DAVION
Rauch steigt aus den Schornsteinen der alten Fabrikhalle, als ich den Jeep auf den leeren Parkplatz lenke, den Motor ausschalte und meinen Blick über die zerbrochenen Fensterscheiben schweifen lasse. Die bunten Graffitischmierereien auf dem grauen Beton wirken wie der reinste Hohn.
Neben mir atmet Lato laut aus. »Genauso gut könntest du dir ’ne Knarre in den Mund schieben.«
Ich deute hoch zum Eisentor, über dem eine kleine rote Lampe blinkt. »Die wissen, dass wir hier sind, und wir leben noch.«
»Ja aber wie lange?« Er wirkt nicht nur besorgt, Lato hat Angst.
Mir gefällt die Sache auch nicht, aber Minkow ist eine tickende Zeitbombe und sie droht jeden Tag hochzugehen. Ich kann nicht länger auf Zeit spielen.
»DiResta hasst Minkow, er wird sich die Sache anhören.«
»Und uns danach exekutieren.«
»Nicht, wenn wir ihm etwas bieten, das Minkow erledigt.«
Lato lacht bitter. »Wir haben aber nichts.«
Noch nicht . »Das muss er nicht wissen.«
»Das ist Wahnsinn, Dav. Selbst wenn er mitspielt … Das ist, als würdest du dich zwischen Pest und Cholera entscheiden müssen.«
Ich öffne die Wagentür und steige aus. Eisiger Morgenwind weht den Gestank von Fisch und Blut zu mir und mein Magen verkrampft sich. Sian und Lato halten mich für eine Maschine und ich gebe mir alle Mühe, das Bild aufrecht zu erhalten.
Aber die Wahrheit ist, alles, was zwischen ihr und mir vorgefallen ist, das, was mit den Tieren passiert ist, hat Spuren hinterlassen.
Ich schlafe kaum, ertappe mich dabei, wie ich mir wünsche, sie wieder in meinem Bett zu haben. Ihre warme, weiche Haut an meiner zu spüren und mein Gesicht in ihrem Haar zu vergraben, um für eine Weile alles zu vergessen. Zu vergessen, dass Minkow jeden Tag zuschlagen und sie töten könnte.
Ich denke daran, wie sie sich angefühlt hat. Wie es war, sie zu berühren. Ihre Lippen auf meinem Hals zu spüren. Ihre großen Augen und ihr Lächeln, als wir aufs Meer blickten und sie sich daran erinnerte, wie wir früher waren.
Sie, das Kind, das offen und neugierig die Welt erkunden wollte.
Ich der Mann, der sie vor allem Bösen beschützen wollte.
Der einmal gut war und alles richtig machen wollte.
Heute will ich nur noch überleben.
Lato schlägt die Wagentür zu, doch ich winke ab.
»Ich habe gesagt, ich will dich nicht dabei haben.«
»Tja wir beide oder keiner, Dav.«
»Du hättest bei ihr bleiben sollen.« Sie hat Angst und ich habe nichts getan, um sie ihr zu nehmen.
»Gestern hast du mich rausgeschmissen, als ich sie küssen wollte.«
Etwas, auf das ich nicht stolz bin. Sian ist tabu. Die Nacht mit ihr war ein Fehler. Jedes Gefühl, das ich für sie habe, ist ein Fehler.
Ich gehe auf die Eisentür zu, schiebe die Hände in die Jackentaschen und sehe hoch zur Kamera. Summend folgt sie meinen Bewegungen und fokussiert einen Augenblick. Schwere Schritte schlurfen hinter der Eisentür, quietschend öffnet sie sich einen Spalt und ein Fleischbrocken mit platinblonden Haaren und Anzug, streckt seinen Kopf ein Stück heraus. »Was wollt ihr?«
»Ich habe ein Angebot für Mr. DiResta.«
Der Fleischbrocken lacht und will die Tür schließen. »Kein Bedarf.«
»Es geht um Minkow.«
Er hält inne, wirft einen Blick über die Schulter und nickt. Er öffnet das Eisentor und macht eine Handbewegung, damit wir eintreten.
Der Gestank von frischem Blut steigt in meine Nase. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie sich Lato kurz eine Hand unter die Nase hält. Alles hier stinkt nach Tod.
Ein Grab aus Beton und Stahl, das bei Anbruch der Nacht seine gierigen Klauen ausstreckt, um weitere hoffnungslose Seelen ins Fegefeuer zu befördern.
»Hier entlang.« Der Fleischbrocken führt uns vorbei an einem Stahltresen, dessen silber polierte Oberfläche mit den Chrombarhockern um die Wette strahlt. Beleuchtete Glasregale mit den teuersten Spirituosen zieren die Backsteinwände, rechts und links gibt es Loungebereiche in deren schweren Ledersesseln sich die hochkarätigen Gäste die Scheine zustecken, um ihre Wetten für die abendlichen Veranstaltungen abzugeben.
