DAVION
Ich lege Satoris Kopf in meinen Schoß und küsse seine Stirn. Aus der klaffenden Wunde fließt Blut und tropft mir auf die Hand. Er jault vor Schmerzen. »Alles wird gut, Buddy.«
»Kompressen und Desinfektionsmittel?«, ruft Sian.
»Oben im Bad.«
Sie stürmt die Treppe hinauf.
Ich wiege Satori in meinen Armen und wünschte, ich hätte Minkow ausweiden können. Das Dreckschwein wird sterben.
Nicht heute.
Nicht morgen, aber meine Zeit wird kommen.
Wenn es so weit ist, werde ich es langsam machen.
Sians Schritte poltern auf der Treppe.
Sie springt über Lato hinweg, der noch immer bewusstlos am Boden liegt, kniet sich neben mich und reißt hastig eine Verpackung mit Kompressen auf. »Wie weit bis zum nächsten Tierarzt?«
»Keine Chance.« In wenigen Tagen wird der Schnee einsetzen, die überschwemmten Straßen in Eis verwandeln und uns von der Außenwelt trennen.
»Okay.« Sie atmet tief durch und pustet sich eine Strähne aus der Stirn. »Dann müssen wir es so versuchen.«
Sie tränkt ein Wattepad in Desinfektionsmittel. »Beruhig ihn, das wird wehtun.«
Ich streichele über seine Stirn und wünschte, Minkow hätte mich für seine kleine Machtdemonstration gewählt.
»Alles gut, alles ist -«
Er schreit auf und versucht, den Kopf zu heben, aber seine Muskeln sind noch immer gelähmt.
»Was hat er ihm gegeben?«, frage ich.
»Wahrscheinlich einen neuromuskulären Blocker.« Sie tupft mit dem Pad über die blutende Wunde. »Es gibt Mittel, die die Muskeln lähmen, aber das Schmerzempfinden aufrecht erhalten.«
»Woher kennst du dich mit dem Zeug aus?«
Sie nimmt eine Kompresse und drückt sie vorsichtig auf Satoris Wunde. »Recherche. Ich habe mich viel mit Medikamenten beschäftigt.«
Patricia. Sie hat sie wahrscheinlich gepflegt und sich um solche Dinge gekümmert.
Sie sieht mich flüchtig an und konzentriert sich wieder auf Satori. »Ich wollte nicht, dass er verletzt wird.«
»Ich weiß.«
Sie seufzt, nimmt die blutdurchtränkte Kompresse von seinem Ohr und schüttelt den Kopf. »Es hört nicht auf zu bluten.«
Eine Welle aus Trauer und Hass durchflutet mich. Ich will das verdammte Schwein auf den Stuhl in meinem Keller schnallen und ihn mir vornehmen. Langsam das Skalpell durch sein Auge gleiten lassen, seine Nägel mit einer Zange ziehen und Säure in seine Wunden schütten.
Satori jault. Ich kneife mir in den Nasenrücken. »Ist gut, Buddy. Ist okay.«
Stöhnend streckt Lato seine Hand aus und reibt sich übers Gesicht. Er blickt sich um, entdeckt uns und setzt sich langsam auf. »Scheiße, was ist passiert?«
»Alles okay bei dir?«
Er nickt. »Ist Minkow -«
»Noch nicht.«
Lato krabbelt zu uns, streichelt über Satoris Rücken und atmet laut aus. »Scheiße, er hat ihm -«
»Ich glaube, ich muss die Wunde kauterisieren.« Sian sieht mich an. »Das wird höllisch wehtun, aber wenn die Blutung nicht aufhört, heilt es nicht.«
Ich drücke meinen Hund an mich und vergrabe mein Gesicht in seinem Nacken. Satori verdient nichts hiervon.
Er ist der einzig Unschuldige von uns.
Der Einzige, der sich durch alles, was uns passiert ist, nicht verändert hat. Er ist meine einzige Konstante, mein Begleiter, mein Freund. Meine Erinnerung …
»Du willst ihm den Rest vom Ohr abfackeln?« Lato zieht scharf die Luft ein. »Das ist heftig.«
Sian steht auf, geht zur Küche und wühlt in den Schubladen.
