sich nehmen müssen. Na, Joe wusste schon, warum er nie etwas erzählte, wenn er bei uns war. Der erzählte nur, wenn wir draußen herumspazierten. Davon könnte ich erzählen, wenn wir den toten Punkt der Nacht hinter uns hätten. Ist aber nicht gesagt, dass wir ihn je hinter uns haben werden. Die Karawane steht still, nicht einmal das weiße Fell des großen Maremmenhundes, den du, obwohl du Schiss vor ihm hast, sicherheitshalber mitschleppst, reflektiert irgendein Licht. Da ist kein Licht. Du wagst in deinen türkischen Pantöffelchen keinen Schritt zu machen, nicht nur könntest du mit dem Maremmenhund zusammenstoßen, sondern auch mit dem Tanzbären. Ja, seit dreiunddreißig Grad Nord, vierundvierzig Grad Ost habt auch ihr einen Tanzbären dabei, hat euch irgendwer geschenkt, hast ihn annehmen müssen. Hast ja auch einen Augenblick daran gedacht, mit Hilfe des Bären das Hicsuntland doch noch zu durchqueren, der könnte die Löwen abschrecken, dachtest du, aber dein livländischer Diener hat dir das ohne Mühe ausgeredet, du selbst glaubtest ja auch nicht wirklich daran. Es ist die sechste Stunde der Nacht, von irgendwoher hörst du leise Töne, eine Art mechanischer Musik, und eine ungeheure Wehmut ergreift dich, so war das Leben, das war das Leben, schon vorbei, bevor es richtig anfängt, das denkst du in der Tiefe der Nacht, aus der ihr vielleicht nicht herauskommen werdet, und wir auch nicht, verdammt nochmal. Aber wenn ich schon dabei bin, erzähle ich dir den größten Fehler in Joes Leben. Nein, nicht das, dass er den Petomanen zusammengeschlagen hat. Sein größter Fehler war, dass er Bernie Lazars Tochter heiratete. Großmutter Amy. Sehr nette Person, aber das Ganze fing schon damit an, dass Bernie den Joe aus dem Basement zu sich rief und ihm sagte, du willst meine Tochter heiraten, gut, du sollst meine Tochter heiraten, aber wisse auch, dass sie schwanger ist, wir wissen nicht, von wem. So war das. Falls du die Fortsetzung der zweiten Geschichte der sechsten Stunde hören willst, ist das die Fortsetzung, in welcher wir Joe und die schwangere Amy auf der Flucht sehen. Fehlt nur der Esel.
Fehlt nicht. Joe ist der esel.
Der Junge hält Bill das iPad hin, Bill sagt, pass auf, was du schreibst, pass bloß auf. Joe ist nicht der Esel. Das Ganze war ein gutes Geschäft. Bernie gab seiner Tochter eine anständige Mitgift, obendrein kaufte er ihnen ein Haus in Grand Forks, North Dakota. Dahin fliehen sie, schön weit weg von Philadelphia, wo der Petomane vielleicht immer noch in der Garderobe auf dem Boden liegt. Jetzt sind sie in Grand Forks, North Dakota, und das Kind kommt auf die Welt. Das störte aber Joe nicht, glaub das ja nicht. Das Kind war ihm sogar sympathisch mit seinem Down-Syndrom, würde man heute so nennen, damals war es einfach der schwachsinnige Benjamin, weiß Gott, wo Amy den aufgelesen hatte, bleibt ewig ein Geheimnis. Der fröhliche Onkel Ben. Habe ihn noch knapp gekannt, Joey hat ihn gar nicht gekannt. Also, der störte meinen Großvater nicht, noch nicht, außerdem hatte er dann noch vier Kinder, meinen Vater und seine drei Schwestern. Das Problem war Martha. Beziehungsweise nicht Martha, Martha ist nie ein Problem, was, Martha. Das Problem war, dass Joe nicht hätte heiraten sollen, sondern weiterhin mit Martha durch die Lande tingeln. Beiden fehlte die Arbeit auf der Bühne, aber Joe dachte, er als seriöser verheirateter