Am Ende der Empfangshalle, die vor Jahrzehnten einmal als Schiffsfabrik diente, steigen wir drei Stufen hoch zu einer weiteren Stahltür. Der Fleischbrocken klopft an, wartet einige Sekunden und öffnet uns die Tür. »Mr. DiResta empfängt Sie jetzt.«
Hinter mir höre ich Lato ausatmen. Er ist angespannt. Einer der Gründe, warum ich ihn nicht dabei haben wollte.
DiResta sitzt hinter seinem Massivholzschreibtisch und legt Papiere beiseite. Als ich näher komme, erhebt er sich, knöpft mit einer geschickten Bewegung sein Jackett zu und reicht mir die Hand. »Ich hätte nie mit Ihnen gerechnet, Mr. Catano. Bitte.« Er macht eine ausschweifende Handgeste. »Setzen Sie sich.« Für einen Moment fällt sein Blick auf Lato, dann setzt er sich wieder, legt die Ellbogen auf der Tischplatte ab und beugt sich leicht nach vorne.
Ich nehme neben Lato Platz und schiele zur Seite. Der Fleischbrocken steht kerzengerade mit den Händen im Schoß verschränkt da.
»Ich gehe davon aus, Sie sind intelligent genug, um nichts zu versuchen, Mr. Catano.«
»Ich will reden.«
DiResta nickt dem Fleischbrocken zu. »Ist in Ordnung.«
»Wenn Sie etwas brauchen, ich bin draußen.« Die Tür schließt sich. DiResta richtet den Blick wieder auf mich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wir werden unsere Geschäfte mit Mr. Minkow demnächst niederlegen. Es haben sich … Komplikationen ergeben.«
Seine rundlichen Wangen spannen sich an, seine Mundwinkel zucken. DiRestas Schadenfreude ist kaum zu übersehen. »Das überrascht mich. Kilthorne Creeks Dream Team geht getrennte Wege. Ich erinnere mich noch zu gut an Ihre Anfangszeit, Mr. Catano. Sie haben gute, sehr gute Angebote abgelehnt, um für Minkow den Laufburschen zu spielen.«
Er spielt seine Karten aus und genießt meine Lage.
Ich nehme es ihm nicht einmal übel. Nach all den Jahren die Genugtuung meiner Niederlage zu erleben, muss sich berauschend anfühlen.
»Ich habe mich damals für das entschieden, was ich für richtig hielt.«
»Aber ich verstehe nicht ganz meine Rolle. Sie sind nicht hier, um mein damaliges Angebot anzunehmen. Sie waren schon immer arrogant, Mr. Catano. Womit kann ich dann dienen?«
Seine Subtilität geht mir auf die Nerven. Sian hat Latos Zettel auf der Theke sicher längst entdeckt und nach dem, was passiert ist, will ich sie nicht lange alleine lassen.
Ich falte die Hände im Schoß und lehne mich zurück. »Sie wissen, wie das läuft. Man steigt nicht einfach bei Minkow aus.«
Er nickt. »Ich dachte immer, Sie könnten sich selbst beschützen.«
»Es haben sich Dinge ergeben, die die Angelegenheit erschweren.«
»Dinge?«
»Spielt keine Ro…«
»Vertrauen, Mr. Catano. Wenn ich Ihnen helfen soll, erwarte ich Ehrlichkeit.«
Lato räuspert sich nervös und auch mir gefällt die Sache nicht. Hierher zu kommen, war das eine, aber nach allem, was ich ihr zugemutet habe, will ich sie nicht in weitere Kriege hineinziehen.
DiResta erhebt sich. »Dann tut es mir leid.«
Ich winke ab, er setzt sich wieder.
»Der letzte Deal lief nicht wie geplant. Ich schulde Minkow Geld.«
Er lächelt wissend. »Das tut mir ebenfalls leid.«
»Ich habe Unterlagen, die ihn überführen. Wir können ihn sauber aus dem Weg schaffen. Siebzig Prozent der Kanada-Touren gingen damit an Sie.«
Siebzig Prozent, die Andrew DiResta seit Jahren fehlen. Damit würde das Monopol an ihn übergehen. Kilthorne Creeks florierende Untergrundwirtschaft würde nicht länger geteilt. »Hundert Prozent. Vierhundert Millionen mehr im Jahr.«
Seine Nasenflügel weiten sich, doch nichts an seiner Miene verändert sich. Andrew DiResta ist nicht wie Minkow, der seine Emotionen nach außen trägt. DiRestas Maske sitzt tadellos.
»Was haben Sie davon?« Er schüttet sich ein Glas mit Wasser ein und trinkt einen Schluck.
