Normal sein

Es riecht nach geschmolzenem Harzer Käse, Knoblauch und Miesmuscheln. Eine Mischung, wie sie nur mein Vater vertrug, und mir wird von jetzt auf gleich wieder ganz flau im Magen. Ich hasste es nicht nur, wenn er die Muscheln direkt aus der Schale aß und dazu gleich mehrere Flaschen Wein leerte, sondern auch, dass der Gestank noch Tage später über den schmalen Flur bis nach oben in mein Zimmer zu riechen war. Die Erinnerung lässt sofort wieder Ekel und Abscheu in mir aufsteigen. Aber ich fühle mich nicht wie früher hilflos und gelähmt, heute widert es mich einfach nur an.

Mit einem geübten Handgriff öffne ich das klemmende Küchenfenster, um frische Luft hereinzulassen. Ich atme dreimal tief ein und wieder aus, damit sich mein Puls etwas beruhigt, ehe ich den Stuhl, den Tim beim Hinausstürmen umgeworfen hat, wieder an seinen Platz stelle.

Ich spüre, wie unbeschreiblich wütend ich darüber bin, sie eingeschüchtert und völlig aufgelöst auf ihrem Küchenstuhl in der rechten Ecke kauern zu sehen. Wie schön das auch immer mit den Achtsamkeitsübungen klingen mag, mir hilft jetzt kein noch so entspannendes Ein- und Ausatmen. Ich bin und bleibe richtig sauer. Der Gestank tut sicher sein Übriges, das will ich gar nicht abstreiten.

Um sie nicht noch mehr zu verstören, reiße ich mich zusammen, atme doch noch mal tief durch und wiederhole die Frage exakt im Tonfall ihrer eigenen Gedanken: »Was du jetzt tun sollst?«

Nicht mal im Ansatz verwundert, dafür mit hochroten Wangen und leeren, traurigen Augen, blickt sie mich an.

»Zuallererst wünsche ich mir, dass du dir vor Augen führst: Ihn hat nicht das Gerücht an sich ausrasten lassen, sondern einzig und allein die Tatsache, dass deine Behauptung, ihr wärt ein Paar, eben gar nicht so unglaubwürdig war, wie er und sein großes Ego es gerne gehabt hätten! Ja, die Lüge war scheiße, sogar richtig scheiße, da gibt es keine zwei Meinungen, doch seine Nummer eben war es auch.«

»Aber er hat recht, ich habe ihn einfach total vor den anderen blamiert …«, setzt sie gerade tatsächlich an, ihn in Schutz zu nehmen, als sie sich ruckartig zusammenkrümmt und mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm um ihren Bauch legt.

»Yep, bei so einem Mist, den sich deine Gedanken zusammenreimen, würde mir auch die Galle hochkommen!«, murmele ich leise, sodass sie es zum Glück nicht hört, und gehe zur Küchenzeile, um ihr zur Beruhigung einen warmen Tee zu kochen. Mein Blick fällt auf meine Lieblingstasse mit dem kleinen Sprung am oberen Rand, und ich merke, dass ich auch gut einen brauchen könnte.

Ich hatte total verdrängt, wie sehr ich jeden Menschen, der mich ausnahmsweise mal nicht beleidigte, sondern einfach nur gerne Zeit mit mir verbrachte, direkt auf einen glorifizierenden Alles-an-ihm-ist-wunderbar-Sockel gestellt habe. Einmal oben, sah ich jedes Verhalten nur noch wie durch einen weichzeichnenden Sternenstaubfilter.

Nächtelange Telefonate, selbst vor den wichtigsten Klassenarbeiten, in denen ich mir anhörte, wie sehr Tim leide, weil sich seine Angebetete so gar nicht für ihn interessierte? Wow, was für ein Vertrauensbeweis, dass er sich mir gegenüber derart öffnete. Scheiß doch auf die Klausur!

Kein einziges Dankeschön für alles, was ich immer stundenlang in der Küche vorbereitete? Wie schön, dass er es als Selbstverständlichkeit empfand. Das zeigte doch nur, wie nah wir uns waren.

Wenn er mich mal wieder versetzte, ohne Bescheid zu sagen, und am nächsten Tag tat, als wäre gar nichts gewesen? Kein Problem, es ging bestimmt um etwas Wichtiges. Natürlich wichtiger als ich. Und am nächsten Tag hatte er zum Glück wieder Zeit für mich, da mussten wir uns nicht mit solch nichtigen Kleinigkeiten beschäftigen, warum also die Stimmung ruinieren? Er wird sicher gute Gründe gehabt haben.

Bei einem Telefonat beleidigt auflegen, weil ich es frecherweise gewagt habe, anderer Meinung zu sein? Natürlich lag der Fehler eindeutig bei mir, selbstverständlich entschuldigte ich mich so lange, bis er mich endlich nicht mehr ignorierte oder meine Anrufe wegdrückte. Was fiel mir denn auch ein, eine eigene Meinung zu haben? Noch dazu eine, um die er mich nicht gebeten hatte. Außerdem wollte er nur etwas loswerden, und ich hatte ihn fälschlicherweise unterbrochen, anstatt ihm und seinen bedeutsamen Ausführungen freien Lauf zu lassen. Ich sollte mich in Zukunft einfach besser zusammenreißen.

Würde nicht just in diesem Moment das fünfte »Klack« des Minutenzeigers ankündigen, dass der Tee fertig ist, würden sich meine Erinnerungen sicher endlos weiter zu einem Turm der Selbstwertzerstörung aufeinanderstapeln. Was für ein Wahnsinn!

Heute wäre das für mich absolut undenkbar. Es gibt kaum etwas, das mir so wichtig ist, wie klare Grenzen zu setzen. Nicht gegen jemand anderen, sondern für mich. Und die Menschen, die jetzt in meinem Leben sind, begegnen mir voller Liebe und Wertschätzung und respektieren meine Grenzen sehr gerne, genauso wie ich ihre.

Kopfschüttelnd über das, was ich jahrzehntelang nicht nur als völlig normal angesehen, sondern auch immer wieder voller Dankbarkeit als ehrliche Freundschaft empfunden habe, ziehe ich mir den Stuhl heran, setze mich neben sie und stelle ihr die Teetasse vor die Nase.