»Du hast eben unser Todesurteil unterschrieben«, flüstert Lato.
»Nicht jetzt.«
»Wann dann? Wenn er das nächste Mal -«
Mit einem Hackmesser in der Hand kommt Sian zu uns. Sie umwickelt den Griff mit einem Handtuch und hält die Klinge ins Feuer. »Mir ist schlecht.«
Ja mir auch verdammt.
Als die Klinge glüht, atmet sie tief durch. »Versuch, ihn abzulenken.«
Sie weiß genauso gut wie ich, dass nichts helfen wird, um Satori den Schmerz zu nehmen. Ich ziehe ihn mit dem Oberkörper auf meinen Schoß, nehme sein Gesicht in meine Hände und küsse seine Schnauze. »Halt durch, Buddy.«
Sian strafft die Schultern, beugt sich vor und drückt die glühende Klinge auf die offene Stelle. Satori schreit auf, versucht, sich zu winden, aber seine Muskeln sind noch immer gelähmt.
»Bist du fertig, verdammte Scheiße?« Für einen Moment treffen sich unsere Blicke. Erst jetzt bemerke ich Tränen auf meinen Wangen.
Ich wische sie weg und drücke meinen Hund an mich. »Alles okay, du wirst wieder.«
Sian verbindet die Wunde und streicht Satori über die Flanke. »Er braucht Antibiotika.«
»Im Bad ist welches«, antwortet Lato.
»Eins für Hunde?«
»Im Schrank rechts über der Spüle.« Satori wimmert. Ich kraule sein gesundes Ohr. »Er hat sich vor ein paar Monaten einen Nagel eingetreten.«
»Ja stimmt.« Lato springt auf und rennt zur Küche.
»Er wird wieder.« Die Sanftheit ist aus ihrer Stimme verschwunden, sie steht auf und sieht hinüber zu Buford, um den sich eine dunkelrote Blutlache gebildet hat. »Das, was er gesagt hat … Was hat er damit gemeint?«
Das wüsste ich auch gerne. Buford hat mich genauso verachtet wie ich ihn. Irgendetwas muss ihm wichtig genug gewesen sein, um seinen letzten Atemzug für mich zu verschwenden. »Keine Ahnung.«
»Noch mehr Lügen.« Ihr Ausdruck verhärtet sich. »Noch mehr Geheimnisse. Wir sind fertig, Mr. Catano.«
Lato öffnet den Mund, aber schließt ihn sofort wieder, als ich ihm eine stumme Warnung zuwerfe.
Sian streichelt Satori noch einmal und geht die Treppe hinauf.
Sekunden später fällt ihre Zimmertür ins Schloss. Vorsichtig lege ich Satoris Kopf ab, ziehe eine Decke von der Couch und breite sie vor dem Kamin aus. Ich schiebe sie unter seinen Körper und hoffe, das Medikament lässt bald nach, damit er sich wieder bewegen kann.
»Zuerst erzählst du mir, sie bedeutet dir nichts und jetzt opferst du unser Leben für sie?«
Ich gehe zur Bar, nehme mir ein Glas und schütte mir einen großen Schluck Scotch ein. Genau das, was ich jetzt brauche. Ich steige über Bufords Leiche hinweg, setze mich breitbeinig auf die Couch und sehe meinen Stiefsohn über den Rand des Glases an. »Ich opfere gar nichts.«
»Wir haben das Geld nicht und egal, wie viele Waffen du den Kanadiern gibst, wir werden es auch nicht bekommen. Ausgerechnet du, der ach so kalkulierte Davion Catano reitet uns in diese Scheiße. Wir sind so was von am Arsch.«
»Du tust es wieder.«
»Ich tue was?«
»Du stellst meine Autorität infrage.« Als er antworten will, schüttele ich den Kopf. »Vor Minkow.«
»Weil ich mich nicht von Gefühlen leiten lasse?« Er lacht freudlos. »Du verdammter Heuchler! Erst predigst du mir die Scheiße und dann hältst du dich selbst nicht daran.«
Ich stelle das Glas auf den Tisch und stehe auf. »Das hatte nichts mit Gefühlen zu tun, wann kapierst du das? Die Kleine bedeutet -«
»Ach komm.« Er winkt ab. »Spars dir.«
»Es reicht, Lato.« Ich habe mir seine Scheiße lange genug angehört. Er hat allen Grund, wütend auf mich zu sein, und auch wenn ich es nicht zugeben will – ich habe unüberlegt gehandelt. Aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, in dem Ton mit mir zu reden. Ich bin keiner seiner privilegierten kleinen Yale-Snobs, die zu ihren Eltern rennen, sobald es Probleme gibt.
