Kapitel 14

DA­VI­ON

Ich le­ge Sa­to­ris Kopf in mei­nen Schoß und küs­se sei­ne Stirn. Aus der klaf­fen­den Wun­de fließt Blut und tropft mir auf die Hand. Er jault vor Schmer­zen. »Alles wird gut, Bud­dy.«

»Kom­pres­sen und Des­in­fek­tions­mittel?«, ruft Si­an.

»Oben im Bad.«

Sie stürmt die Trep­pe hin­auf.

Ich wie­ge Sa­to­ri in mei­nen Ar­men und wünsch­te, ich hät­te Min­kow aus­wei­den kön­nen. Das Dreck­schwein wird ster­ben.

Nicht heu­te.

Nicht mor­gen, aber mei­ne Zeit wird kom­men.

Wenn es so weit ist, wer­de ich es lang­sam ma­chen.

Si­ans Schrit­te pol­tern auf der Trep­pe.

Sie springt über La­to hin­weg, der noch immer be­wusst­los am Boden liegt, kniet sich ne­ben mich und reißt has­tig ei­ne Ver­pa­ckung mit Kom­pres­sen auf. »Wie weit bis zum näch­sten Tier­arzt?«

»Kei­ne Chan­ce.« In we­ni­gen Ta­gen wird der Schnee ein­set­zen, die über­schwemm­ten Stra­ßen in Eis ver­wan­deln und uns von der Außen­welt tren­nen.

»Okay.« Sie at­met tief durch und pus­tet sich ei­ne Sträh­ne aus der Stirn. »Dann müs­sen wir es so ver­su­chen.«

Sie tränkt ein Wat­te­pad in Des­in­fek­tions­mittel. »Be­ru­hig ihn, das wird weh­tun.«

Ich strei­che­le über sei­ne Stirn und wünsch­te, Min­kow hät­te mich für sei­ne klei­ne Macht­de­mon­stra­tion ge­wählt.

»Alles gut, alles ist -«

Er schreit auf und ver­sucht, den Kopf zu he­ben, aber sei­ne Mus­keln sind noch immer ge­lähmt.

»Was hat er ihm ge­ge­ben?«, fra­ge ich.

»Wahr­schein­lich ei­nen neu­ro­mus­ku­lä­ren Blo­cker.« Sie tupft mit dem Pad über die blu­ten­de Wun­de. »Es gibt Mittel, die die Mus­keln läh­men, aber das Schmerz­emp­fin­den auf­recht er­hal­ten.«

»Wo­her kennst du dich mit dem Zeug aus?«

Sie nimmt ei­ne Kom­pres­se und drückt sie vor­sich­tig auf Sa­to­ris Wun­de. »Re­cher­che. Ich ha­be mich viel mit Me­di­ka­men­ten be­schäf­tigt.«

Pa­tri­cia. Sie hat sie wahr­schein­lich ge­pflegt und sich um sol­che Din­ge ge­küm­mert.

Sie sieht mich flüch­tig an und kon­zen­triert sich wie­der auf Sa­to­ri. »Ich woll­te nicht, dass er ver­letzt wird.«

»Ich weiß.«

Sie seufzt, nimmt die blut­durch­tränk­te Kom­pres­se von sei­nem Ohr und schüt­telt den Kopf. »Es hört nicht auf zu blu­ten.«

Ei­ne Wel­le aus Trau­er und Hass durch­flu­tet mich. Ich will das ver­damm­te Schwein auf den Stuhl in mei­nem Kel­ler schnal­len und ihn mir vor­neh­men. Lang­sam das Skal­pell durch sein Au­ge glei­ten las­sen, sei­ne Nä­gel mit ei­ner Zan­ge zie­hen und Säu­re in sei­ne Wun­den schüt­ten.

Sa­to­ri jault. Ich knei­fe mir in den Na­sen­rü­cken. »Ist gut, Bud­dy. Ist okay.«

Stöh­nend streckt La­to sei­ne Hand aus und reibt sich übers Ge­sicht. Er blickt sich um, ent­deckt uns und setzt sich lang­sam auf. »Schei­ße, was ist pas­siert?«

»Alles okay bei dir?«

Er nickt. »Ist Min­kow -«

»Noch nicht.«

La­to krab­belt zu uns, strei­chelt über Sa­to­ris Rü­cken und at­met laut aus. »Schei­ße, er hat ihm -«

»Ich glau­be, ich muss die Wun­de kau­te­ri­sie­ren.« Si­an sieht mich an. »Das wird höl­lisch weh­tun, aber wenn die Blu­tung nicht auf­hört, heilt es nicht.«

Ich drü­cke mei­nen Hund an mich und ver­gra­be mein Ge­sicht in sei­nem Na­cken. Sa­to­ri ver­dient nichts hier­von.