Ich durchbreche mit deutlichen Worten die Stille: »Du hast gelogen und fühlst dich jetzt scheiße. Aber nicht wegen der Lüge, sondern weil du aufgeflogen bist!« Wow, wo kam das denn auf einmal her? Beeindruckt, wie gut ich die Situation auf den Punkt gebracht habe, setze ich mich automatisch aufrechter hin und nehme damit äußerlich eine Haltung ein, die zu meiner inneren passt. Das gehört sonst eher nicht zu meinen Stärken. Weder eine gerade Haltung noch Dinge gut auf den Punkt zu bringen. Von der Deutlichkeit meiner Worte erschrocken, stößt sie beim Absetzen der Teetasse gegen die Tischkante. Ein paar heiße Tropfen landen auf ihrer Hose, aber sie scheint es nicht mal zu bemerken. Stattdessen nickt sie zaghaft und zieht die Nase hoch.

»Aber ich konnte doch gar nichts dafür, dass es so eskaliert ist«, sagt sie leise und voller Wehmut. Ich bin fast ein bisschen beeindruckt, denn wie aufs Stichwort senkt sie den Kopf, und ihre Augen füllen sich sofort wieder mit Tränen. Lügen, ein komplett zerstörtes Selbstwertgefühl und on top eine gehörige Portion Selbstmitleid. Oh, Mann, so viele Baustellen.

Das ist ein wirklich befremdliches Gefühl, mal als äußere Beobachterin live mitzuerleben, wie verdammt wohl ich mich immer in dieser Opferrolle gefühlt habe. So erschreckend wohl, dass ich es mir sogar selbst geglaubt habe.

Ich schaue genau hin, damit ich ihr kein Unrecht tue. Nein, in ihren Augen sehe ich nicht den kleinsten Anflug von Unsicherheit über diese Aussage, stattdessen die volle Überzeugung von der eigenen Unschuld. Einfach die Verantwortung abgeben, um bloß nicht für den selbst verzapften Scheiß geradestehen zu müssen. Lieber wegducken, als sich der Situation zu stellen. Ja, das klingt nach mir. Leider viel zu sehr.

Warum, verdammt noch mal, zeigen sich, wenn man erst mal ein Problem erkannt hat, gleich fünf neue, noch bevor man dieses lösen konnte? Wie soll man das alles aufdröseln, wenn es derart ineinander verknotet ist wie Kopfhörer, die man in eine Tasche gesteckt hat?

Von wegen, es wird besser, wenn du dich dazu entschieden hast, ein Problem in Angriff zu nehmen. Im Gegenteil, zunächst gibt es Chaos im Kopf und völlig egal, welches Problem du zu greifen versuchst, es ist alles nur noch ein unübersichtliches, überforderndes Kuddelmuddel.

Meine Gedanken haben sich aber auch ganz schön verheddert, wo war ich? Ohne meinen Kopf zu drehen, blicke ich sie aus den Augenwinkeln an, als würde ich auf ein Zeichen von ihr warten. Tatsächlich schaut sich mich direkt an. Erschrocken senken wir beide die Blicke wieder in unsere Teetassen. Na bravo, so kommen wir hier echt keinen Schritt weiter.

Ich nehme doch wieder eine etwas weniger aufrechte Haltung ein, atme auffällig schwer und versuche da anzusetzen, wo wir gerade nur allzu gerne gedanklich ausgestiegen sind. Was auch kein Wunder ist, wer gibt schon gerne zu, dass er lügt?

Da es nun für uns beide ziemlich unangenehm werden wird, lasse ich meine Stimme so entspannt wie möglich klingen: »Stimmt, dass ihr das nicht in einem normalen Gespräch wie eine fast Achtzehnjährige und ein über Zwanzigjähriger klären konntet, ist absolut nicht deine Schuld. Aber wir wissen beide, dass du an der Entstehung dieses Gerüchtes nicht so unbeteiligt warst, wie es sich eben in deiner Erzählung angehört hat.«

»Nichts von dem, was ich gesagt habe, war gelogen!«, rechtfertigt sie sich empört und verschränkt abwehrend die Arme, ehe sie sich, soweit es auf diesem Küchenstuhl überhaupt möglich ist, von mir weglehnt.

Ich wiege den Kopf hin und her, als würde ich den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage abwägen, und schlackere beim Ausatmen mit den Lippen.

»Nichts von dem, was du von der Party erzählt hast, ist unwahr. Alles vollkommen richtig, besser hätte es keine Überwachungskamera wiedergegeben. Aber sei ehrlich, du hättest die Sache superschnell aufklären und dieses Gerücht aus der Welt schaffen können. Doch du wolltest es nicht!«

Sie nickt.

Ich erinnere mich selbst noch genau, wie es sich angefühlt hat. »Es tat so gut, als sie dir die Worte in den Mund legten. Du hast die Blicke genossen, weil du natürlich gemerkt hast, dass sie dir geglaubt haben. Viel mehr noch. Es war fast, als hättest du ihnen endlich die längst bestehende Vermutung, dass ihr zusammen wärt, bestätigt. Und von jetzt auf gleich warst du nicht mehr die Komische. Diejenige, die anders ist. Die Zurückgebliebene, die Spätzünderin. Halt die, mit der etwas nicht stimmt. Ab diesem Moment warst du …«

»… normal«, beendet sie leise meinen Satz, und es zerreißt mir fast das Herz. Immer wieder streicht sie mit dem Zeigefinger am oberen Rand ihrer Teetasse entlang, hin und her, ehe sie einen großen Schluck nimmt, mich anschaut und mit brüchiger Stimme verzweifelt wiederholt: »Ich wollte doch einfach nur normal sein.«

»Ich weiß!« Ich spüre, wie auch mir die Tränen kommen. Zwar schaue ich noch schnell nach oben, gegen die vom vielen Rauchen meines Vaters vergilbte Zimmerdecke, aber sie bemerkt es natürlich.

»Sag mal, weinst du?«, fragt sie mich fast ungläubig und rutscht wieder ein bisschen näher an mich heran.

Ich spüre ihre Körperwärme. »Ja, vielleicht ein kleines bisschen«, gebe ich zu und stelle meine Tasse ab.

»Aber warum? Wird es nie besser? Werde ich nie normal sein? Werde ich mich nie in jemanden verlieben?«, bohrt sie nach, und ich höre deutlich die Panik in ihr aufsteigen.

