7. Kapitel
Wien, Montag, 19. November 1894
In zwei Tagen würde sie mit Robert telefonieren! Wie auch sonst immer freute sich Therese darauf, doch diesmal kam eine gewisse Aufregung hinzu, da sie ihn fragen wollte, ob es ihm und der Familie recht wäre, wenn sie zusammen mit den Kindern und Sophia eine Weile zu Besuch käme.
Seit dem Tag, da Judith ihr die Idee eingepflanzt hatte, Wien eine Zeit lang zu entfliehen, konnte sie kaum mehr an etwas anderes denken. Zwar war sie nicht so naiv zu glauben, dass sich dadurch all ihre Probleme in Luft auflösen würden, doch sie war davon überzeugt, dass sie durch die räumliche Distanz auch eine neue Sicht auf die Dinge bekommen könnte. In Wien erinnerte sie einfach alles an Karl. Und das fand sie auch gut so. Aber sein Tod war noch nicht lange genug her, als dass sie einfach nur mit Freude an die schönen Zeiten zurückdenken konnte. Dafür war der Schmerz noch immer zu groß. Sie musste Abstand gewinnen, etwas Neues sehen. Ihre Hoffnung war, dass sie im Kreis der Familie Hansen ein Gleichgewicht finden würde zwischen liebevoller Erinnerung an ihren verstorbenen Ehemann und dem Gefühl, dass die neue Zeit, die ohne ihn vor ihr lag, ebenso ihre schönen Momente haben würde.
Schon immer hatte man ihr gesagt, dass sie die besondere Fähigkeit habe, zwischen den dicksten Wolken stets den einen Sonnenstrahl zu entdecken, an dem sie sich erfreuen konnte. Genau diese Einstellung hatte sie oft lächeln lassen, während andere mit heruntergezogenen Mundwinkeln durch ihr Leben gingen. Und genau diese Einstellung wollte sie zurückgewinnen. Nicht nur für sich, sondern vor allem für ihre Kinder, denen sie als Vorbild dienen wollte.
Vorgestern hatte sie ihren Sohn Franz mit ins Kaffeehaus genommen, damit er mit Emil Loibelsberger zusammensitzen und seinen Geschichten lauschen konnte. Während sie die Gäste bediente, hatte Therese immer wieder einmal einen verstohlenen Blick auf die beiden geworfen. Da war ihr aufgefallen, dass Franz ganz anders gewesen war als in der letzten Zeit zu Hause. Er hing an Herrn Loibelsbergers Lippen, hatte gestaunt und gelacht. Er war endlich mal wieder so wie früher gewesen, vor Karls Tod: ein schelmischer, lachender kleiner Junge. Nicht mehr und nicht weniger.
Spätestens da war Therese klar geworden, dass es höchste Zeit war, dem Sumpf aus Trauer und Wut zu entkommen und für eine Weile alles hinter sich zu lassen, um danach wieder ein glückliches Leben führen zu können.
Für heute hatte Therese sich vorgenommen, in Karls altes Kontor zu gehen und mit Georg zu sprechen. Zwar wollte sie der Entscheidung Roberts, ob sie, Sophia und die Kinder in Hamburg willkommen waren, nicht vorgreifen. Doch konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sie abweisen würde. Robert und sie verstanden sich wirklich gut. Und Therese hoffte, dass er sich über ihren Entschluss freuen würde. Deshalb fand sie es nur richtig, bereits heute mit Georg darüber zu sprechen, bevor sie weitere Pläne machte. Denn genau genommen führte Georg das Kontor in ihrem Namen, da sie nach Karls Tod Erbin des Handelshauses in Wien geworden war. Zwar ließ sie dem Bruder ihres Mannes völlig freie Hand, wollte sogar am liebsten so wenig wie möglich damit zu tun haben, da sie weder Georg in seiner Handlungsfreiheit beschneiden noch zu sehr einbezogen werden wollte, zumal ihr dafür neben dem Kaffeehaus und den Kindern die Zeit fehlte. Doch letztendlich war es ihr Eigentum, das Georg als Geschäftsführer verwaltete. Insofern war es richtig, dass er als einer der Ersten erfahren sollte, was sie für die nächste Zeit plante.