Mann könne nicht im Varieté auftreten. Hatte ihm zwar niemand gesagt, weder Amy noch sein Schwiegervater, aber er dachte es so. Er arbeitete als Uhrmacher und hing nach der Arbeit irgendwo mit Martha herum. Großmutter Amy war noch nett genug, Martha deswegen nicht zu hassen. Tat sie nicht. Sie mochte sie sogar. War eine nette Person. Hätte Joes große Liebe sein können, nur sah er das nicht. Es stand für ihn fest, dass er sie aus Not und Geldgier geheiratet hatte, so sagte er es später bei seinen Selbstanklagen. Auf die Idee, dass er Amy auch lieben könnte, kam er nie. Er liebte Martha. Nicht, dass wir das nicht nachvollziehen können, was, Martha. Aber eine solche Geschichte ist das eben, am toten Punkt der Nacht, wo du versuchst, dich mit vorgestreckten Händen durchs dichte Dunkel zu tasten, und auf einmal erstarrst, weil ringsum plötzlich ein Gerede ist, eine Menge Stimmen, die durcheinanderreden, amerikanisch, japanisch, schweizerisch, thailändisch und was alles für Sprachen wir hier sonst noch sprechen, denn das sind wir, innerhalb von fünf Minuten, oder wie lange ein Flugzeug braucht, um aus dieser Höhe runterzufallen, innerhalb von fünf Minuten übergegangen in den Zwischenbereich, wo nur Reden ist, Stimmen, die wir schon gehört haben, und Stimmen, die wir noch nie gehört haben, aber schon gehört zu haben meinen, hohe, tiefe, manchmal ein Ruf, manchmal ein Lachen, das wird uns jetzt lange begleiten, bis zu unserer Wiedergeburt. Na ja, lassen wir das, sagt Bill und starrt vor sich hin.
Hat er von youtube. Freund von mir nimmt auf parties stimmen auf und lädt sie auf yt sounds of fun. Wiedergeburt hat er von meinem vater. Bin sicher dass sie sich kennen. s blog 6.
Was schreibst du da, sagt Bill vor sich hin. Der Junge löscht den Eintrag, hält Bill den leeren Bildschirm hin. Bill sagt, meinst du, du kannst mich verarschen. Kannst die Fortsetzung der zweiten Geschichte der sechsten Stunde vergessen. Ist mir sowieso zu blöd, so über den Gang hinweg in diesem Gerüttel.
Die Fortsetzung der zweiten Geschichte der sechsten Stunde, in welcher Joe und Martha ein Comeback haben, hören wir aber doch, weil Michaels Gesicht über der Rückenlehne erscheint und er sagt, Bill solle bitte seine Bemerkungen zu Flug und Flugzeug für sich behalten. Bill sagt, er behalte von jetzt an sowieso alles für sich, Michael solle sich keine Sorgen machen, und die Geschichte von Joes und Marthas Comeback wäre sowieso eine zweischneidige Sache. Die ginge so, dass dieses Comeback im sozialistischen Verein von Grand Forks, North Dakota, stattfand. Joe fühlte sich zu denen hingezogen, aus unerfindlichen Gründen, er war ja selbständiger Uhrmacher. Vielleicht rührte die Anziehung daher, dass sie ihn auftreten ließen, an ihren Vereinsabenden und Festen, oder was weiß Bill, woher sie rührte. Jedenfalls hat dem Joe das später, in der McCarthy-Zeit, etliche Schwierigkeiten eingebracht, und erst recht Bills Vater. Den haben sie von der Universität geekelt. Der studierte da Biologie, dann haben sie ihn wegen seines Vaters, Joe senior, hinausgeekelt, die verdammten Schweine, und er wurde Typograph. Hat dem alten Joe höllisch leidgetan, er sagte, das mit den Sozialisten sei ein weiterer Fehler seines Lebens gewesen, was ja Blödsinn ist, was konnte er für den verdammten McCarthy.
Finde ich auch. Ich werde mccarthy googeln nach landung in z.