»Weißt du, diese Fragen, was normal ist, was sein darf, was nicht sein darf … Ich bin das so leid. Dieser ständige Kampf gegen sich selbst und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, nur um irgendwie dazuzugehören und auf keinen Fall anders zu sein, als es von der Familie, den Klassenkameraden, den Kollegen, ja, von der gesamten Gesellschaft erwartet wird, kostet uns alle unfassbar viel Zeit und Energie.«

Während die Worte meinen Mund verlassen, bin ich es nun, die gedankenverloren über die kleine Macke im Keramikrand streicht. Dann füge ich hinzu: »Die meisten Menschen zerbrechen nicht an sich selbst oder ihren noch unerreichten Hoffnungen, Träumen und Zielen. Sondern daran, die Erwartungen anderer erfüllen zu wollen! Wenn du dich die ganze Zeit selbst verleugnest, nur um so zu sein, wie andere dich gerne hätten, verlierst du dich irgendwann selbst. Und dann …« Ich zucke mit den Schultern. »… dann weißt du am Ende gar nicht mehr, wer du wirklich, tief in dir drinnen, bist. Diese sich erst langsam, dann immer schneller ausbreitende quälende Leere ist eins der schrecklichsten Gefühle überhaupt.«

Sie nickt bestätigend. »Ja, stimmt. Manchmal weiß ich schon gar nicht mehr, ob ich endlich doch etwas für jemanden empfinde oder ob ich einfach nur besser darin geworden bin, mich selbst zu verarschen. Ich will dieses Kribbeln im Bauch, die Schmetterlinge, von denen alle reden. Das fühlen, was alle fühlen. Ich will nicht anders sein.« Sie schluckt. »Ich will es wirklich! Ich möchte so normal sein wie alle anderen mit Mann, Haus und Kindern.«

Enttäuscht sacke ich zusammen und lasse mich gegen die Stuhllehne fallen. Sie hat leider rein gar nicht verstanden, worauf ich mit meinem energiegeladenen Monolog über die Rebellion gegen Erwartungen hinauswollte.

Wie alle anderen, wiederhole ich in Gedanken ihre Worte.

Natürlich! Die Idee durchfährt mich wie ein Blitz. Eilig ziehe ich mein Handy aus der Tasche und öffne meinen Nachrichteneingang bei Instagram.

»Ich würde dir gerne ein paar ganz tolle Nachrichten zeigen. Hier, lies doch mal!«, fordere ich sie auf, reiche ihr mein Handy und zeige, wie sie übers Display wischen muss, um im Posteingang zu blättern.

Sie nimmt es so vorsichtig, als würde ich ihr einen unglaublich wertvollen Schatz anvertrauen. Sie hat ja keine Ahnung, wie recht sie damit hat.

 

»Von wem sind die Nachrichten denn?«, fragt sie, beginnt dabei zaghaft hin und her zu streichen und schaut wieder vom Display auf.

Innerlich platze ich fast vor Stolz und würde ihr unglaublich gerne alles von unserer Community erzählen. Aber wenn es selbst mich immer wieder aufs Neue überwältigt, mir diese insgesamt weit über fünfhunderttausend Menschen, die hinter und zu mir stehen, alle versammelt auf einem Platz vorzustellen, wäre das für sie in diesem Moment vermutlich doch noch eine Nummer zu groß.

»Von wem?«, bohrt sie ungeduldig nach.

»Du willst doch wie alle anderen sein, oder? Diese Nachrichten sind von allen anderen.«

Dann nehme ich mir die Zeitschrift, die sicher schon ewig auf der Fensterbank liegt, und bedeute ihr, mit dem Kopf nickend, endlich mit dem Lesen anzufangen.

Liebe Jana,

ich weiß, das klingt vielleicht komisch, aber ich möchte dir etwas anvertrauen, das ich noch nie irgendwem (außer meinem Mann, denn der ist ja unmittelbar »nicht-beteiligt«) erzählen konnte.

Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, mein Partner kratzt auch schon an der Vierzig, und wir haben drei bezaubernde Kinder, die ich über alles liebe. Ich arbeite im Schichtdienst, mein Mann hat die Möglichkeit, weitestgehend im Homeoffice zu sein, und inzwischen hat sich das alles wirklich super eingependelt.

Zu diesem Familienidyll gesellen sich noch unser Kater namens »Katze« und unser Collie Jordan. Bevor du fragst: Ja, wir haben uns den großen Traum vom kleinen Eigenheim erfüllt und leben seit ein paar Jahren in einer friedlichen Reihenhaussiedlung, wo die Autos am Wochenende in der Einfahrt gewaschen werden. Ich weiß, hochgradiges Klischee, aber für uns genau das, was wir uns immer gewünscht haben.

Gott sei Dank sind wir alle gesund, bei den Kids läuft es prima in der Schule, und sie haben viele Freunde. Auch sonst gibt es nichts, was einen dunklen Schleier über unsere Bilderbuchfamilie legt. Bis auf diese eine Sache. Denn mein Mann und ich haben kein normales Sexleben. Ehrlich gesagt haben wir gar keines.

Seit unser Jüngster das Licht der Welt erblickt hat und unsere Familienplanung somit abgeschlossen ist, verspüren wir beide kein Bedürfnis mehr, miteinander zu schlafen. Nicht mal, uns zu küssen oder dergleichen.

Für mich und meinen Mann stellt das inzwischen überhaupt kein Problem mehr dar, wir genießen unsere Zweisamkeit und erleben unseren Alltag auch als Paar. Richtig schön finde ich, dass wir uns auch nach all den Jahren noch zu romantischen Dates einladen. Aber das Bedürfnis, Sex miteinander zu haben? Nein, diese Art der Körperlichkeit fehlt uns beiden kein bisschen.

Zu Beginn fanden wir diese Entwicklung beide sehr komisch, haben viel darüber gesprochen, ob wir unser Sexleben etwas aufpolieren müssten, mal neue Dinge ausprobieren, sogar andere Partner hatten wir im Sinn. Bis wir irgendwann zum Glück erkannten: Wir stellten diese Überlegungen alle nur an, weil wir glaubten, dass eine normale Partnerschaft eben auch regelmäßig Sex beinhaltet, nein, beinhalten muss.

Ich kann gar nicht glauben, dass ich dir das hier einfach munter flockig niederschreibe, aber es tut unglaublich gut. Also völlig egal, ob du das irgendwann mal liest, mir reicht gerade, es loszuwerden. Denn würden meine Freundinnen das hören, sie würden direkt den nächstmöglichen Termin beim Sexualtherapeuten buchen.

Versteh mich bitte nicht falsch, ich liebe meine Freundinnen. Einmal die Woche treffen wir uns immer reihum bei einer von uns zu Hause zum Brunch, und ich genieße unseren Austausch total. Aber sobald jemand das Thema Sex zur Sprache bringt (und das passiert irgendwann immer), komme ich mir vor wie beim Sex-Quartett.

Stellung 69 schlägt die Missionarsstellung, vergiss den Blowjob, da bringt’s jetzt nur noch der »Angry Pirate«, und der Helikopter sei sowieso das neue Nonplusultra. Google das bitte nicht, da wird einem schon beim Hinschauen schwindelig.