»Ja es reicht wirklich.« Er tritt gegen Bufords leblosen Arm, der durch die Lache wischt und das Blut auf dem Boden verteilt. »Was willst du jetzt tun? Dupont fragen, ob er die doppelte Menge plus Aufpreis nimmt? In ein paar Tagen sitzen wir hier fest. Wie willst du in der kurzen Zeit so einen Deal eintüten?«
Meine Finger kribbeln, ich taste nach der Knarre in meinem Hosenbund, aber verwerfe den Gedanken. Lato mit einer Waffe zu bedrohen, wäre ein Zeichen von Schwäche und davon habe ich heute genug gezeigt. »Ich finde eine Lösung und jetzt schaff das Schwein hier weg.«
»Das hätten wir sein können.«
Er irrt sich. Minkow braucht uns. Würde er uns töten, entginge ihm nicht nur der größte Zwischenlieferant von Maine bis Kanada, sondern auch der unauffälligste. Ja, unser Ruf in Kilthorne Creek ist nicht unbedingt tadellos, aber wir verhalten uns ruhig. Niemand kann uns etwas nachweisen und was wollen sie uns vorwerfen? Dass wir uns ab und zu amüsieren und ein luxuriöses Haus besitzen?
Latos Stirn legt sich in Falten. »Warum hat er den Leuchtturm erwähnt?«
Das werde ich herausfinden.
»Bring ihn weg und mach die Schweinerei sauber.« Ich nehme die Flasche Scotch, gehe zu Satori, hebe ihn hoch und trage ihn die Treppe hinauf. Nachdem ich ihn auf mein Bett gelegt habe, schließe ich die Badezimmertür, ziehe mich aus und nehme die Flasche mit unter die Dusche. Als heißes Wasser auf mich herab prasselt, lehne ich die Stirn gegen die Fliesen und schließe die Augen.
Scheiße.
Ich weiß nicht ein mal, was der größte Fehler war. Sian an Buford verkaufen zu wollen, ihr nichts von dem Schwein zu erzählen oder den Deal mit Minkow abzuschließen.
Mein letzter große Fehler liegt vier Jahre zurück und auch, wenn ich es damals nicht besser wusste … heute Abend entschuldigt nichts meine Entscheidungen.
Ich war schwach. Ich habe persönliche Empfindungen über die Vernunft gestellt und damit alles ruiniert.
Ich gieße mir einen großen Schluck Scotch in den Mund, stelle die Flasche neben mich und wasche mir die Haare. Als ich fertig und wieder halbwegs klar im Kopf bin, trockne ich mich ab, sehe nach Satori, der glücklicherweise eingeschlafen ist, und ziehe mir eine Jogginghose und einen schwarzen Pullover an.
Schon jetzt weiß ich, dass ich den nächsten Schritt bereuen werde. Aber Sian wird ein paar Wochen mit mir festsitzen und es ist besser, wir schaffen alles, was zwischen uns steht, sofort aus der Welt.
Ich verlasse mein Zimmer und klopfe an ihre Tür. Sie antwortet nicht, ich öffne die Tür trotzdem.
Mit dem Rücken zu mir sitzt sie auf dem Sessel vor der Fensterfront und sieht hinaus in die Wälder. »Ich hab dich nicht reingebeten.«
»Das ist mein Haus. Ich warte nicht auf Erlaubnis.« Ich gehe zu ihr und lehne mich gegen die Glasfront. »Das mit Buford tut mir leid.«
Schweigend sieht sie durch mich hindurch.
»Aber es macht keinen Unterschied ob er oder Minkow. Ich habe den Deal gecancelt, wir sind quitt.«
»Quitt.« Sie lacht verächtlich. »So einfach ja? Ich verhökere Trishs Tochter an den kriminellen Abschaum, aber ich rette sie vorher, also ist es okay. Fick dich, Davion.«
»Was willst du hören?«
Sie hebt den Kopf. »Nichts. Gar nichts mehr.«
Ich habe mich entschuldigt, ihr alles gesagt, was sie wissen musste.