Er ist der ein­zig Un­schul­di­ge von uns.

Der Ein­zi­ge, der sich durch alles, was uns pas­siert ist, nicht ver­än­dert hat. Er ist mei­ne ein­zi­ge Kons­tan­te, mein Be­glei­ter, mein Freund. Mei­ne Er­in­ne­rung …

»Du willst ihm den Rest vom Ohr ab­fa­ckeln?« La­to zieht scharf die Luft ein. »Das ist hef­tig.«

Si­an steht auf, geht zur Kü­che und wühlt in den Schub­laden.

»Du hast eben un­ser To­des­ur­teil un­ter­schrie­ben«, flüs­tert La­to.

»Nicht jetzt.«

»Wann dann? Wenn er das näch­ste Mal -«

Mit ei­nem Hack­mes­ser in der Hand kommt Si­an zu uns. Sie um­wi­ckelt den Griff mit ei­nem Hand­tuch und hält die Klin­ge ins Feu­er. »Mir ist schlecht.«

Ja mir auch ver­dammt.

Als die Klin­ge glüht, at­met sie tief durch. »Ver­such, ihn ab­zu­len­ken.«

Sie weiß ge­nau­so gut wie ich, dass nichts hel­fen wird, um Sa­to­ri den Schmerz zu neh­men. Ich zie­he ihn mit dem Ober­körper auf mei­nen Schoß, neh­me sein Ge­sicht in mei­ne Hän­de und küs­se sei­ne Schnau­ze. »Halt durch, Bud­dy.«

Si­an strafft die Schul­tern, beugt sich vor und drückt die glü­hen­de Klin­ge auf die of­fe­ne Stel­le. Sa­to­ri schreit auf, ver­sucht, sich zu win­den, aber sei­ne Mus­keln sind noch immer ge­lähmt.

»Bist du fer­tig, ver­damm­te Schei­ße?« Für ei­nen Mo­ment tref­fen sich un­se­re Bli­cke. Erst jetzt be­mer­ke ich Trä­nen auf mei­nen Wan­gen.

Ich wi­sche sie weg und drü­cke mei­nen Hund an mich. »Alles okay, du wirst wie­der.«

Si­an ver­bin­det die Wun­de und streicht Sa­to­ri über die Flan­ke. »Er braucht An­ti­bio­ti­ka.«

»Im Bad ist wel­ches«, ant­wor­tet La­to.

»Eins für Hun­de?«

»Im Schrank rechts über der Spü­le.« Sa­to­ri wim­mert. Ich krau­le sein ge­sun­des Ohr. »Er hat sich vor ein paar Mo­na­ten ei­nen Na­gel ein­ge­tre­ten.«

»Ja stimmt.« La­to springt auf und rennt zur Kü­che.

»Er wird wie­der.« Die Sanft­heit ist aus ih­rer Stim­me ver­schwun­den, sie steht auf und sieht hin­über zu Bu­ford, um den sich ei­ne dun­kel­ro­te Blut­la­che ge­bil­det hat. »Das, was er ge­sagt hat  … Was hat er da­mit ge­meint?«

Das wüss­te ich auch ger­ne. Bu­ford hat mich ge­nau­so ver­ach­tet wie ich ihn. Ir­gend­et­was muss ihm wich­tig ge­nug ge­we­sen sein, um sei­nen letz­ten Atem­zug für mich zu ver­schwen­den. »Kei­ne Ah­nung.«

»Noch mehr Lü­gen.« Ihr Aus­druck ver­här­tet sich. »Noch mehr Ge­heim­nis­se. Wir sind fer­tig, Mr. Ca­ta­no.«

La­to öff­net den Mund, aber schließt ihn so­fort wie­der, als ich ihm ei­ne stum­me War­nung zu­wer­fe.

Si­an strei­chelt Sa­to­ri noch ein­mal und geht die Trep­pe hin­auf.

Se­kun­den spä­ter fällt ih­re Zim­mer­tür ins Schloss. Vor­sich­tig le­ge ich Sa­to­ris Kopf ab, zie­he ei­ne De­cke von der Couch und brei­te sie vor dem Ka­min aus. Ich schie­be sie un­ter sei­nen Körper und hof­fe, das Me­di­ka­ment lässt bald nach, da­mit er sich wie­der be­we­gen kann.