Ich bin nicht stolz darauf, aber fällt das Thema aufs Schlafzimmer, muss ich lügen, um mein Seelenheil zu beschützen, denn das würden sie eiskalt infrage stellen. Einmal habe ich versucht, es anzusprechen, gar nicht, um es als Problem zur Diskussion zu stellen, sondern vielmehr, um zu sagen, dass es bei meinem Schatz und mir anders ist. Ab diesem Moment wurde eiskalt der Fehler in unserer Ehe gesucht, ihm eine Affäre angedichtet usw. Während ich komplett sprachlos danebensaß, haben sie tausend weitere Ursachen dafür in der Beziehung gesucht. Woran es denn wohl nur läge, dass es im Bett zwischen uns eben nicht mehr normal läuft, denn normal sei das so auf gar keinen Fall. Unsere drei Kinder seien ja auch nicht vom Storch gebracht worden. Ich habe mich so mies gefühlt, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, wir würden nicht so funktionieren, wie man es von einem normalen Ehepaar erwartet.

Was ich dir damit sagen wollte, liebe Jana: Lebe dein Leben genau so, wie du es für richtig empfindest. Ich bewundere deinen Mut, öffentlich über all das zu sprechen. Ich könnte mich dieser gnadenlosen Bewertung durch andere nicht aussetzen, aber du gibst dadurch so vielen Frauen Mut, dafür danke ich dir. Bleib, wie DU bist,

deine Charlotte

»Wow! Einige schreiben ja so viel, dass das gar nicht in eine einzige Nachricht passt. Darf ich noch weiterlesen?«, fragt mich die junge Jana beeindruckt, und ich lächle.

»Klar, sind ja irgendwie auch deine.« Ich zwinkere ihr zu, und sie schaut wieder auf das Handy, während ich weiter durch das Magazin blättere.

 

Hi Jana,

die Katze ist endlich aus dem Sack! Ich bin so erleichtert, dass ich dir unbedingt davon erzählen möchte. Ich bewundere schon lange, wie offen du über alles redest und mit uns deine Gedanken und Erfahrungen teilst. Ich mag deinen unvoreingenommenen Blick auf das Leben und den Mut, den du immer wieder beweist, wenn du auch die unbequemen Themen ansprichst. Obwohl wir uns nicht persönlich kennen, bist du für mich zu einem Vorbild geworden. Vergangenen Sonntag ist etwas passiert, das mein Leben verändert hat. Bevor ich dir davon berichte, kurz noch zu mir, damit du das alles überhaupt einordnen kannst.

Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, arbeite selbstständig, reise für mein Leben gern und bin seit knapp vier Jahren mit meinem besten Freund verheiratet. Ich falle mal direkt mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus: Wir führen eine Scheinehe. Wie gerne ich jetzt dein Gesicht sehen würde. *ha ha* Es würde dich zu viel Zeit kosten, zu lesen, wie es genau dazu kam, und da du sicher unzählige Nachrichten erhältst, hier die Kurzfassung:

Wir kennen uns seit der Schule, waren nie ineinander verliebt, sind aber irgendwann auf einer Party betrunken im Bett gelandet. Der Sex war unfassbar (!!!), und da wir beide Sex lieben, hatten wir in den kommenden Monaten immer wieder Lust auf Wiederholung. Keine Beziehung, jeder hatte andere Partner, aber wir haben erkannt, dass es mit niemandem sonst so unkompliziert und befriedigend ist wie zwischen uns beiden.

Ab einem bestimmten Alter wird das Singledasein zum Problem, du kennst das. Auf jeder Familienfeier die mitleidige Frage, ob es denn endlich einen festen Freund gibt, damit das Alleinsein ein Ende findet, und diese kurzen Techtelmechtel könnten ja nicht erfüllend sein. Es wäre doch langsam an der Zeit, sich zu binden. *bla bla*Bei ihm dasselbe Spiel, und da wir beide schließlich keinen Bock mehr auf Rechtfertigungen hatten, nahmen wir uns einfach gegenseitig mit zu Familienfeiern, zu Geburtstagen oder den Hochzeiten der Freunde.

Ja, in jeder Hollywoodstory käme jetzt das große Happy End, dass wir uns am Ende doch ineinander verliebt haben, aber das haben wir nicht. Stattdessen fanden wir rationale Gründe für eine Ehe: der Steuervorteil, denn Ehegattensplitting ergibt bei uns absolut Sinn, die günstigere Familienkrankenversicherung, ein Teil der Altersrente, wenn einem von uns mal was zustößt, und allem voran, dass man endlich nicht immer schief angeschaut und wie Aussätzige behandelt wird. Wir heirateten nur standesamtlich, aber die Party war unglaublich und mein Kleid ein wahr gewordener Mädchentraum. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin! So viel also zur Vorgeschichte.

Was wir dummerweise nicht bedacht hatten: Zu einer normalen Ehe gehören in Deutschland auch Kinder. Bei Ehepaaren, um genau zu sein, beträgt die durchschnittliche Anzahl 1 ,75 .

Wir beide lieben Kinder, aber nur dann, wenn wir sie nach drei Stunden wieder abgeben dürfen. Selbst welche zu haben löst bei uns beiden eher Panikattacken als Glücksgefühle oder Milcheinschuss aus. Diese riesengroße Verantwortung, die einschneidenden Einschränkungen, die ständigen Kompromisse und auch das Geld, das der Nachwuchs kostet, investieren wir lieber in uns. Das klingt vermutlich egoistisch, aber wir sind beide der Meinung, dass Kinder bedingungslose Liebe und die notwendige Aufmerksamkeit verdienen. Das sind wir nicht bereit zu geben. Wir waren uns also absolut einig und haben uns beide sterilisieren lassen. Sicher ist sicher.

Doch je mehr Kinder unsere Geschwister und Freunde bekommen haben, desto genauer wurde bei uns hingeschaut. Das Thema, nein, »unser Problem«, wie es fortan nur noch bezeichnet wurde, rückte immer weiter in den Mittelpunkt jeder Familienfeier. Es ging sogar so weit, dass meine Mama, als ich mir etwas vom Büfett holte, mein Foodbaby mit den Worten »Hat’s endlich geklappt?« streichelte. Da konnte ich nicht anders. Ich nahm sie zur Seite und erklärte ihr klipp und klar, dass ich keine Kinder möchte, weder jetzt noch in Zukunft. Du hättest mal ihren Blick sehen sollen, sie schaute mich an, als sei ich nicht mehr ganz bei Trost.