Damals aber treten Joe und Martha zusammen mit einem Neger auf, die Zeiten sind ja noch nicht politisch korrekt, und der Neger ist auch kein Neger, sondern Jimmy Wexler aus Minnesota, Eisenbahnarbeiter und als Neger geschminkt eine beliebte Nummer an den Vereinsabenden. Blackface-Jimmy, so nannte man ihn. Sie fragen sich vielleicht, sagt Bill zu Michael, der immer noch über die Rückenlehne schaut, warum ich auf den eingehe.
Weil joe auch den gekillt hat
Michael zuckt mit den Schultern, was Bill nicht sieht. Weil dieser Jimmy Wexler auf Martha stand, sagt Bill, sie traten ja auch zu dritt auf, obwohl Martha zuerst vor seinem schwarzen Gesicht Angst hatte, aber dann ließ er sie einmal zuschauen, während er sich schminkte, und von da an war die Sache in Ordnung. Nur zu sehr in Ordnung. Bill nimmt einen Schluck. Und so geschieht es, dass der Jimmy Wexler eines Tages kommt und dem Joe dreißig Dollar für Martha bietet. Das war so viel wie etwa vierhundert Dollar heute. Das bietet er ihm für Martha. Der schlaue Hund, der Jimmy Wexler. Der hatte gemerkt, dass da mehr herauszuholen war als Vereinsabende für fünfzig Cents und eine warme Suppe. Und was macht Joe. Ja, was macht Joe. Man würde es lieber nicht wissen, sagt Bill und nimmt einen Schluck, einen kleinen, er will zu dieser dunklen Stunde haushälterisch mit Martha umgehen. Das macht Joe, sagt Bill. Er verkauft Martha. Nach einigem Ringen zwar, aber nicht einmal nach einem besonders langen. Und so zogen dann Blackface-Jimmy und Martha, the Minnesota Girl, so nannte er sie, obwohl sie ja aus Philadelphia stammte, durch die Lande, durch die Nordstaaten, Montana, Idaho, bis Washington an der Westküste und sogar nach Kanada hinauf, Calgary, Regina, Winnipeg. Der Jimmy hatte richtig kalkuliert, sogar ein Automobil konnte er sich mit der Zeit leisten, damit gingen sie auf Tournee, er und Martha. Den Rest legte er in Aktien an. Das hingegen war ein falsches Kalkül, im Crash von neunzehnneunundzwanzig verlor er das Ganze. Er musste das Automobil verkaufen, und was er sonst noch tat, weiß man nicht, sagt Bill. Die Spur von Jimmy und Martha verliert sich. Mit den dreißig Dollar aber wird Joe nicht glücklich, um es gelinde auszudrücken. Er braucht sie ja auch nicht wirklich, das Uhrmachergeschäft läuft gut, noch besser die Spieldosen, er liefert auch in die umliegenden Staaten, und ein Instinkt oder Bernie sagt ihm, alles Geld in Gold und Immobilien anzulegen, und so geht er unbeschadet aus dem Crash hervor, und vor dem Weltkrieg, dem zweiten, ist er schon ganz wohlhabend. Es geht aufwärts und abwärts. Seelisch abwärts. Nachdem er eines Tages ohne Martha nach Hause gekommen ist, ist er für seine Familie nicht mehr vorhanden. Er macht zwar der Amy noch ein paar Kinder, eben, meinen Vater und seine Schwestern, aber er merkt nicht, dass es Amy gesundheitlich immer schlechter geht. Oder es ist ihm egal. Er redet nicht mehr, er schläft im Geschäft auf einem Sofa. Oder arbeitet auch nachts. Macht eine Serie Spieldosen, von denen er nur eine einzige verkauft hat. Die anderen hat er verbrannt. Die spielten eine Melodie, die man nicht beschreiben kann. Und dazu waren diese Dosen schwarz, mit schwarzen Figuren darauf, Negern mit roten, verzerrten Lippen. Bill wüsste zu gern, wo die einzige verkaufte Spieldose geblieben ist, aber Joe wollte nicht sagen, wem er sie verkauft hatte. Den Zweiten Weltkrieg überstand Joe wieder mit Glück. Einrücken musste er nicht, da waren sein Alter und sein Arm, dafür stellte er für die Armee Kompasse her und wurde ernstlich reich. Hätte er ja jetzt der Familie in der Slowakei berichten können, aber mit denen verkehrte er nicht mehr. Die waren deutschfreundlich, ein Cousin war bei der Waffen-SS. Wenn der alte Bernie Lazar das gewusst hätte. Der war sowieso schon sauer auf seinen Schwiegersohn, es entging ihm ja nicht, was da lief. Gut, Joe scheffelte Geld, aber er vernachlässigte seine Familie, und wenn er mal da war, war es noch schlimmer. Er saß da und redete nicht. Familienfeiern und Feste waren mehr oder weniger die Hölle. Bill hat ja erzählt, dass er drei Fotos von Anno dazumal immer bei sich hat. Eins von seinem Vater und seinen Schwestern unter dem Weihnachtsbaum. Benjamin, Onkel Ben, ist nicht mit drauf, Bill weiß nicht warum. Er zeigt die Fotos ja niemandem, aber die Gesichter der Kinder auf dem Foto wären sehenswert, mehr wie bei einer Trauerfeier als am Weihnachtsfest. Und ihre Mutter war dauernd krank. Amy erholte sich nicht mehr. Joe ließ durch seine Sekretärin die Arztrechnungen bezahlen und kümmerte sich sonst nicht um seine Frau.