Das Glöckchen über der Tür gab das vertraute Klingeln von sich, als Therese den Laden betrat. Felix, der auch schon für ihren Mann gearbeitet hatte und jetzt ihren Schwager ebenso tatkräftig unterstützte, sah auf. »Frau Hansen.« Sein Gesicht spiegelte ehrliche Freude wider. »Welch schöne Überraschung! Einen guten Tag wünsche ich.«
»Guten Tag, Felix.« Therese schloss die Tür hinter sich, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Wie geht es dir?«
Felix deutete eine Verbeugung an. »Sehr gut. Und darf ich die Frage zurückgeben?«
»Es wird jeden Tag besser«, antwortete Therese und sprach damit aus, was sie sich sehnlichst wünschte.
»Es freut mich aufrichtig, das zu hören.«
»Ist mein Schwager da?«
»Ja, er ist hinten im Lager. Ich kann ihn holen.«
»Aber nein, ich gehe selbst zu ihm. Mach dir keine Mühe.« Therese beugte sich mit verschwörerischer Miene über den Tresen. »Wie macht er sich denn so?«
Felix schien einen Moment verunsichert, ob er wirklich eine Auskunft erteilen sollte. Immerhin war es sein neuer Chef, über den er da sprach. Und noch vor Karls Tod hätte er sich wahrscheinlich nicht so weit vorgewagt, nun jedoch sagte er: »Er führt das Kontor erfolgreich, und das Geschäft läuft nicht schlechter als zuvor. Und er macht viel von der Arbeit, die ich erledigen könnte, gern selbst. Doch er ist eben nicht Ihr Mann.«
»Behandelt er dich denn gut?«
»Ja«, beeilte sich Felix zu versichern, »das auf jeden Fall.« Er zuckte mit den Achseln, als wüsste er nicht recht, wie er es ausdrücken sollte. »Er ist nur eben anders. Ihr Mann hatte so etwas Besonderes an sich, so etwas Feines, das mir und auch den Kunden gut gefiel. Und da ist sein Bruder ein ganz anderer Mensch. Er ist eben kein Wiener, sondern ein Norddeutscher.«
»Mein Mann war auch ein Norddeutscher.«
Felix schüttelte den Kopf. »Er war dort geboren, doch sein Herz schlug für Wien.«
»Ich verstehe, was du meinst.« Therese schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Dann wirst wohl künftig du für das Feine sorgen müssen, das die Wiener so schätzen.«
Felix neigte den Kopf zur Seite. »Ich hoffe, es schmerzt nicht zu sehr, wenn ich sage, dass niemand Ihren Mann mit seiner besonderen Art ersetzen könnte.«
»Das weiß ich«, erwiderte Therese leise. »Und offen gesagt, ist das auch gut so.« Sie machte noch einen Schritt vorwärts und wollte das Tresenbrett umlegen, um nach hinten durchgehen zu können, da kam ihr Felix zuvor und hob es an. »Danke schön, Felix.«
»Sehr gern, Frau Hansen.«
Therese spazierte ins Lager und reckte den Hals, um Georg ausfindig zu machen. Sie konnte ihn jedoch nirgendwo sehen. »Georg?«
»Hier hinten, ich komme gleich.«
Sie hörte, wie etwas zu Boden fiel, dann einen gedämpften Fluch. Kurz darauf trat Georg zwischen den Regalen hervor.
Therese musste lachen. Sein Gesicht war voll mit Kakaobohnenstaub, und auch sein Hemdkragen, der oben aus dem Verkaufskittel herausragte, sowie der Kittel selbst waren braun verschmutzt. »Ja, so muss ein Kakaobohnenhändler aussehen!«, scherzte sie.