Im Streit warf sie mir unter anderem Dinge an den Kopf wie »Du bist doch nicht ganz normal!« oder »Du wirst sehen, das wirst du später bereuen, aber dann gibt es kein Zurück, weil deine innere Uhr abgelaufen ist, dann wirst du dir wünschen, auf mich gehört zu haben«. Da rettete auch ihre nachgeschobene Entschuldigung nichts: »Ich sage das doch nicht, um dich zu ärgern, mein Engel, sondern weil ich dich liebe und nur das Beste für dich will!« Dann tat sie das, womit sie mich immer kriegt. Sie brachte meine Oma, die ich über alles liebe, ins Spiel. Sie sagte wortwörtlich, dass ich das meiner Großmutter nicht antun dürfte. Diese Enttäuschung würde sie nicht überleben.

Genau in diesem Moment kam meine Oma hinzu und fragte natürlich sofort nach.

Jana, stell dir vor, meine eigene Mutter hat mich, ohne dass ich dazu bereit war, geoutet: »Zoe möchte keine Kinder! Nicht jetzt, nicht in Zukunft, nie!« Das sagte sie richtig laut und so voller Abscheu, dass ich mich wie ein Stück Dreck fühlte. Dann trat sie wie ein Ringrichter einen Schritt zurück, um mich das mit Oma klären zu lassen.

Die Reaktion meiner Großmutter habe ich tief im Herzen gespeichert. Sie schaute erst mich an, dann meine Mama und sagte schulterzuckend: »Versteh ich total. Wenn ich in der heutigen Zeit mit all den Möglichkeiten und Freiheiten geboren wäre … Ach, Jessas, Maria und Josef! Ich wäre wie ein Vogel im Wind!« Dann klatschte sie in die Hände und hielt sich kichernd die Hände vor den Mund.

So habe ich meine Oma zuvor noch nie erlebt, ihre Augen strahlten wie die eines jungen Mädchens. Sie schloss mich in die Arme, zog mich zu sich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Leb dein Leben, Mädchen, leb es für dich …« Dann legte sie die Hand so dicht um meine Ohrmuschel, dass es auch bestimmt niemand außer uns beiden hörte: »… und leb es auch ein bisschen für mich.«

Sie kniff ein Auge zu, ließ meine Mutter und mich stehen und holte sich Nachschlag vom Obstsalat.

Auch wenn zwischen meiner Mama und mir erst mal Funkstille herrschen wird, empfinde ich das als einen befreienden Abend. Klar war das nicht in Ordnung, aber irgendwie bin ich sogar froh, dass es jetzt ausgesprochen ist. Endlich nicht mehr dieser unerträgliche Druck.

Und meine Oma ist doch echt eine coole Socke mit ihren dreiundneunzig Jahren, findest du nicht auch?

 

Alles Liebe, deine Zoe

»Krass!«, entfährt es meinem siebzehnjährigen Ich. Ohne mich nochmals um Erlaubnis zu bitten, stöbert sie weiter im Nachrichteneingang, bis sie erneut hängen bleibt.

 

Hallo Jana,

ich weiß nicht, was ich tun soll. Eigentlich müsste ich gerade die glücklichste Frau der Welt sein, denn mein Freund hat mir eben einen Heiratsantrag gemacht. Aber anstatt mich zu freuen, sitze ich hier auf dem Klo und heule. Du bist die Einzige, der ich schreiben kann, weil ich weiß, dass du niemanden verurteilst.

Er ist nicht nur mein erster Freund, sondern soll, wenn es nach mir geht, auch der letzte sein. Ich liebe ihn wirklich über alles, und zwischen uns passt es einfach perfekt.

Wir sind nun seit acht Jahren fest zusammen, kennen uns in- und auswendig, haben Höhen und Tiefen gemeistert und all das hat uns als Paar immer nur noch stärker werden lassen. Wir sind füreinander bestimmt.

Über unsere gemeinsame Zukunft haben wir schon sehr oft gesprochen, wir wissen z.B. genau, wo und wie wir leben möchten (in wenigen Monaten wandern wir nach Finnland aus), und wollen beide gerne Kinder. Wenn es klappt, am liebsten eigene, aber auch Kinder aufzunehmen, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können oder wollen, stellt für uns eine Option dar, um uns den Traum einer eigenen Familie zu erfüllen.

Jana, selbst als wir uns unsere Traumhochzeit ausgemalt haben, hättest du unsere Vorstellungen vom schönsten Tag im Leben (die wir beide stichpunktartig getrennt voneinander notiert haben) übereinanderlegen können, sie waren absolut identisch. Du fragst dich jetzt vermutlich, wo denn dann mein Problem liegt, richtig?

Egal, wem ich von unseren Plänen erzähle, ob meiner Mama (geschieden), meinen älteren Schwestern, meinen Freundinnen, meiner Cousine oder meiner Tante, alle sagen, dass ich spinnen würde und es nicht normal sei, den ersten Freund zu heiraten. Früher wäre das vielleicht üblich gewesen, aber heute würden sich so viele Chancen bieten, da sollte man nicht beim Erstbesten kleben bleiben. »Erst vergleichen, dann behalten!«, ist der Standardspruch meiner Mutter. Passt für Elektrogeräte und Männer, wenn es nach ihr geht.

Meine Freundinnen und Geschwister lachen mich aus, weil ich bisher nur mit ihm geschlafen habe. Ich könnte mir ja gar kein Urteil darüber erlauben, ob er überhaupt gut im Bett ist. Sie machen dann immer Witze darüber, dass er eventuell eine Niete sei, die es überhaupt nicht richtig bringt, und ich es nur nicht merken würde. Das verletzt mich sehr, und ich schäme mich vor ihnen, so wenig Erfahrung zu haben. Aber der Gedanke, mit jemand anderem als meinem Schatz intim zu werden, ekelt mich extrem. Ich möchte das nicht und bin glücklich, wie es zwischen uns ist, in allen Bereichen, wenn du verstehst, was ich meine.

All das stecke ich sogar noch einigermaßen weg, aber es ist noch mehr. Ich habe jetzt meine Ausbildung abgeschlossen, und der Betrieb hat mir angeboten, mich zu übernehmen, was ich aber abgelehnt habe, weil ich andere Pläne habe.

Mein größter Traum ist es, eine gute Hausfrau und Mutter zu sein. Ich mag den Gedanken, tagsüber das Haus in Ordnung zu halten, mich um die Kinder und ihre Bedürfnisse zu kümmern. Und für mich gehört ebenso dazu, meinen Schatz, wenn er abends von der Arbeit kommt, mit einem gedeckten Tisch zu empfangen, um beim Essen über unseren Tag zu sprechen und den Abend gemütlich auf der Couch ausklingen zu lassen. Würdest du mich fragen, wie ich mir meine Zukunft vorstelle, wäre das meine absolute Wunschvorstellung. Mir würde es an nichts fehlen.