»Zu­erst er­zählst du mir, sie be­deu­tet dir nichts und jetzt op­ferst du un­ser Le­ben für sie?«

Ich ge­he zur Bar, neh­me mir ein Glas und schüt­te mir ei­nen gro­ßen Schluck Scotch ein. Ge­nau das, was ich jetzt brau­che. Ich stei­ge über Bu­fords Lei­che hin­weg, set­ze mich breit­bei­nig auf die Couch und se­he mei­nen Stief­sohn über den Rand des Gla­ses an. »Ich opfe­re gar nichts.«

»Wir ha­ben das Geld nicht und egal, wie viele Waf­fen du den Ka­na­diern gibst, wir wer­den es auch nicht be­kom­men. Aus­ge­rech­net du, der ach so kal­ku­lier­te Da­vi­on Ca­ta­no rei­tet uns in die­se Schei­ße. Wir sind so was von am Arsch.«

»Du tust es wie­der.«

»Ich tue was?«

»Du stellst mei­ne Autor­ität in­fra­ge.« Als er ant­wor­ten will, schüt­te­le ich den Kopf. »Vor Min­kow.«

»Weil ich mich nicht von Ge­füh­len lei­ten las­se?« Er lacht freud­los. »Du ver­damm­ter Heuch­ler! Erst pre­digst du mir die Schei­ße und dann hältst du dich selbst nicht da­ran.«

Ich stel­le das Glas auf den Tisch und ste­he auf. »Das hat­te nichts mit Ge­füh­len zu tun, wann ka­pierst du das? Die Klei­ne be­deu­tet -«

»Ach komm.« Er winkt ab. »Spars dir.«

»Es reicht, La­to.« Ich ha­be mir sei­ne Schei­ße lan­ge ge­nug an­ge­hört. Er hat allen Grund, wü­tend auf mich zu sein, und auch wenn ich es nicht zu­ge­ben will – ich ha­be un­über­legt ge­han­delt. Aber das gibt ihm noch lan­ge nicht das Recht, in dem Ton mit mir zu re­den. Ich bin kei­ner sei­ner pri­vi­le­gier­ten klei­nen Ya­le-Snobs, die zu ih­ren Eltern ren­nen, so­bald es Pro­ble­me gibt.

»Ja es reicht wirk­lich.« Er tritt ge­gen Bu­fords le­blo­sen Arm, der durch die La­che wischt und das Blut auf dem Boden ver­teilt. »Was willst du jetzt tun? Du­pont fra­gen, ob er die dop­pel­te Men­ge plus Auf­preis nimmt? In ein paar Ta­gen sit­zen wir hier fest. Wie willst du in der kur­zen Zeit so ei­nen De­al ein­tü­ten?«

Mei­ne Fin­ger krib­beln, ich tas­te nach der Knar­re in mei­nem Ho­sen­bund, aber ver­wer­fe den Ge­dan­ken. La­to mit ei­ner Waf­fe zu be­dro­hen, wä­re ein Zeichen von Schwäche und da­von ha­be ich heu­te ge­nug ge­zeigt. »Ich fin­de ei­ne Lö­sung und jetzt schaff das Schwein hier weg.«

»Das hät­ten wir sein kön­nen.«

Er irrt sich. Min­kow braucht uns. Wür­de er uns tö­ten, ent­gin­ge ihm nicht nur der größ­te Zwi­schen­lie­fe­rant von Mai­ne bis Ka­na­da, son­dern auch der un­auf­fäl­ligs­te. Ja, un­ser Ruf in Kilt­hor­ne Creek ist nicht un­be­dingt ta­del­los, aber wir ver­hal­ten uns ru­hig. Nie­mand kann uns et­was nach­wei­sen und was wol­len sie uns vor­wer­fen? Dass wir uns ab und zu amü­sie­ren und ein lu­xu­riö­ses Haus be­sit­zen?

La­tos Stirn legt sich in Fal­ten. »Wa­rum hat er den Leucht­turm er­wähnt?«

Das wer­de ich her­aus­fin­den.

»Bring ihn weg und mach die Schwei­ne­rei sau­ber.« Ich neh­me die Fla­sche Scotch, ge­he zu Sa­to­ri, he­be ihn hoch und tra­ge ihn die Trep­pe hin­auf. Nach­dem ich ihn auf mein Bett ge­legt ha­be, schlie­ße ich die Ba­de­zim­mer­tür, zie­he mich aus und neh­me die Fla­sche mit un­ter die Du­sche. Als hei­ßes Was­ser auf mich he­rab pras­selt, leh­ne ich die Stirn ge­gen die Flie­sen und schlie­ße die Augen.

Schei­ße.

Ich weiß nicht ein mal, was der größ­te Feh­ler war. Si­an an Bu­ford ver­kau­fen zu wol­len, ihr nichts von dem Schwein zu er­zäh­len oder den De­al mit Min­kow ab­zu­schlie­ßen.

Mein letz­ter gro­ße Feh­ler liegt vier Jah­re zurück und auch, wenn ich es da­mals nicht bes­ser wuss­te  … heu­te Abend ent­schul­digt nichts mei­ne Ent­schei­dun­gen.