Ich gehe zur Tür.
»Warum?«
Ich drehe mich zu ihr.
»Hast du jemanden gefunden, der mehr für mich bezahlt, oder warum hast du es getan?«
Ich weiß es nicht. Ich weiß verdammt gar nichts mehr.
Vielleicht liegt es an Trish.
Vielleicht konnte ich manche Dinge doch nicht so einfach zurücklassen, wie ich mir gewünscht hätte. Vielleicht ist Sians Auftauchen meine Strafe. »Ich schätze, ich schulde es deiner Mutter.«
Sie steht auf und stürmt auf mich zu.
Ihr viel zu großes Shirt rutscht über eine Schulter, ihre hellblonden Haare fliegen über die Wölbungen ihrer Brüste und ich warte nur darauf, dass sie mir wieder eine runterhaut, doch stattdessen baut sie sich vor mir auf.
»Nach dreizehn Jahren? Willst du mich eigentlich verarschen?« Sie stößt mir gegen die Brust. »Eine Mail, ein Anruf, eine Scheißkarte, irgendwas – das hättest du ihr geschuldet.« Sie schubst mich wieder, ich taumele gegen die Zimmertür. »Wo warst du, als sie krank wurde? Wo warst du, als sie die Chemo bekommen hat? Als sie sie einfach haben sterben lassen. Als ich nicht wusste, was ich tun soll, weil ich einfach nicht -« Das Schluchzen unterbricht sie. Sian wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Du verdammtes Arschloch! Ich hasse dich!«
Ich strecke meine Hand nach ihr aus, nicht sicher, wie ich mich verhalten soll, doch sie schlägt sie weg. »Trish hat sich abgewendet, nicht ich.«
»Jeder geht, kapierst du?« Sians Augen sind gerötet, ihr Kinn zittert. »Redlan ist in Atlanta, Mom ist tot, du … hast mich verraten. Ich hab das alles so satt.« Ihre Schultern sacken zusammen, sie steht da wie ein Kind, das sich verlaufen hat, und für einen Moment fühle ich mich selbst verloren. Ich ziehe sie an mich und schließe sie in meine Arme. Ihre flache Hand klatscht in mein Gesicht.
»Fass mich nicht an!«
Schneller als sie gucken kann, umfasse ich ihr Handgelenk und drücke ihren Arm nach unten. »Die eben habe ich verdient, aber es reicht, Mädchen.«
Ihre Nasenflügel beben, ihre Wangen sind gerötet, blanke Wut liegt in ihrem Blick. Sie will mir mit der anderen Hand eine scheuern, ich dränge sie mit dem Rücken gegen die Tür und drücke ihre Arme herunter.
»Ich hasse dich!« Sie brüllt mir ihre Wut entgegen und windet sich in meinem Griff.
Ich lasse sie los, schiebe sie beiseite und verlasse das Zimmer.
Gott verdammt. Was habe ich mir dabei gedacht, Minkows Deal zu durchkreuzen? Ich hätte sie ihm überlassen sollen, denn ich schulde Patricia einen verdammten Scheißdreck. Das Mädchen wird sich nicht wie Lato unterordnen und ruhig verhalten.
Sian wird Probleme bereiten.
Sie wird versuchen, uns zu schaden.
Normalerweise schaffe ich solche Menschen aus dem Weg.
Doch wenn ich sie schon nicht töten kann, muss ich sie unter Kontrolle bringen.
***
Regen klatscht gegen die Windschutzscheibe und weht durch die zerbrochene Seitenscheibe in mein Gesicht. Ich stelle die Scheibenwischer höher und schiebe meine Kapuze über den Kopf. Der Range Rover kämpft sich bergabwärts durch die Wassermassen, die die Straße ins Tal in einen Fluss verwandelt haben. Jedes Mal, wenn die Reifen durchdrehen, schnellt Sians Hand zum Armaturenbrett. »Du hättest Lato mitnehmen sollen.«
Das denke ich nicht . Ich muss sie im Auge behalten, denn das Mädchen ist eine tickende Zeitbombe.