Auch das habe ich meiner Mama und meinen Geschwistern erzählt, und sie haben mich schrecklich niedergemacht. Sie beschimpften mich regelrecht: Wie ich die Revolution der Frauen so mit Füßen treten könnte, ich sei eine Schande für die emanzipierte Frau, mich so in alte Klischees drücken zu lassen. Meine Mama sagte, sie würde sich für mich schämen, wenn ich nur Hausfrau und Mutter wäre. Eine Frau heutzutage müsste es problemlos schaffen, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen, denn die Hausarbeit dürfe nicht allein an der Frau hängen bleiben. Außerdem meinten meine Schwestern, dass es sie traurig stimmt, wie wenig ich vom Leben erwarte, und dass ich mich mit so wenig zufriedengeben würde. Sie hätten Mitleid mit mir.

Das hat mich echt getroffen und verunsichert. Wenn alle behaupten, das sei nicht normal, dann bin ich es vielleicht wirklich auch nicht und merke es nur nicht. Es muss doch etwas daran sein, sonst wären ja nicht alle anderen einer Meinung, oder?

Obwohl ich dich leider noch nicht persönlich kenne, weiß ich, wie deine Antwort lauten würde, liebe Jana. Lustigerweise kann ich mir sogar bildhaft vorstellen, wie du mich dabei anschauen würdest. Oder du würdest mich einfach nur umarmen.

Während ich mir das alles gerade von der Seele schreibe, wird mir bewusst, dass es nur eine Antwort gibt.

An mir und meiner Lebensplanung ist absolut nichts falsch, ich habe einfach nur verdammt viel Glück, meinen Lebenspartner so früh gefunden zu haben, und für mein Glück und meine Entscheidungen muss ich mich vor niemandem rechtfertigen. Es ist mein Leben, nicht das meiner Mutter, nicht das meiner Schwestern. Und wie sagst du immer so schön: Wir sind nicht auf der Welt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen.

Liebe Grüße von der glücklichsten Frau der Welt, und wenn du nächstes Jahr zu unserer Hochzeit kommen willst, bist du ganz herzlich eingeladen!

 

Bleib, wie du bist, du tolle Seele,

deine Marie

»Wirst du hingehen?«, fragt sie auffordernd und hält mir das Handy entgegen. Ich lese die letzten Zeilen, um mich zu erinnern, worum es in der Nachricht ging.

»Mal sehen, wenn ich zufällig in der Nähe bin, auf jeden Fall!«, antworte ich. Sie schaut weiter auf das Display und erwidert: »Also ich würde sicher vorbeischauen. Das wäre doch eine tolle Überraschung.«

Ich bin inzwischen bei den » 5 Kilo weniger in drei Tagen«-Rezepten angekommen und blättere weiter.

 

Liebe Jana,

ich weiß, dir wird in den Kommentaren oft gesagt, du würdest etwas im Leben verpassen, weil du viele Erfahrungen, die andere in deinem Alter (*sorry*, soll nicht böse klingen, aber du könntest halt einfach meine Mutter sein) gemacht haben, nicht erlebt hast.

Zu diesem Thema möchte ich dir etwas aus meinem Leben erzählen. Als ich gerade vierzehn war, gab es in unserer Klasse die Challenge, dass wir Mädchen unsere Jungfräulichkeit bis zu den Sommerferien verlieren mussten. Ich hatte zwar erst ein bisschen Angst, weil die Pornos, die zu der Zeit im Klassenchat herumgingen, einfach viel zu krass waren, aber ich war natürlich auch superneugierig.

Auf einer Party traf ich dann einen Typ, mit dem auch schon eine Freundin von mir geschlafen hatte, und die sagte, er wäre erfahren und vorsichtig. Also fragte ich ihn. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass mein erstes Mal schön war, aber es hat mich auch nicht traumatisiert oder Ähnliches, also alles gut bis dahin.

Dummerweise bin ich zu der Zeit in eine Clique gerutscht, in der immer viel getrunken wurde. Es gab echt keine Party, die wir ausgelassen haben, und die Mengen an Alkohol stiegen zunehmend. Teilweise haben wir uns unter der Woche getroffen, um zu rauchen und uns »aus dem Leben zu ballern«, wie wir es nannten. Mal an der Tanke, mal bei den Aschentonnen, je nachdem, wo gerade mehr ging. Es wurde uns einfach immer stärker egal.

Ich weiß nicht, ob du das kennst, aber wenn ich Alkohol trinke, werde ich immer anhänglich. So sehr, dass ich anfangs »nur« mit verschiedensten Typen rummachte, aber irgendwann reichte mir das nicht mehr. Die Wirkung ließ nach, es war absolut nichts Besonderes mehr, noch mehr Alkohol und Sex waren anfangs die Lösung, aber auch hier ließ der Kick nach. Da bin ich aufgewacht, gerade noch rechtzeitig. Zum Glück schaffte ich den Absprung. Harte Drogen habe ich nie angefasst, darauf bin ich sehr stolz.

Auch von der Clique habe ich mich distanziert, weil ich merkte, sie tat mir einfach nicht gut. Ich war nicht unschuldig, niemand hat mich gezwungen, aber ich hatte plötzlich Angst, komplett abzurutschen.

Die Schule lief dann auch wieder ganz gut, und ich habe mich mit echt netten Typen getroffen, aber so richtig geklappt hat es mit keinem. Entweder wurde mir langweilig oder sie machten Schluss. Meist war ich nicht mal traurig, ich datete einfach den nächsten. Von anderen höre ich häufig, es wäre so schwer, jemanden kennenzulernen, aber ich hatte nie Probleme. Inzwischen glaube ich, dass ich hingegen zu viele kennengelernt habe.

Du hast mal gesagt, jede Beziehung bedeutet Arbeit. Aber ich war damals einfach überhaupt nicht mehr bereit, irgendetwas zu investieren. Ich wünschte mir ein perfektes Match, wie man es aus Filmen oder von den Happy-wife-happy-life-Insta-Couples kennt. Genau das wollte ich ebenfalls.

Hat mir etwas an dem Typen nicht gepasst, zack, der nächste, und bei jedem hoffte ich wieder, dass er dieses Mal der Richtige ist. Würdest du mich heute fragen, wie mein Traumtyp sein müsste, könnte ich dir eine endlos lange Liste aufzählen. Denn mit jedem Typen, mit dem ich was hatte, egal ob nur eine Nacht oder für länger, wanderte eine neue Anforderung auf die Must-have-Liste. War er anders, wollte ich ihn nicht.