Ich war schwach. Ich ha­be per­sön­li­che Emp­fin­dun­gen über die Ver­nunft ge­stellt und da­mit alles rui­niert.

Ich gie­ße mir ei­nen gro­ßen Schluck Scotch in den Mund, stel­le die Fla­sche ne­ben mich und wa­sche mir die Haa­re. Als ich fer­tig und wie­der halb­wegs klar im Kopf bin, trock­ne ich mich ab, se­he nach Sa­to­ri, der glü­ckli­cher­wei­se ein­ge­schla­fen ist, und zie­he mir ei­ne Jog­ging­ho­se und ei­nen schwar­zen Pull­over an.

Schon jetzt weiß ich, dass ich den näch­sten Schritt be­reu­en wer­de. Aber Si­an wird ein paar Wo­chen mit mir fest­sit­zen und es ist bes­ser, wir schaf­fen alles, was zwi­schen uns steht, so­fort aus der Welt.

Ich ver­las­se mein Zim­mer und klop­fe an ih­re Tür. Sie ant­wor­tet nicht, ich öff­ne die Tür trotz­dem.

Mit dem Rü­cken zu mir sitzt sie auf dem Ses­sel vor der Fens­ter­front und sieht hin­aus in die Wäl­der. »Ich hab dich nicht rein­ge­be­ten.«

»Das ist mein Haus. Ich war­te nicht auf Er­laub­nis.« Ich ge­he zu ihr und leh­ne mich ge­gen die Glas­front. »Das mit Bu­ford tut mir leid.«

Schwei­gend sieht sie durch mich hin­durch.

»Aber es macht kei­nen Un­ter­schied ob er oder Min­kow. Ich ha­be den De­al ge­can­celt, wir sind quitt.«

»Quitt.« Sie lacht ver­ächt­lich. »So ein­fach ja? Ich ver­hö­ke­re Trishs Tochter an den kri­mi­nel­len Ab­schaum, aber ich ret­te sie vor­her, al­so ist es okay. Fick dich, Da­vi­on.«

»Was willst du hö­ren?«

Sie hebt den Kopf. »Nichts. Gar nichts mehr.«

Ich ha­be mich ent­schul­digt, ihr alles ge­sagt, was sie wis­sen muss­te.

Ich ge­he zur Tür.

»Wa­rum?«

Ich dre­he mich zu ihr.

»Hast du je­man­den ge­fun­den, der mehr für mich be­zahlt, oder wa­rum hast du es ge­tan?«

Ich weiß es nicht. Ich weiß ver­dammt gar nichts mehr.

Viel­leicht liegt es an Trish.

Viel­leicht konn­te ich man­che Din­ge doch nicht so ein­fach zurück­las­sen, wie ich mir ge­wünscht hät­te. Viel­leicht ist Si­ans Auf­tau­chen mei­ne Stra­fe. »Ich schät­ze, ich schul­de es dei­ner Mutter.«

Sie steht auf und stürmt auf mich zu.

Ihr viel zu gro­ßes Shirt rutscht über ei­ne Schul­ter, ih­re hell­blon­den Haa­re flie­gen über die Wöl­bun­gen ih­rer Brüs­te und ich war­te nur da­rauf, dass sie mir wie­der ei­ne run­ter­haut, doch statt­des­sen baut sie sich vor mir auf.

»Nach drei­zehn Jah­ren? Willst du mich eigent­lich ver­ar­schen?« Sie stößt mir ge­gen die Brust. »Ei­ne Mail, ein An­ruf, ei­ne Scheiß­kar­te, ir­gend­was – das hät­test du ihr ge­schul­det.« Sie schubst mich wie­der, ich tau­me­le ge­gen die Zim­mer­tür. »Wo warst du, als sie krank wur­de? Wo warst du, als sie die Che­mo be­kom­men hat? Als sie sie ein­fach ha­ben ster­ben las­sen. Als ich nicht wuss­te, was ich tun soll, weil ich ein­fach nicht -« Das Schluch­zen un­ter­bricht sie. Si­an wischt sich mit dem Hand­rü­cken übers Ge­sicht. »Du ver­damm­tes Arsch­loch! Ich has­se dich!«

Ich stre­cke mei­ne Hand nach ihr aus, nicht si­cher, wie ich mich ver­hal­ten soll, doch sie schlägt sie weg. »Trish hat sich ab­ge­wen­det, nicht ich.«

»Je­der geht, ka­pierst du?« Si­ans Augen sind ge­rö­tet, ihr Kinn zit­tert. »Red­lan ist in At­lan­ta, Mom ist tot, du  … hast mich ver­ra­ten. Ich hab das alles so satt.« Ih­re Schul­tern sa­cken zu­sam­men, sie steht da wie ein Kind, das sich ver­lau­fen hat, und für ei­nen Mo­ment füh­le ich mich selbst ver­lo­ren. Ich zie­he sie an mich und schlie­ße sie in mei­ne Ar­me. Ih­re fla­che Hand klatscht in mein Ge­sicht.