»Ich steige aus und liefere Ihnen Minkow. Sie garantieren für die körperliche und finanzielle Sicherheit meiner Familie und ich bin raus aus dem Geschäft.«
»Sie wollen aussteigen?«
Latos Kopf schießt zur Seite, doch ich ignoriere ihn. »Der Preis ist es einfach nicht mehr wert.«
DiResta lacht. »Sechs Millionen pro Jahr sind es nicht wert?«
»Kommen wir ins Geschäft?«
»Um was für belastendes Material handelt es sich?«
Jetzt kommst du zum Teil, bei dem du am Abgrund entlangschlitterst .
Ich bin noch immer fest davon überzeugt, dass uns Bufords Geheimnis in die Karten spielt. Er hatte nichts mehr zu verlieren, aber er liebte Sian und wollte sie beschützen. Auf seine kranke Art wollte er sie beschützen. Etwas, das Minkow das Genick brechen wird, liegt irgendwo in einem Schließfach. Ich weiß nur noch nicht, was.
»Eine Auflistung der Routen und Kunden. Bewirkt Wunder als anonymer Tipp bei der Grenzpolizei.«
Er stützt die Ellbogen auf und sieht mich sekundenlang an. Falls er mich einschüchtern will, gelingt es ihm nicht. Ich habe keine Angst vor Menschen wie Minkow oder DiResta. Viel mehr fürchte ich mich vor denen, die verborgen hinter dem Gesicht der Rechtschaffenheit Verbrechen begehen.
Der freundliche Onkel, der seine sechsjährige Nichte vergewaltigt.
Die Krankenschwester, die ihren Patienten Gift in die Venen spritzt.
Der Priester, der nach der Beichte kleine Jungen ins Hinterzimmer lockt.
Nicht die Dunkelheit, sondern das Licht bringt die größten Monster hervor.
»Woher haben Sie besagte Unterlagen?«, fragt er.
»Das spielt keine Rolle.«
»Und wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen traue? Wer garantiert mir, dass Sie diese Unterlagen überhaupt besitzen? Dass Minkow Sie nicht geschickt hat, um irgendeinen perfiden Plan durchzusetzen? Vertrauen muss man sich verdienen, Mr. Catano.«
»Minkow hat meine Tiere getötet, ich bin fertig mit ihm.«
Er lacht. »Sie und Ihre verrückte Tierliebe. Hat er Ihren Hund angerührt?«
»Lassen Sie mich beweisen, dass es mir ernst ist.« Wahrscheinlich schickt er mich zu Minkow, um ihm Informationen zum nächsten Deal zu besorgen. Oder zur Grenze, um dort Deals zu verhindern. Was auch immer er verlangt, ich bin vorbereitet.
»Haben Sie sich jemals gefragt, warum ich dieses Etablissement ins Leben gerufen habe?«
»Es ist lukrativ.«
»Blut ist Macht, Mr. Catano. Regnum sanguinis sanctum est. Es rettet oder tötet uns. Es gibt nichts Ehrlicheres als Blut. Mr. Doakes da draußen hat das verstanden. Nur deswegen gehört er zu meinen engsten Vertrauten.«
Lato sieht mich verwirrt an und auch ich bin nicht sicher, was DiResta mir damit sagen will.
Er lächelt. »Jeder Spieler hat seine Gefolgsleute und jeder dieser Männer hat eine Aufgabe. Ihre ist es, meine Intentionen nicht zu hinterfragen.«
Die Sache gefällt mir nicht. Ich komme mit nichts und gehe mit noch weniger. Minkow ist uns immer zwei Schritte voraus und mir läuft die Zeit davon. »Was schlagen Sie vor?«
»Ihr Blut für mein Vertrauen. Übermorgen. Dreiundzwanzig Uhr.«
Neben mir atmet Lato scharf ein.
»Gewinnen Sie, kommen wir ins Geschäft. Verlieren Sie … Na ja, dann müssen Sie sich wegen Minkow nicht mehr sorgen.«
***
»Fehlanzeige.« Lato bleibt auf dem Treppenabsatz stehen. »Oben ist sie auch nicht.«
»Satori ist auch nicht hier.« Er würde nie freiwillig mitgehen. Ich streiche mir durchs Haar und sehe aus dem Fenster, in die Nacht. »Sie kennt sich nicht aus. Wenn sie da irgendwo -«
Die Haustür öffnet sich.
Sian und Satori kommen herein. Sie zieht ihre Jacke aus, reibt sich den Schnee aus dem Haar und betritt das Wohnzimmer. »Ich dachte schon, Minkow hätte euch in die -«
»Wo zur Hölle warst du? Wie verdammt noch mal hast du meinen Hund dazu gebracht, mitzugehen?«
Satori gehorcht noch nicht mal Lato.