»Guten Tag, Therese.«
Therese hielt Abstand, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, und zog ein Stofftaschentuch aus ihrer Handtasche hervor. »Warte mal einen Moment.« Sie wischte mit dem Tuch den Kakaobohnenstaub von seinem Gesicht. Dann hob sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. »Guten Tag, mein lieber Schwager.« Sie zeigte ihm das Tuch, das großflächig mit einer braunen Schicht verschmiert war.
»Das war alles in meinem Gesicht?«
»Allerdings«, antwortete Therese lachend. »Und ich wollte nicht, dass mein Gesicht genauso aussieht.«
»Das verstehe ich.« Er musterte die Schwägerin. »Du siehst gut aus, Therese. Besser als in letzter Zeit. Das freut mich wirklich sehr.«
»Du hast recht. Es geht mir auch besser.« Sie deutete zum Tisch hinüber, an dem drei Stühle standen und der eigentlich dazu diente, hier die Lagerlisten zu schreiben. »Wollen wir uns einen Moment setzen?«
»Du bist mir die netteste Arbeitsunterbrechung, die ich mir nur wünschen kann«, erwiderte Georg. »Soll ich Felix bitten, uns einen Kaffee oder eine Schokolade zu machen?«
Therese wollte schon ablehnen, fragte sich dann aber, was dagegenspräche, das Angebot anzunehmen. Sophia kümmerte sich um die Kinder, das Kaffeehaus behielten Judith, Resi und Vroni im Griff. Sie hatte also keine Zeitnot. Es war das erste Mal seit Monaten, dass sie das Gefühl hatte, sich die Muße für ein Gespräch gönnen zu können. Und sie genoss es sehr, als ihr dies bewusst wurde. »Sehr gern«, antwortete sie deshalb. »Einen Kaffee, bitte.«
»Keine Schokolade?«
Therese schüttelte den Kopf. »Die Art, wie ich sie bei mir im Kaffeehaus zubereite, ist besser. Aber der Kaffee hier ist wirklich gut.«
Georg stemmte die Hände in die Hüften. »Eine Unverschämtheit, Frau Hansen, eine echte Unverschämtheit!« Er zwinkerte ihr zu. »Na gut, dann lasse ich Felix einen Kaffee aufbrühen.«
»Danke«, sagte Therese. Sie fühlte sich sehr behaglich und genoss, wie locker und ungezwungen sie mit ihrem Schwager scherzen konnte. Georg war kein Mann, dessen Charme einen vom ersten Augenblick an in Bann zog. Es stimmte schon, was Felix sagte, er war eher der etwas steife, sehr norddeutsche Mann, viel weniger feinsinnig als Karl. Und das Überkorrekte, das Georg ausstrahlte, mochte einem erst auf den zweiten Blick gefallen. Doch tatsächlich war es ein Unterschied, wie er sich Fremden, also beispielsweise den Kunden gegenüber verhielt und wie er regelrecht auftaute, wenn man privaten Umgang mit ihm pflegte.
So war inzwischen auch Franz geradezu vernarrt in den Bruder seines verstorbenen Vaters, und Therese rechnete es Georg hoch an, dass er sich oft und gern Zeit für seine Nichte und seinen Neffen nahm. Seine Frau Vera wiederum erachtete dies nicht für notwendig. Sie hielt sich von Therese und den Kindern meist fern, was Therese gar nicht verstehen konnte, da Vera doch in Wien zum einen niemanden kannte und auch keine Aufgaben hatte, die sie und damit auch ihren Tag ausfüllen könnten. Tatsächlich war Therese verwundert, wie wenig Kontakt sie mit der Frau ihres Schwagers hatte, fragte sich jedoch, ob dies vielleicht einfach daran lag, dass sie selbst viel zu beschäftigt war.