»Fass mich nicht an!«

Schnel­ler als sie gu­cken kann, um­fas­se ich ihr Hand­ge­lenk und drü­cke ih­ren Arm nach un­ten. »Die eben ha­be ich ver­dient, aber es reicht, Mäd­chen.«

Ih­re Na­sen­flü­gel be­ben, ih­re Wan­gen sind ge­rö­tet, blan­ke Wut liegt in ih­rem Blick. Sie will mir mit der an­de­ren Hand ei­ne scheu­ern, ich drän­ge sie mit dem Rü­cken ge­gen die Tür und drü­cke ih­re Ar­me her­un­ter.

»Ich has­se dich!« Sie brüllt mir ih­re Wut ent­ge­gen und win­det sich in mei­nem Griff.

Ich las­se sie los, schie­be sie bei­sei­te und ver­las­se das Zim­mer.

Gott ver­dammt. Was ha­be ich mir da­bei ge­dacht, Min­kows De­al zu durch­kreu­zen? Ich hät­te sie ihm über­las­sen sol­len, denn ich schul­de Pa­tri­cia ei­nen ver­damm­ten Scheiß­dreck. Das Mäd­chen wird sich nicht wie La­to un­ter­ord­nen und ru­hig ver­hal­ten.

Si­an wird Pro­ble­me be­rei­ten.

Sie wird ver­su­chen, uns zu schaden.

Nor­mal­er­wei­se schaf­fe ich sol­che Men­schen aus dem Weg.

Doch wenn ich sie schon nicht tö­ten kann, muss ich sie un­ter Kon­trol­le brin­gen.

***

Re­gen klatscht ge­gen die Winds­chutz­schei­be und weht durch die zer­bro­che­ne Sei­ten­schei­be in mein Ge­sicht. Ich stel­le die Schei­ben­wi­scher hö­her und schie­be mei­ne Ka­pu­ze über den Kopf. Der Ran­ge Ro­ver kämpft sich berg­ab­wärts durch die Was­ser­mas­sen, die die Stra­ße ins Tal in ei­nen Fluss ver­wan­delt ha­ben. Je­des Mal, wenn die Rei­fen durch­dre­hen, schnellt Si­ans Hand zum Ar­ma­tu­ren­brett. »Du hät­test La­to mit­neh­men sol­len.«

Das den­ke ich nicht . Ich muss sie im Au­ge be­hal­ten, denn das Mäd­chen ist ei­ne ti­cken­de Zeit­bom­be.

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter er­rei­chen wir die Stadt.

Si­an lässt ih­ren Blick über die Sand­sä­cke vor den Ge­schäf­ten wan­dern und sieht mich ver­wirrt an. »Wo­zu das alles? Die Stra­ßen hier sind frei.«

Ich par­ke vorm Barn­hou­se, stei­ge aus dem Wagen und deu­te mit dem Fin­ger auf die Rin­ne ne­ben dem Geh­weg. »Vor fünf Jah­ren ist die Hälf­te der Ge­schäf­te zers­tört wor­den. Viele ha­ben ih­re Ar­beit und ih­re Woh­nun­gen ver­lo­ren. Seit­dem ha­ben sie hier un­ter­ir­di­sche Roh­re und Ab­flüs­se, die das Was­ser von den Häus­ern weg­lei­ten.«

Sie nickt, zieht ei­nen Zet­tel aus der Je­ans­ta­sche und sieht über ih­re Schul­ter zur Apot­he­ke. »Ich muss noch ein paar Sa­chen be­sor­gen.«

»Spä­ter, du kommst mit mir.«

Ih­re Mie­ne wird düs­ter. »Darf ich jetzt nicht mal mehr allei­ne ein­kau­fen ge­hen?«

Ich bin nicht gut in sol­chen Din­gen und ich ha­be kei­ne Ah­nung, wie ich es ihr bei­brin­gen soll, oh­ne sie zu ver­är­gern, aber vor al­lem ha­be ich kei­ne Ge­duld, mit ihr zu dis­ku­tie­ren. »Min­kows Leu­te sind über­all. Es ist zu ge­fähr­lich.«

»Du meinst ge­fähr­li­cher als bei dir?«

Als ich nichts er­wi­de­re, ver­dreht sie die Augen. »Ich has­se dich.«

Es klingt nicht so über­zeu­gend wie letz­te Nacht, aber ich bin si­cher, es ist die Wahr­heit. Sie ist nicht die Er­ste und sie wird nicht die Letz­te sein, die so über mich denkt. Ich bin ein Arsch­loch und ich ha­be nicht vor, et­was da­ran zu än­dern.