Eine halbe Stunde später erreichen wir die Stadt.
Sian lässt ihren Blick über die Sandsäcke vor den Geschäften wandern und sieht mich verwirrt an. »Wozu das alles? Die Straßen hier sind frei.«
Ich parke vorm Barnhouse, steige aus dem Wagen und deute mit dem Finger auf die Rinne neben dem Gehweg. »Vor fünf Jahren ist die Hälfte der Geschäfte zerstört worden. Viele haben ihre Arbeit und ihre Wohnungen verloren. Seitdem haben sie hier unterirdische Rohre und Abflüsse, die das Wasser von den Häusern wegleiten.«
Sie nickt, zieht einen Zettel aus der Jeanstasche und sieht über ihre Schulter zur Apotheke. »Ich muss noch ein paar Sachen besorgen.«
»Später, du kommst mit mir.«
Ihre Miene wird düster. »Darf ich jetzt nicht mal mehr alleine einkaufen gehen?«
Ich bin nicht gut in solchen Dingen und ich habe keine Ahnung, wie ich es ihr beibringen soll, ohne sie zu verärgern, aber vor allem habe ich keine Geduld, mit ihr zu diskutieren. »Minkows Leute sind überall. Es ist zu gefährlich.«
»Du meinst gefährlicher als bei dir?«
Als ich nichts erwidere, verdreht sie die Augen. »Ich hasse dich.«
Es klingt nicht so überzeugend wie letzte Nacht, aber ich bin sicher, es ist die Wahrheit. Sie ist nicht die Erste und sie wird nicht die Letzte sein, die so über mich denkt. Ich bin ein Arschloch und ich habe nicht vor, etwas daran zu ändern.
Ich setze mich in Bewegung, überquere die Straße und taste nach dem Holzgriff des Messers, das ich in meinen Hosenbund versteckt unter dem Shirt bei mir trage. Minkow hat seinen Standpunkt klargemacht, aber ich bezweifele, dass er für mehrere Wochen die Finger ruhig hält.
Als wir Jacksons Laden betreten, läutet die Klingel über der Tür. Mrs. Kellerman, die am Regal mit den Konserven steht und eine Dose in der Hand hält, sieht auf, schüttelt den Kopf und wendet sich an ihre Freundin, Helen McCallum, die die Nase rümpft.
»Du hast wirklich überall Fans«, flüstert Sian hinter mir und schiebt sich an mir vorbei. »Ich bin beim Gemüsestand, falls das erlaubt ist, Dad .«
Sichtlich empört legt Kellerman die Hand vor den Mund und steckt den Kopf mit McCallum zusammen.
Ich lasse die beiden stehen, gehe zur Theke, wo sich Jackson mit dem alten Fred unterhält. Als sie mich bemerken, verstummt Jackson. Fred macht eine abschätzige Handgeste und trottet davon.
Jackson räuspert sich. »Hallo Davion.«
»Interessante Gespräche?« Es war kaum zu übersehen, über wen sie gesprochen haben.
Verlegen räuspert er sich wieder und fährt sich durchs struppige Haar. »Du kennst das – die Leute sind gelangweilt und sie suchen -«
»Schon klar.« Ich nehme mir eine Schachtel Zigaretten aus dem Regal und lege sie auf die Theke. »Hast du die Paletten?«
»Jap. Dreißig Dosen geschälte Tomaten, zehn Packungen Reis …« Er beugt sich über die Theke und winkt mich zu sich. »Fred hat da eben was gesagt, die halbe Stadt spricht schon und du weißt, ich frage dich lieber selbst.«
Großartig . Ich verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich mit der Seite gegen die Holztheke.