Sie lächelt und streichelt seinen Kopf. »Wir sind Buddys.«
»Scheiße, du kannst nicht einfach abhauen.«
»Aber ihr schon? Ihr wart den halben Tag weg. Mir war langweilig, also habe ich Shadow gesucht. Er ist draußen.«
»Du hast was?« Latos Augen weiten sich. »Gehts ihm gut?«
»Er hat an der Brust ziemlich was abbekommen und er ist total durchgefroren, aber er scheint okay zu sein. Ich wusste nur nicht, wo ich ihn unterbringen soll.«
»Ich kümmere mich drum.« Lato schnappt sich seine Jacke und verlässt das Haus.
Als er verschwunden ist, lässt Sian sich auf die Couch fallen. Ihre Wangen sind rot, Schneeflocken hängen in ihren Wimpern, ihre Lippen sind bläulich. Sie lehnt sich zurück und zieht die Beine dicht an den Körper. Ohne mich zu begrüßen, springt mein Hund auf die Couch und legt sich neben sie.
»Was sollte das? Ihr schleicht euch weg, während ich schlafe?«
»Du hättest mitkommen wollen.«
»Und ob. Wo wart ihr überhaupt?«
Breitbeinig setze ich mich neben sie.
Sian sieht mich an. »Es hat was mit diesem DiResta zu tun.«
Ich nicke.
»Hat es etwas gebracht?«
»Nicht so, wie ich gehofft habe, aber ja. Wenn alles gut geht, hilft er uns.«
»Was will er dafür?« Ihre Miene ist besorgt. Sie weiß, alles in meiner Welt kostet einen hohen Preis.
Ich schweige, denn ich will sie nicht beunruhigen. Es genügt, wenn Lato sich sorgt.
»Davion.« Sie legt eine Hand an meine Wange, damit ich sie ansehe. »Was will er?«
In dem Moment kommt Lato zurück. Er räuspert sich und setzt sich auf den Sessel gegenüber.
Sian sieht zwischen uns hin und her. »Ihr macht mir Angst.«
»Dav soll kämpfen.«
»Boxen?«
»So ähnlich.« Er sieht mich an und zuckt mit den Schultern. »Sie würde es sowieso erfahren.«
»Gott verdammt. Ich gewinne, also kein Grund -«
»Was passiert, wenn du verlierst?«, fragt sie vorsichtig.
»Dann stirbt er.«
»Was?«
»DiResta veranstaltet Blutkämpfe für die Elite«, antwortet Lato. »Das Event in Kilthorne Creek. Zumindest für diejenigen, die Bescheid wissen. Eine Möglichkeit, die Stadt sauber zu halten.«
»Es gibt reiche Leute in Kilthorne Creek?«, fragt Sian irritiert.
Lato schüttelt den Kopf. »Man munkelt, er hat Kontakte nach Whitecrest.«
»Und was bedeutet das? Ich kapiere gar nichts mehr.«
Sian steht auf und reibt sich die Stirn. Sie schweigt einen Moment, aber in ihrem Blick liegt Angst. Genau das, was ich vermeiden wollte. Sie hat genug mitgemacht.
»Es ist alles okay. Ich kämpfe, gewinne und ziehe DiResta auf unsere Seite.«
»Nichts für ungut, Dav, aber die meisten Kämpfer sind einige Jahre jünger als du. Selbst wenn du gewinnst … denkst du, er bemerkt den Bluff mit den Beweisen nicht? Ich sags nicht gerne, aber deine Chancen sind nicht die besten.«
»Ich liebe deine Ehrlichkeit, Junge.«
Er zuckt mit den Schultern. »Wir haben keine Zeit für Lügen.«
»Welche Beweise?«, fragt Sian. »Scheiße, könnt ihr mir mal sagen, was hier los ist?«
Lato erzählt ihr von unserem Gespräch mit DiResta. Sian lässt sich wieder neben mich fallen. »Also bleiben uns zwei Tage.« Sie nimmt den Atlas vom Tisch. »Das kriege ich hin.«
»Was ist mit Teil eins?« Lato sieht mich an. »Wann hast du das letzte Mal geboxt?«
Als ich in Miami bei Tyler war. Es war ein harmloser Kampf unter Freunden, bei dem ich gemerkt habe, wie schwach meine Linke geworden ist. »Ist eine Weile her.«
»Wie willst du dann in zwei Tagen fit werden?«
»Wir können trainieren.« Sian schiebt den Atlas beiseite. »Ich bin wirklich gut.«
»Ich schlage keine Mädchen.«
»Du wirst dich noch umsehen, Mr.« Sie steht auf und zieht mich an meinem Handgelenk hoch. »Uns bleiben zwei Tage. Also los.«