Ich set­ze mich in Be­we­gung, über­que­re die Stra­ße und tas­te nach dem Holz­griff des Mess­ers, das ich in mei­nen Ho­sen­bund ver­steckt un­ter dem Shirt bei mir tra­ge. Min­kow hat sei­nen Stand­punkt klar­ge­macht, aber ich be­zwei­fe­le, dass er für meh­re­re Wo­chen die Fin­ger ru­hig hält.

Als wir Ja­cksons Laden be­tre­ten, läu­tet die Klin­gel über der Tür. Mrs. Kel­ler­man, die am Regal mit den Kon­ser­ven steht und ei­ne Do­se in der Hand hält, sieht auf, schüt­telt den Kopf und wen­det sich an ih­re Freun­din, He­len McCal­lum, die die Na­se rümpft.

»Du hast wirk­lich über­all Fans«, flüs­tert Si­an hin­ter mir und schiebt sich an mir vor­bei. »Ich bin beim Ge­mü­ses­tand, falls das er­laubt ist, Dad

Sicht­lich emp­ört legt Kel­ler­man die Hand vor den Mund und steckt den Kopf mit McCal­lum zu­sam­men.

Ich las­se die bei­den ste­hen, ge­he zur The­ke, wo sich Ja­ckson mit dem al­ten Fred un­ter­hält. Als sie mich be­mer­ken, ver­stummt Ja­ckson. Fred macht ei­ne ab­schät­zi­ge Hand­ge­ste und trot­tet da­von.

Ja­ckson räu­spert sich. »Hal­lo Da­vi­on.«

»In­te­res­san­te Ge­sprä­che?« Es war kaum zu über­se­hen, über wen sie ge­spro­chen ha­ben.

Ver­le­gen räu­spert er sich wie­der und fährt sich durchs strup­pi­ge Haar. »Du kennst das – die Leu­te sind ge­lang­weilt und sie su­chen -«

»Schon klar.« Ich neh­me mir ei­ne Schach­tel Ziga­ret­ten aus dem Regal und le­ge sie auf die The­ke. »Hast du die Pa­let­ten?«

»Jap. Drei­ßig Do­sen ge­schäl­te To­ma­ten, zehn Pa­ckun­gen Reis  …« Er beugt sich über die The­ke und winkt mich zu sich. »Fred hat da eben was ge­sagt, die hal­be Stadt spricht schon und du weißt, ich fra­ge dich lie­ber selbst.«

Groß­ar­tig . Ich ver­schrän­ke die Ar­me vor der Brust und leh­ne mich mit der Sei­te ge­gen die Holz­the­ke.

Der Jun­ge ist in Ord­nung und gibt nicht viel um Ge­rüch­te, aber was auch immer er mir zu sa­gen hat, ich bin nicht in Stim­mung. »Stel­la hat zu we­nig zu tun.«

Er lacht. »Du kennst die al­te Schach­tel doch. Fred hat letz­te Nacht ge­se­hen, wie die­se Ty­pen, die manch­mal bei dir rum­hän­gen, Bu­ford ins Auto ge­zerrt und mit­ge­nom­men ha­ben.«

»Mhh.«

»Ja nach­dem er aus der Bar kam.« Ja­ckson senkt die Stim­me. »Die ha­ben ihn nicht zu­fäl­lig zu dir ge­bracht?«

»Wa­rum soll­ten sie?«

»Na ja, war nicht zu über­se­hen, dass ihr Stress hat­tet.«

»Ich hab Bu­ford seit dem Po­ke­ra­bend nicht mehr ge­se­hen.«

Ja­ckson leckt sich über die auf­ge­sprun­ge­nen Lip­pen, öff­net und schließt die Hän­de, wie immer wenn er ner­vös wird. »Dach­te ich mir schon, aber seit letz­ter Nacht hat ihn kei­ner mehr ge­se­hen.«

Ja, ent­schul­di­ge Jax. Der Bas­tard war zu sehr da­mit be­schäf­tigt, mir den Boden im Wohn­zim­mer mit sei­ner zer­fetz­ten Keh­le zu ver­sau­en.

Ich zu­cke die Schul­tern. »Und?«

»Ich weiß, aber er hat­te sei­nen Termin beim De­part­ment und egal, wie fer­tig er sonst war – er kam immer. Je­des Mal frisch ge­kämmt und ge­duscht.«

»Tja, das ist -«

Lau­tes La­chen ge­folgt von ei­nem Grö­len hallt von der Stra­ße.

Ich las­se sie ei­ne Mi­nu­te aus den Augen und sie haut ab.