Legte aber sekretärin flach
Nein, davon war Joe weit entfernt, sagt Bill, Joe ist nie über die Schwelle hinausgelangt, oder nicht einmal an sie heran, wo man auf Dinge oder Personen Lust bekommt. Hat Joe später selbst so erzählt. Lust auf nichts. Er arbeitete mechanisch an seinen Mechanismen, sagt Bill, und sonst tote Hose. Am wenigsten vertrug er in diesen Jahren den Ben, aber nicht, weil der nicht sein Kind war, haben wir schon gesagt, sondern der war ihm zu fröhlich. Der ließ sich von dieser verfluchten Atmosphäre nicht anstecken, der hatte ja sogar gelacht, als Kind, wenn sie ihn durch den Sandkasten rollten, war offenbar ein beliebtes Spiel gewesen, Ben mit Sand zu panieren, also, das ging Joe auf die Nerven, dass Ben dank seiner Behinderung ein froher Mensch war. Wenn Ben lachte, stand Joe auf und ging in sein Zimmer, brauchte sich da nicht einmal einzuschließen, niemand hätte gewagt, ihn zu stören. Das einzige Mal, jedenfalls soweit sich Bills Vater erinnerte, dass sich Joe aus seiner Lethargie aufrütteln ließ, war durch einen Streit mit dem alten Bernie. Der sagte, Joe käme ihm nicht wie ein Slowake vor, sondern wie ein Ungar, die würden, wenn es darauf ankäme, auch schwermütig, statt sich in den Arsch zu klemmen. Er sagte es nicht so, meinte es aber so, sagt Bill. Woher Bernie das von den Ungarn wusste, weiß man nicht, aber jedenfalls wurde Joe auf einmal höllisch wütend, Ungar, das nicht, da wachte der Slowake in ihm auf, die hassen die Ungarn, aus guten Gründen, ich kann jetzt nicht darauf eingehen, sagt Bill, schaut es auf Wikipedia nach, wenn es euch interessiert. Also, Joe wurde fuchsteufelswild, obwohl seine Familie ja auch irgendwo ungarischstämmig war, Kovacsics ist ein serbischer Name, habe ich gesagt, aber die Schreibweise ist ungarisch. Aber das hinderte Joe nicht, in die Luft zu gehen, vielleicht erst recht nicht. Nach dem Streit mit Bernie war Joe aber genauso deprimiert wie vorher, höchstens, dass Bills Vater und dessen Geschwister ihren Vater für einmal hatten sprechen hören. Die hatten gar nicht mehr gewusst, wie seine Stimme klang. Krächzend klang sie. Joe musste sich dauernd räuspern, weil er nicht mehr ans Reden gewöhnt war, sogar im Geschäft führte meistens seine Sekretärin die Verhandlungen. Joe ließ sich erst wieder aufrütteln, als Amy im Sterben lag. Da wachte er plötzlich auf. Merkte plötzlich, was er an ihr gehabt hatte. Versuchte mit ihr zu reden, ihr zu sagen, dass er schon wisse, was sie für eine nette Person sei, und das alles. Er wusste nicht, ob Amy ihn hörte, sie war schon ziemlich weg, aber er redete. Es wurde immer mehr zu einer Art Beichte, die Aufzählung der Fehler seines Lebens, die ganzen Selbstanklagen. Die arme Amy musste sich das alles anhören. Joe sagte, er wisse, dass sie nichts mehr sagen könne, aber er wisse auch, dass sie ihn höre und besser verstehe, als er sich selbst, und was alles man sich von einem Sterbenden erhofft, weil man denkt, der sei jetzt dabei, über die üblichen Beschränkungen hinauszutreten. Kann ja auch sein, wer weiß, was in den letzten Stunden geschieht, die Sonne geht