Damals, als Vera sich während der Trennung von Georg in Wien aufgehalten hatte, hatten Therese und sie einige Zeit miteinander verbracht. Zwar hatte Therese schon damals nicht verstehen können, dass es Vera tatsächlich genügte, die meiste Zeit des Tages in dem Hotelzimmer zu verbringen, in dem sie untergebracht war, und ansonsten höchstens einmal spazieren zu gehen. Vera hatte ihr erzählt, dass sie gern Handarbeiten mache – etwas, das Therese als schrecklichste und so ziemlich langweiligste Aufgabe der Welt ansah. Aber nun gut, die Menschen waren eben verschieden, und jeder musste sich etwas suchen, was ihm lag. Doch warum Vera nicht öfter vorbeikam, und sei es nur, um mit den Kindern ein wenig Zeit zu verbringen, konnte sich Therese nicht erklären. Doch andererseits, das musste sie zugeben, fand sie das so schlimm nun auch wieder nicht.
Frederike hingegen, Veras und Georgs erwachsene Tochter, die mit ihren Eltern zusammen nach Wien gezogen war, sah Therese nun wieder regelmäßig, was sie aufrichtig freute. Natürlich nicht so oft wie damals, als Frederike bei Therese und Karl gelebt hatte, doch mindestens drei- oder viermal die Woche.
Frederike hatte eine Anstellung als Sekretärin bekommen und machte sich wohl recht gut. Wie sie Therese erzählte, hatte sie sich das Tippen auf der Schreibmaschine im Arbeitszimmer der Hamburger Villa nach und nach selbst beigebracht. Aus früheren Gesprächen wusste Therese jedoch, dass es eigentlich das Zeichnen war, das Frederike am meisten Freude bereitete. Nur dass sie damit eben im Berufsleben nichts anfangen konnte.
Georg kam mit zwei Tassen zurück. »So, bitte sehr, ein Kaffee nach Art des Hauses.« Er stellte eine Tasse vor Therese ab, die andere direkt gegenüber und setzte sich dann auf seinen Stuhl.
»Herzlichen Dank«, sagte Therese und führte die Tasse zum Mund, stellte sie aber gleich wieder ab, als sie merkte, dass der Kaffee noch viel zu heiß zum Trinken war. »Und? Wie geht es dir, Georg?«
»Sehr gut.« Er hob den Arm und zeigte mit einer ausladenden Geste auf die Regale. »Das hier ist wirklich meine Welt.«
»Aber das hattest du in Hamburg doch auch.«
»Ja, schon, aber hier ist alles kleiner. Es gibt nur das Lager und den Kontakt mit den Kunden. Das macht mir großen Spaß. In Hamburg verkaufen wir ja nur an Händler, nicht direkt an die Kunden, die mit ihrer Tüte Kaffee- oder Kakaobohnen nach Hause gehen und sich diese dort zubereiten. Es ist ein völlig anderes Arbeiten, auch wenn ich bisher nur selten vorn im Laden war.«
»Doch du müsstest solche Arbeiten wie die hier im Lager ja eigentlich nicht selbst machen. Dafür ist Felix da.«
»Felix ist das vertraute Gesicht, das die Kunden mit dem Kontor verbinden. Ich bin der Geschäftsführer, und wenn ich immer mal wieder vorn im Laden stehe und die Leute sich im Lauf der Zeit an mein Gesicht gewöhnen, ist es gut so. Felix kennen sie länger, ihn verknüpfen sie gedanklich noch mit der Zeit, als Karl hier war. Abgesehen davon macht mir die Arbeit im Lager Spaß. Es tut gut, die Säcke selbst aufzustapeln und am Abend schmerzende Schultern zu haben. So weiß ich, dass ich genug getan habe.«
»Karl hat es auch immer sehr gemocht«, erinnerte sich Therese, doch sofort war da dieser Stich, den der Gedanke an ihren toten Mann mit sich brachte. Sie räusperte sich.
»Mir fehlt er auch.« Georg schien zu ahnen, was in ihr vorging.