Ich stür­me nach drau­ßen.

Si­an wringt sich la­chend Re­gen aus den Haaren, wäh­rend Je­re­my und Ste­ven um sie her­um­ste­hen, an ih­ren Ziga­ret­ten zie­hen und sie be­trach­ten, als wä­re sie ein exo­ti­sches Tier im Zoo.

»Geh rein.«

Sie blickt auf. »Wir re­den nur.«

Ich pa­cke ih­ren Ell­bogen und zie­he sie in Rich­tung Laden, doch sie be­freit sich mit ei­nem Ruck und bleibt ste­hen. »Ich bin nicht dein Haus­tier.«

»Stimmt, dann wä­re ich freund­li­cher.«

Sie lacht ver­ächt­lich und geht zurück zu den Jungs, die mich an­star­ren, als hät­ten sie ei­nen Geist ge­se­hen. Je­re­mys Mund­win­kel zu­cken, er zieht an sei­ner Kip­pe und bläst Rauch in die Luft. »Blei­ben Sie cool, Mr. Ca­ta­no. Wir ha­ben sie ja nicht ent­führt oder so.«

Ich schnip­pe die Kip­pe aus sei­nem Mund und beu­ge mich zu ihm. »Lass die Fin­ger von ihr.«

»Hey.« Sie packt mei­ne Schul­ter und will mich von ihm zie­hen, aber ich se­he ihn noch ei­nen Mo­ment an, um si­cher­zu­ge­hen, dass er ver­steht.

Je­re­my hebt ent­schul­di­gend die Hän­de. »Sor­ry Si­an, wir se­hen uns.« Die bei­den schlen­dern tu­schelnd da­von.

»Dan­ke.« Sie schiebt sich die Ka­pu­ze über den Kopf und geht zurück zum Laden. Ich ha­be kei­ne Lust, weiter mit ihr zu dis­ku­tie­ren, aber ich wer­de ih­re Wi­der­wor­te ver­dammt noch mal nicht ein­fach hin­neh­men. Mit ei­nem Satz bin ich bei ihr und drän­ge sie ge­gen die Holz­wand des Ge­schäfts. »Das ist mein ver­damm­ter Ernst. Was muss noch pas­sie­ren, da­mit du ver­stehst, wie ernst die Schei­ße ist?«

»Du meinst außer der auf­ge­schlitz­ten Keh­le mei­nes On­kels?« Sie schiebt mei­ne Hän­de von sich. »Kei­ne Sor­ge, ich habs ka­piert.«

Als ich den Laden wie­der be­tre­te, drängt sie sich an mir vor­bei und lässt mich ste­hen.

Die al­te McCal­lum schielt ver­stoh­len zu mir. »Wol­len Sie sich jetzt noch we­gen Ver­füh­rung Min­der­jäh­ri­ger straf­bar ma­chen?«

Oh­ne ihr Be­ach­tung zu schen­ken, ge­he ich zu Ja­ckson, ver­la­de die Pa­let­ten mit Lebens­mitteln im Kof­fer­raum und ge­he zur Kas­se. Si­an stellt ei­nen Korb mit fri­schen To­ma­ten, Gur­ken und Salat auf die The­ke.

Ja­ckson lacht lei­se und sieht mich ver­le­gen an.

»Kei­ne Sor­ge. Ich hab auch Fleisch ein­ge­packt.« Sie streicht sich die Hän­de an ih­rer Je­ans ab.

»Nor­mal­er­wei­se de­cken wir uns mit halt­ba­ren Lebens­mitteln ein.« Ja­ckson tippt mei­ne Be­stel­lung in die Kas­se ein.

»Das ist für mor­gen.« Sie zieht ei­nen Hun­dert-Dol­lar-Schein aus ih­rer Geld­bör­se und reicht ihn Jax. »Ich dach­te, ich steu­e­re was zur Par­ty bei.«

Jax wirft mir ei­nen amü­sier­ten Blick zu. »Na dann.«

»Was ist so lus­tig?«

Ja­ckson räu­spert sich ver­le­gen und ich ver­knei­fe mir ein Lä­cheln. Wir fei­ern, aber viel­leicht nicht so, wie sie es sich vor­stellt.

»Al­so das Grün­zeug auch, Dav?«

»Du hast sie ge­hört.«

Als wir zehn Mi­nu­ten spä­ter das ein­zi­ge Klei­dungs­ge­schäft in der Stadt be­tre­ten, ver­dun­kelt sich ih­re Mie­ne.