unter, der Himmel wird violett, wird er gern über der Prärie, in der warmen Luft, die vom Heizkörper aufsteigt, bewegt sich eine Spirale aus Metallfolie, es ist kurz vor Weihnachten, Amy hat noch das Haus dekoriert, so eine Spirale bewegt sich und schlägt gegen die Wand, draußen fällt eine Autotür zu, das sind die letzten Geräusche, die man hört, und die Stimme dieses Mannes, die um Vergebung fleht. So steuern sie auf den toten Punkt der Nacht zu, wo nichts mehr zu sehen und zu hören ist, auch die Spirale nicht, weil um diese Zeit die Heizung gedrosselt läuft. Joe wäre froh, wenn Amy jetzt stürbe, es wäre für ihn wie eine Absolution, aber sie stirbt nicht, sie stirbt erst am nächsten Vormittag, am zweiundzwanzigsten Dezember. Und so steigert sich Joe wieder in seine Schuldgefühle hinein. Er sitzt vorgebeugt da und starrt Amy an. Wir haben uns verpasst, denkt er, ich bin Scarlett O’Hara. Das hatte er im Kino gesehen, Vom Winde verweht, Grace, seine Sekretärin, hatte ihn da mitgeschleppt, um ihn abzulenken. Aber er behielt von dem Ganzen nur die Szene, wie Scarlett Rhett Butler zu spät ihre Liebe gesteht, das Zuspät, das war ihm eingefahren. Und jetzt saß er da und dachte an sein verpasstes Leben. So sagte er später. Aber es kam noch schlimmer. Gegen Morgen sagt Amy mit einem Mal, ich wäre mitgekommen. Amy, was sagst du, was meinst du, Joe ist riesig aufgeregt, er versucht, aus Amy herauszubekommen, was sie meint, Amy, rede. Aber sie sagt nichts mehr. Was meint sie, was meint sie.
Mit ihm auf tournee mit martha.
Wir wissen es nicht sicher, sagt Bill. Aber Joe war für den Rest seines Lebens überzeugt, dass sie gemeint hatte, dass sie mit ihm und Martha auf Tournee mitgegangen wäre. Es ging ihm plötzlich auf, oder besser gesagt, er merkte plötzlich, dass er das schon die ganze Zeit gewusst hatte. Er hatte gewusst, dass Amy das Mädchen war, das mit ihm und einem Hund durch die Varietés getingelt wäre, die hätte vielleicht nicht einmal vor dem Jahrmarkt und dem Kino-Vorprogramm Halt gemacht. Als Joe das bewusst wurde, rannte er weinend auf die Prärie hinaus und musste am späteren Vormittag von Grace da aufgelesen werden. Die kam gefahren und brachte ihn nach Hause, weil Amy diesmal wirklich am Sterben war. Joe wollte mit ihr sterben, hat er später erzählt, wollte seine Pistole holen und sich eine Kugel in den Kopf schießen im Augenblick, da Amy starb. Nur sah er, als er ins Haus trat, als Erstes den Ben. Der saß auf der Treppe und weinte. Der lachende Ben weinte, und das machte Joe einen solchen Eindruck, dass er das mit der Pistole bleiben ließ und sich schwor, von jetzt an für Ben da zu sein. Er wollte es auch Amy schwören, aber sie rang nach Luft, als er ins Zimmer trat, eindeutig ihre letzten Atemzüge. Und dann, als sie noch etwa drei Atemzüge übrig hatte, klingelte das Telefon. Das hat sich Joe auch nie verziehen, dass er das Telefonkabel nicht herausgezogen hatte, als ob er sich je um solche Details gekümmert hätte, bis dahin jedenfalls bestimmt nie, aber wie auch immer, er hat es sich nie verziehen. Dass Amys letzte Augenblicke auf Erden vom Klingeln