Der Junge ist in Ordnung und gibt nicht viel um Gerüchte, aber was auch immer er mir zu sagen hat, ich bin nicht in Stimmung. »Stella hat zu wenig zu tun.«
Er lacht. »Du kennst die alte Schachtel doch. Fred hat letzte Nacht gesehen, wie diese Typen, die manchmal bei dir rumhängen, Buford ins Auto gezerrt und mitgenommen haben.«
»Mhh.«
»Ja nachdem er aus der Bar kam.« Jackson senkt die Stimme. »Die haben ihn nicht zufällig zu dir gebracht?«
»Warum sollten sie?«
»Na ja, war nicht zu übersehen, dass ihr Stress hattet.«
»Ich hab Buford seit dem Pokerabend nicht mehr gesehen.«
Jackson leckt sich über die aufgesprungenen Lippen, öffnet und schließt die Hände, wie immer wenn er nervös wird. »Dachte ich mir schon, aber seit letzter Nacht hat ihn keiner mehr gesehen.«
Ja, entschuldige Jax. Der Bastard war zu sehr damit beschäftigt, mir den Boden im Wohnzimmer mit seiner zerfetzten Kehle zu versauen.
Ich zucke die Schultern. »Und?«
»Ich weiß, aber er hatte seinen Termin beim Department und egal, wie fertig er sonst war – er kam immer. Jedes Mal frisch gekämmt und geduscht.«
»Tja, das ist -«
Lautes Lachen gefolgt von einem Grölen hallt von der Straße.
Ich lasse sie eine Minute aus den Augen und sie haut ab.
Ich stürme nach draußen.
Sian wringt sich lachend Regen aus den Haaren, während Jeremy und Steven um sie herumstehen, an ihren Zigaretten ziehen und sie betrachten, als wäre sie ein exotisches Tier im Zoo.
»Geh rein.«
Sie blickt auf. »Wir reden nur.«
Ich packe ihren Ellbogen und ziehe sie in Richtung Laden, doch sie befreit sich mit einem Ruck und bleibt stehen. »Ich bin nicht dein Haustier.«
»Stimmt, dann wäre ich freundlicher.«
Sie lacht verächtlich und geht zurück zu den Jungs, die mich anstarren, als hätten sie einen Geist gesehen. Jeremys Mundwinkel zucken, er zieht an seiner Kippe und bläst Rauch in die Luft. »Bleiben Sie cool, Mr. Catano. Wir haben sie ja nicht entführt oder so.«
Ich schnippe die Kippe aus seinem Mund und beuge mich zu ihm. »Lass die Finger von ihr.«
»Hey.« Sie packt meine Schulter und will mich von ihm ziehen, aber ich sehe ihn noch einen Moment an, um sicherzugehen, dass er versteht.
Jeremy hebt entschuldigend die Hände. »Sorry Sian, wir sehen uns.« Die beiden schlendern tuschelnd davon.
»Danke.« Sie schiebt sich die Kapuze über den Kopf und geht zurück zum Laden. Ich habe keine Lust, weiter mit ihr zu diskutieren, aber ich werde ihre Widerworte verdammt noch mal nicht einfach hinnehmen. Mit einem Satz bin ich bei ihr und dränge sie gegen die Holzwand des Geschäfts. »Das ist mein verdammter Ernst. Was muss noch passieren, damit du verstehst, wie ernst die Scheiße ist?«
»Du meinst außer der aufgeschlitzten Kehle meines Onkels?« Sie schiebt meine Hände von sich. »Keine Sorge, ich habs kapiert.«
Als ich den Laden wieder betrete, drängt sie sich an mir vorbei und lässt mich stehen.
Die alte McCallum schielt verstohlen zu mir. »Wollen Sie sich jetzt noch wegen Verführung Minderjähriger strafbar machen?«
Ohne ihr Beachtung zu schenken, gehe ich zu Jackson, verlade die Paletten mit Lebensmitteln im Kofferraum und gehe zur Kasse. Sian stellt einen Korb mit frischen Tomaten, Gurken und Salat auf die Theke.
Jackson lacht leise und sieht mich verlegen an.
»Keine Sorge. Ich hab auch Fleisch eingepackt.« Sie streicht sich die Hände an ihrer Jeans ab.
»Normalerweise decken wir uns mit haltbaren Lebensmitteln ein.« Jackson tippt meine Bestellung in die Kasse ein.
»Das ist für morgen.« Sie zieht einen Hundert-Dollar-Schein aus ihrer Geldbörse und reicht ihn Jax. »Ich dachte, ich steuere was zur Party bei.«
Jax wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Na dann.«
»Was ist so lustig?«
Jackson räuspert sich verlegen und ich verkneife mir ein Lächeln. Wir feiern, aber vielleicht nicht so, wie sie es sich vorstellt.