Dating wurde mit der Zeit ein bisschen wie TikTok: Du möchtest nur kurz reinschauen, aber dann bleibst du zwei, drei Stunden hängen, das ist wie ein Rausch. Du willst aufhören, aber denkst dir, nur noch ein Clip, der Nächste ist bestimmt wieder richtig gut. Genauso stelle ich mir Glücksspiel an einem Automaten vor, nur dass ich hingegen kein Geld verliere, sondern meine Zeit und die Optionen.

Also erweiterte ich den Suchradius. Irgendwann flog ich zu einem Typen nach Wien, nachdem wir zwei, drei Wochen erst über Insta, anschließend per WhatsApp geschrieben hatten. Aber anstatt ihn wirklich kennenzulernen, hakte ich nur meine Must-have-Liste im Kopf ab, ob er all das erfüllte, was ich mir von meinem Traummann wünschte. Ich saß mit ihm im megaschicken Restaurant, er behandelte mich wie eine Königin, aber ich dachte nur darüber nach, ob ich damit klarkäme, dass er, anders als sein Vorgänger, nicht gerne verreiste.

Inzwischen habe ich panische Angst, mich nicht mehr zu verlieben. So ganz normal halt, mit sich über den Weg laufen, interessant finden, ansprechen, verabreden … und das alles, ohne den Ballast der letzten Treffen mit ins erste Date zu nehmen. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, meine Ansprüche wieder herunterzuschrauben, oder ob ich das überhaupt möchte, denn Männer sind da ja nicht anders. Und habe ich nicht den besten Partner verdient?

Ich komme mir vor wie nach dem Abi, als mir tausend Möglichkeiten offenstanden. Wie soll ich wissen, was ich will, wenn ich nicht alles probiert habe? Woher soll ich wissen, dass ich nicht den absoluten Traumjob verpasse, weil ich mich zu früh auf einen festlege? Was ist, wenn es da draußen noch mehr gibt? Etwas, das besser zu mir passt? Genau derselbe Gedanke bei jeder neuen Beziehung: Bin ich überhaupt mit dem Richtigen zusammen?

Ich dachte schon, dass mit mir irgendwas nicht stimmt, aber meine Freundinnen sagen, das sei normal, da es ihnen ebenso geht. Aber wenn das normal ist, dann will ich anders sein.

Ich möchte nicht mein Leben lang auf den Traumtypen warten und am Ende für immer allein sein. Ich sehne mich nach dem Menschen, der mich vervollständigt. Ich kann und will gar nicht allein sein. Manchmal tindere ich nur, weil ich Angst davor habe, den Abend ohne jemanden verbringen zu müssen, der mich begehrt. Ich brauche dieses Gefühl. Aber wenn er bleibt, die Nacht über neben mir liegt, Jana, dann fühle ich mich unglaublich einsam und bin mir selbst so schrecklich fremd.

Das ist nicht das Leben, wie ich es mir erträumt habe, es ist wie ein fucking Albtraum, in dem ich immer und immer wieder dasselbe tue, aber einen anderen Ausgang erwarte.

Ich habe so eine große Angst, dass ich durch all das unfähig geworden bin, eine Beziehung zu führen. Ich glaube, ich habe mein Herz kaputtgemacht. Am liebsten würde ich einfach die Resettaste drücken, jede Erfahrung vergessen und noch einmal von vorne beginnen.

 

Ich hab dich so lieb,

deine Alessia

Die eben gelesene Nachricht scheint die jüngere Jana richtig aufzuwühlen, und ich frage, was sie so emotional werden lässt.

»Sie klingt so traurig, ich möchte sie am liebsten sofort in die Arme nehmen. Kannst du ihr nicht was Nettes antworten?«, fragt sie und schaut mich flehend an.

Ich weiß beim flüchtigen Hinsehen sofort, um wen es geht. Dann deute ich mit dem Zeigefinger auf die Markierung oben rechts an der Nachricht. »Ja, das habe ich mir fest vorgenommen. Sobald etwas Luft ist, schreibe ich ihr auf jeden Fall.«

Das scheint sie zu beruhigen, und sie öffnet die nächste Nachricht.

Ich schaue mich erfolglos nach neuem Lesestoff um und beschließe, noch mal von vorne durchzublättern.

 

Guten Abend, liebe Jana,

meine Enkelin Sophia, du hast sie vor Jahren bei einem Schulauftritt kennengelernt, schickt mir immer Videos von dir und deiner Mama. Ich finde, ihr zwei bildet eine ganz tolle WG , und ich schaue euch unglaublich gerne zu.

Heute schreibe ich dir aus einem bestimmten Grund. Du steckst uns alle immer so sehr mit deiner unbändigen Lebensfreude an, dass ich dir nun im Gegenzug etwas von meiner Gelassenheit, die mich die letzten Jahre gelehrt haben, schenken mag.

Neulich hast du in einem Video gesagt, du hättest etwas Sorge, es könnte ziemlich still werden, wenn deine Mama nicht mehr da ist, du abends ins Wohnzimmer gehst und dort niemand mehr ist, der auf dich wartet, dich mit einem Lächeln begrüßt, dir vom Tag erzählt und erfahren möchte, wie deiner war.

Du betonst oft, dass du es nicht ausschließt, dich zu verlieben, und diese Offenheit und Neugier solltest du dir auch auf jeden Fall bewahren. Aber lass dich bitte nicht von der Angst leiten, später einmal zu vereinsamen. Angst ist immer ein sehr schlechter Berater, meine Liebe.

Gerne möchte ich dir von meinen Erfahrungen berichten. Als junges Mädchen bin ich in die Lehre gegangen, habe dort meinen Mann kennengelernt und viele kinderreiche, glückliche Jahre mit ihm erleben dürfen, bis er, Gott hab ihn selig, vor knapp zehn Jahren von uns ging.

Deinen Gedanken, wie die Leere zu füllen ist, ohne den geliebten Menschen ersetzen zu können, teilen wir also alle früher oder später im Leben. Es wird – egal über welche Art von Beziehung wir nachdenken, ob Liebespaar oder Freundschaft – immer jemanden geben, der übrig bleibt und sich dann unweigerlich die Frage stellt, wie es nun ohne den anderen weitergeht.

Auch ich musste nach einer gewissen Zeit der Trauer diese schmerzhaften Überlegungen anstellen, denn mein Leben sollte schließlich weitergehen. Nur wer dem Glück die Tür öffnet, wird es zu Gast haben, hat mein lieber Mann zu sagen gepflegt, und er sollte recht behalten.