des Telefons begleitet waren. Er stellte sich vor, das sei für einen Sterbenden wie ein Einblick ins Leben der anderen nach seinem Tod, das gleichgültige Klingeln des Telefons in einem gleichgültigen leeren Zimmer. Und dann geht jemand dran, der kaum mehr an den Toten denkt. So stellte es sich Joe vor. Jetzt, als Amy starb, ging niemand dran, niemand wollte den Moment verpassen, und so klingelte es wirklich über Amys Tod hinaus, vom Diesseits ins Jenseits hinüber. Lassen Sie mich einen Schluck nehmen, einen kleinen, wir gehen ja mit Martha sparsam um. Das war die Wende in Joes Leben. Danach beginnt er sich um seine Familie zu kümmern, zwingt sich zum Reden. Erzählt ihnen mit der Zeit sogar aus seinem Leben, nur erwähnt er Martha nie, da noch nicht, und er erzählt Amy, was sie gerade machen. Amy, dein Sohn und ich spazieren über den West Creek Drive an den Baustellen vorbei auf die Prärie hinaus bis zum Baum. Der Baum. Die Espe. Die, von der Bill erzählt hat. Zu ihr spazierten sein Großvater, Joe M. Kovacsics, und dessen Sohn, Joe F. Kovacsics. Sie waren von ihr angezogen, sie wussten selbst nicht warum. Eines Tages aber wissen sie warum. Sie kommen spaziert, da steht unter dem Baum ein Native, damals sagte man Indianer, hat sogar eine schwarze Feder im Haar und eine Schnur mit einem Raubtierzahn um den Hals und sagt ihnen, dass das der Baum der tausend Stimmen der Ahnen und der tausend Stimmen der Nachfahren ist. Espenblätter haben flache Stiele, sie bewegen sich beim kleinsten Lufthauch und schlagen gegeneinander, das ergibt ein Flüstergeräusch, sagt Bill. Die beiden, sein Großvater und sein Vater, hatten es auch schon gehört, aber jetzt wissen sie, was es bedeutet. Das Problem sind die Baustellen. Hier soll eine Reihe neuer Häuser gebaut werden. So kommt es, dass Bills Großvater, Joe M. Kovacsics, das Grundstück, nicht ohne Schwierigkeiten und für ein Heidengeld, dem Developer abkauft. Das Haus, unser Haus, sagt Bill, wird er erst bauen lassen, als mein Vater die verdammte Rosie heiratet. Die mochte der Großvater von Anfang an nicht. Verstand nicht, was mein Vater an ihr fand. Ich versteh’s auch nicht, sagt Bill. Aber egal, ich will’s jetzt auch nicht verstehen.
Verdammtes Gerüttel, sagt Bill. Habe das gar nicht gern. Ausgerechnet am toten Punkt der Nacht, gegen Ende der sechsten Stunde. Es ist so dunkel und so still, dass du dir vor Schreck fast in deine Brokathose machst, als der Maremmenhund plötzlich aufheult. Die Pferde werden unruhig, du hörst sie schnauben und mit dem Sattelzeug zusammenstoßen. Dann ist es wieder still. Du bekreuzigst dich dreimal und streckst deinen beringten Zeigefinger und deinen beringten kleinen Finger ins Dunkel hinaus. Da kommt etwas, denkst du, ein Erdbeben, der Hund hat es schon gespürt. Jetzt spürst auch du, wie der Boden zu schütteln beginnt, verdammt nochmal, so kann man nicht erzählen.
Bill ist nicht normal meiner meinung nach. Er hat seine umhängetasche unter dem shirt hervorgezogen. Er küsst sie. Er taucht einen finger in den whisky und küsst ihn. Der vater vom japanischen chick nimmt die augenmaske ab.