»Nicht ganz das, was du dir vor­ge­stellt hast?«

Sie sieht sich um und rümpft die Na­se. »So was stellt sich kei­ner un­ter drei­ßig vor, oh­ne Alb­träu­me zu krie­gen.«

Ich zie­he ein dun­kel­blau­es Thermo­ober­teil mit lan­gen Är­meln aus dem Regal, hal­te es vor ih­ren Ober­körper, um die Grö­ße ab­zu­schät­zen, und rei­che es ihr. »La­tos Kla­mot­ten sind viel zu groß.«

»Dann tra­ge ich mei­ne.« Sie schiebt das Ober­teil von sich.

»Rü­schenk­lei­der und zer­lö­cher­te Je­anss­horts? Wie lan­ge denkst du, über­lebst du da­mit?«

»Wahr­schein­lich län­ger, als wenn Min­kow mich in die Fin­ger be­kommt.«

»Wird er nicht, da­für sor­ge ich.«

Ihr Blick trifft mei­nen. Ich rech­ne mit Wut, doch sie sieht be­sorgt aus. »Bis du dei­ne Mei­nung än­derst.«

Ich neh­me das Shirt, zie­he zwei weite­re in weiß und schwarz aus dem Regal und be­grü­ße Ka­ren mit ei­nem Ni­cken.

»Nicht mehr lan­ge.« Lä­chelnd streckt sie Si­an ih­re Hand ent­ge­gen. »Man kann den Schnee schon rie­chen. Hi, ich bin Ka­ren.«

Si­an schüt­telt ih­re Hand, ih­re Mie­ne ist noch immer an­ge­spannt. »Hi. Si­an.«

Ka­ren mus­tert sie von oben bis un­ten und deu­tet mit dem Dau­men hin­ter sich. »Grö­ße S ist da hin­ten, wir ha­ben neue Ja­cken und Stie­fel rein­be­kom­men. Wenn du willst, zeig ich dir ein paar Mo­del­le.«

»Nicht nö­tig, dan­ke. War schön, Sie ken­nen­zu­ler­nen.« Sie sieht mich an. »Ich war­te im Wagen.«

Be­vor ich et­was er­wi­dern kann, ver­schwin­det sie.

»Hab ich was falsch ge­macht?« Ka­ren sieht ihr ver­wirrt nach.

»Nicht du. Ich.« Ich drü­cke ihr die Shirts in die Hand und lau­fe hin­über zur Damen­ab­tei­lung. Spä­tes­tens wenn die Minus­gra­de und das Eis ein­set­zen, wird sie froh über die war­men Sa­chen sein. Ka­ren folgt mir, nimmt ei­nen schwar­zen Stepp­man­tel mit Kunst­pelz­kra­gen von der Stan­ge und sucht ein paar Je­ans zu­sam­men. »Dei­ne Nich­te?«

Als ich nichts er­wi­de­re, nickt sie. »Ja, dach­te ich mir. Ich woll­te nur nicht in­dis­kret sein.«

»Ist kom­pli­ziert.«

»Und sie bleibt über den Win­ter?«

Der skep­ti­sche Un­ter­ton in ih­rer Stim­me ist nicht zu über­hö­ren. Si­an ist nicht die er­ste Frau, die den Shut­down bei uns ver­bringt, und Ka­ren weiß, wie wir die vor­he­ri­gen Win­ter ver­bracht ha­ben.

»Sie  …« Sie ver­zieht ent­schul­di­gend den Mund. »Na ja, ich will nicht  … sie ist sehr jung.«

Ich brin­ge die Kla­mot­ten zur Kas­se und be­zah­le. Ich schul­de we­der Ka­ren noch sonst je­man­dem in der Stadt Rechen­schaft über mein Sex­le­ben. Na­tür­lich den­ken sie, wir amü­sie­ren uns mit der Klei­nen. Aber das wird nicht pas­sie­ren.

Ich ha­be nicht vor, sie noch ein­mal an­zu­fas­sen.

Si­an Mas­ters ist ta­bu.

Als ich die Tü­ten mit den Kla­mot­ten auf die Rück­bank stel­le, wirft Si­an ei­nen Blick über die Schul­ter und schüt­telt den Kopf. »Ich wer­de das nicht an­zie­hen.«

Wort­los las­se ich mich hin­ters Steu­er glei­ten, star­te den Motor und schal­te die Hei­zung an. Er­ste Schneef­lo­cken fal­len auf die Winds­chutz­schei­be. Die Luft riecht nach Eis und Käl­te und mein Atem wird sicht­bar. Vor uns liegt ein lan­ger Win­ter.

Si­an reibt sich die Hän­de und hält sie ge­gen das Ge­blä­se der Hei­zung. »Kön­nen wir jetzt end­lich zurück? Ich will nach Ne­va se­hen.«

Ich len­ke den Ran­ge Ro­ver auf die Stra­ße und ge­be Gas.

Zu­erst müs­sen wir noch et­was er­le­di­gen.