Meine Töchter leben ihre eigenen Leben, wohnen mit ihren Familien weit über Deutschland verstreut, aber einen alten Baum wie mich verpflanzt man nicht mehr so leicht.

Hier habe ich meine Wurzeln, meine Freunde, den Verein und die Straßen, die ich kenne. Auf meinem Weg treffe ich viele bekannte Gesichter, die mit einem weichen Kissen auf der Fensterbank lehnen, freundlich herausschauen und schon wartend auf die Uhr am Handgelenk tippen, wenn ich auf meiner Morgenrunde zu spät dran bin. Wir geben aufeinander acht. Mein Bäcker hält mir immer zwei meiner Lieblingsbrötchen, die mit Kümmel und Salz, zurück. So etwas gibt man nach all den Jahrzehnten nicht einfach auf.

Allein wollte ich in dem für mich viel zu großen Haus aber auch nicht bleiben, also habe ich eine Annonce geschaltet, um einen Mitbewohner zu suchen. Erst tat sich eine ganze Weile nichts, doch dann meldete sich Trudi, eine längst verloren geglaubte Schulkameradin von mir, auf meine Suchanzeige bei Facebook.

Wobei ihr diese Beschreibung nicht gerecht wird. Wir sind wie eine alte Seele in zwei Körpern. Zwei Körper, die sich schon damals in ihrer jugendlichen Blüte angezogen haben, zu sehr für die damalige Zeit. Wir wollten unseren Eltern keine Schande bereiten und wussten, es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Unzählige Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Wir sind älter, die Falten tiefer und unsere Herzen mutiger geworden. Unsere Liebe hat all die Jahre, die wir getrennt voneinander lebten, überdauert, und heute gehen wir Hand in Hand durch die Straßen und genießen die gemeinsame Zeit. Einzig und allein die Tatsache, dass ich nun meine Lieblingsbrötchen teilen muss, stellt ein großes Problem dar. Nein, liebe Jana, ich scherze natürlich nur. Mit Trudi teile ich alles, was mir das Leben schenkt, sehr gerne.

Zu uns ins Haus ist vor drei Jahren eine junge, alleinerziehende Mutter mit ihren zwei kleinen Jungs (fünf und sieben Jahre) gezogen. Sie hatte eine schwere Zeit im Leben, und wir sind sehr froh, es ihr etwas leichter gestalten zu können, denn wer hat, der sollte geben. Sie bewohnen seit knapp drei Jahren die drei Zimmer in der unteren Etage, und den Garten bewirtschaften wir gemeinsam.

Wir sind also ein Mehrgenerationenhaus, in dem jeder willkommen ist. Verschlossene Türen findest du bei uns nicht, das hält Herz, Seele und Körper jung. Trudi sagt immer, wir hätten gar keine Zeit zu rosten, und ich stimme ihr zu.

Mach dir also bitte keine Gedanken darüber, wie es irgendwann einmal sein wird. Genieße den Moment, sei zufrieden mit dem, was du hast, und sei dir gewiss, dass das Leben immer gut für dich sorgen wird.

 

Alles Liebe für dich und die herzlichsten Grüße auch an deine Frau Mama, Lieselotte

»Zufrieden mit dem Moment sein, das klingt voll nach dir, finde ich!«, bemerkt mein jüngeres Ich und grinst mich an.

»Meine Online-Community besteht ja nicht nur aus Followern, Views und Likes, manche Nachrichten beschäftigen mich total lange, besonders, wenn mir so viel Vertrauen geschenkt wird. Diesen Gedanken, zufrieden mit dem Moment zu sein, habe ich vorher schon zigmal ge- und überlesen, aber durch Lieselotte erreichte mich erst der eigentliche Sinn dahinter. Ich fand den Spruch so schön, dass ich ihn mir oben rechts auf meine Schreibtischunterlage notiert habe. Mit einem …«

»… mit einem Smiley daneben«, vollendet sie meinen Satz, und wir lächeln beide.

Sie gibt mir das Handy zurück, nimmt unsere bis auf eine Minipfütze fast leeren Tassen vom Tisch und kocht uns beiden einen frischen Minztee. Dass sie sich, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, meine Tasse nimmt und mir die ihre reicht, wundert mich überhaupt nicht.

»Wir sind alle anders, es traut sich nur keiner zu sagen!«, erklärt sie zufrieden, setzt sich und streicht lächelnd über die kleine Macke am oberen Tassenrand.

»Und das wird sich sehr, sehr bald ändern«, sage ich beinah euphorisch, führe die dampfende Tasse zum Mund und habe die Digitalisierung wohl nie mehr gefeiert als in diesem Moment. »Heute, jetzt und hier, gibt es noch kein Schüler VZ , Studi VZ oder Instagram. Nicht mal Facebook. Aber 2022  …«, ich hebe den Zeigefinger und fahre fort, »im Jahr 2022 nutzen acht von zehn Jugendlichen Instagram, bei YouTube sind es noch mehr, und ganz besonders TikTok holt rasant auf. Bei all diesen digitalen Treffpunkten tauschen sich die Menschen miteinander aus, teilen ihre Urlaubsfotos, Lieblingsrezepte, Meinungen und ihre Einzigartigkeit. Das verändert einfach alles. Dank dieser sogenannten sozialen Netzwerke hat jeder Mensch die Möglichkeit, Menschen zu finden, mit denen er auf einer Wellenlänge liegt. Völlig egal, um was es geht, ob um abgefahrene Hobbys, deine Sexualität oder ›Nobody thinks what I think‹-Gedanken. Wenn du glaubst, die einzige Person zu sein, die so empfindet, begegnest du dort Unzähligen, denen es ganz genauso geht. Im Internet gibt es absolut nichts, was es nicht gibt.« Ich strahle sie an.

»Erlebt Oma das noch mit?«, fragt sie und bremst meine Euphorie. »Ich glaube, das würde ihr Angst machen«, meint sie nachdenklich. »Erst neulich hat sie zu mir gesagt, dass sie ab sofort keine Nachrichten mehr guckt. Sie schaut nur noch, wie es den Nachbarn auf ihrer Straße und ihrer Freundin Frida, die sie immer am Grab von Opa trifft, geht. Vom Rest der Welt will sie nichts mehr wissen. Ich glaube, ihr geht das alles mit der plötzlich so rasant ansteigenden Fülle von Informationen ein bisschen zu schnell.«

 

Diese Diskussion um Vor- und Nachteile der digitalen Welt lässt in mir lebhaft die Erinnerung an eine Begegnung aufsteigen, die gerade einmal zwei Wochen zurückliegt.