»Also das Grünzeug auch, Dav?«
»Du hast sie gehört.«
Als wir zehn Minuten später das einzige Kleidungsgeschäft in der Stadt betreten, verdunkelt sich ihre Miene.
»Nicht ganz das, was du dir vorgestellt hast?«
Sie sieht sich um und rümpft die Nase. »So was stellt sich keiner unter dreißig vor, ohne Albträume zu kriegen.«
Ich ziehe ein dunkelblaues Thermooberteil mit langen Ärmeln aus dem Regal, halte es vor ihren Oberkörper, um die Größe abzuschätzen, und reiche es ihr. »Latos Klamotten sind viel zu groß.«
»Dann trage ich meine.« Sie schiebt das Oberteil von sich.
»Rüschenkleider und zerlöcherte Jeansshorts? Wie lange denkst du, überlebst du damit?«
»Wahrscheinlich länger, als wenn Minkow mich in die Finger bekommt.«
»Wird er nicht, dafür sorge ich.«
Ihr Blick trifft meinen. Ich rechne mit Wut, doch sie sieht besorgt aus. »Bis du deine Meinung änderst.«
Ich nehme das Shirt, ziehe zwei weitere in weiß und schwarz aus dem Regal und begrüße Karen mit einem Nicken.
»Nicht mehr lange.« Lächelnd streckt sie Sian ihre Hand entgegen. »Man kann den Schnee schon riechen. Hi, ich bin Karen.«
Sian schüttelt ihre Hand, ihre Miene ist noch immer angespannt. »Hi. Sian.«
Karen mustert sie von oben bis unten und deutet mit dem Daumen hinter sich. »Größe S ist da hinten, wir haben neue Jacken und Stiefel reinbekommen. Wenn du willst, zeig ich dir ein paar Modelle.«
»Nicht nötig, danke. War schön, Sie kennenzulernen.« Sie sieht mich an. »Ich warte im Wagen.«
Bevor ich etwas erwidern kann, verschwindet sie.
»Hab ich was falsch gemacht?« Karen sieht ihr verwirrt nach.
»Nicht du. Ich.« Ich drücke ihr die Shirts in die Hand und laufe hinüber zur Damenabteilung. Spätestens wenn die Minusgrade und das Eis einsetzen, wird sie froh über die warmen Sachen sein. Karen folgt mir, nimmt einen schwarzen Steppmantel mit Kunstpelzkragen von der Stange und sucht ein paar Jeans zusammen. »Deine Nichte?«
Als ich nichts erwidere, nickt sie. »Ja, dachte ich mir. Ich wollte nur nicht indiskret sein.«
»Ist kompliziert.«
»Und sie bleibt über den Winter?«
Der skeptische Unterton in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Sian ist nicht die erste Frau, die den Shutdown bei uns verbringt, und Karen weiß, wie wir die vorherigen Winter verbracht haben.
»Sie …« Sie verzieht entschuldigend den Mund. »Na ja, ich will nicht … sie ist sehr jung.«
Ich bringe die Klamotten zur Kasse und bezahle. Ich schulde weder Karen noch sonst jemandem in der Stadt Rechenschaft über mein Sexleben. Natürlich denken sie, wir amüsieren uns mit der Kleinen. Aber das wird nicht passieren.
Ich habe nicht vor, sie noch einmal anzufassen.
Sian Masters ist tabu.
Als ich die Tüten mit den Klamotten auf die Rückbank stelle, wirft Sian einen Blick über die Schulter und schüttelt den Kopf. »Ich werde das nicht anziehen.«
Wortlos lasse ich mich hinters Steuer gleiten, starte den Motor und schalte die Heizung an. Erste Schneeflocken fallen auf die Windschutzscheibe. Die Luft riecht nach Eis und Kälte und mein Atem wird sichtbar. Vor uns liegt ein langer Winter.
Sian reibt sich die Hände und hält sie gegen das Gebläse der Heizung. »Können wir jetzt endlich zurück? Ich will nach Neva sehen.«
Ich lenke den Range Rover auf die Straße und gebe Gas.
Zuerst müssen wir noch etwas erledigen.