»Ja, uns allen.« Sie griff erneut nach der Tasse und trank einen Schluck Kaffee. »Der ist wirklich gut!«
»Danke. Die Bohnen sind erst gestern angekommen. Robert hat einen neuen Lieferanten aufgetan, und es kommt mir vor, als sei die Qualität noch besser.«
Therese setzte die Tasse abermals an, schmeckte noch einmal. »Der Geschmack ist kräftiger, nicht wahr?«
»Genau.« Georg trank ebenfalls einen Schluck. »Irgendwie vollmundiger.«
»Lieferst du mir nächstes Mal diese Bohnen fürs Kaffeehaus?«
»Aber natürlich, sehr gern.«
»Weshalb ich hergekommen bin …«, wechselte Therese nun das Thema. »Ich habe mir etwas überlegt.«
Georg sah sie aufmerksam an.
»Ich habe mit Judith gesprochen«, fuhr sie fort. »Wie du ja weißt, stand ich in letzter Zeit ein wenig neben mir.«
»Ist das ein Wunder? Wer könnte es dir verdenken?«
»Es ist lieb, dass du das sagst. Doch tatsächlich kann es so ja nicht weitergehen.«
»Was meinst du damit?«
Therese drehte nachdenklich die Tasse in ihrer Hand und hielt den Blick darauf gerichtet. »Ich kämpfe mich mühevoll durch jeden Tag, und die Kinder spüren das natürlich. Es ist an mir, sie zu leiten und ihnen zu vermitteln, dass das Leben schön ist, auch wenn schreckliche Dinge geschehen sind.«
»Deine Einstellung ist bewundernswert. Ich glaube, es gibt nicht viele, die so denken.«
»Ich finde einfach, dass es meine Aufgabe ist, uns alle wieder glücklich zu machen. Karl nannte mich immer seinen Sonnenschein. Und genauso möchte ich mich auch selbst wieder sehen. Dieses Dunkle und Trübsinnige passt gar nicht zu mir.« Sie sah ihren Schwager an. »Judith schlug mir einen Tapetenwechsel vor, und sie bot an, sich während dieser Zeit gemeinsam mit Resi und Vroni um das Kaffeehaus zu kümmern. Nun ja, und da du hier alles bestens im Griff hast, spricht wohl nichts dagegen.«
»Und wo willst du hin?«
»Ich dachte daran, die Familie in Hamburg für eine Weile zu besuchen.«
»Wirklich?« Georgs Miene erhellte sich. »Das ist eine ganz wunderbare Idee, Therese.«
»Ich bin froh, dass du das sagst.« Sie lächelte den Schwager erleichtert an.
»Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.« Er griff über den Tisch nach Thereses Hand. »Hamburg wird dir guttun.«
»Ich hoffe es. Und vielleicht werde ich auch endlich die Gelegenheit haben, mir die Stadt in Ruhe anzusehen. Die wenigen Male, die ich zusammen mit Karl dort war, waren einfach zu kurz.«
Er drückte noch einmal ihre Hand, dann zog er seine zurück und setzte sich wieder gerade hin. »Also wirst du ja bald Luises kleine Tochter sehen. Und auch Marie, die Tochter meines Sohnes Richard. Gewiss werden die beiden reizenden Kinder es schaffen, dass du wieder zu dem Sonnenschein wirst, den Karl in dir sah.«
»Ich danke dir, Georg. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Karls Familie nach dessen Tod getan hätte.«
»Wir alle sind eine Familie, nicht nur Karls, sondern auch deine. Robert, Karl und ich hätten als Brüder unterschiedlicher nicht sein können. Ich habe einmal den Fehler gemacht, den Zusammenhalt auf eine schwere Probe zu stellen. Doch seit dieser Zeit weiß ich noch viel mehr, wie wichtig mir diese Familie ist. Lass sie auch dir den Halt geben, den du brauchst.«
»Nun kommen mir fast die Tränen«, sagte Therese gerührt. »Ich danke dir wirklich sehr.« Sie stand auf. »Dann will ich jetzt gehen und dich nicht weiter von deiner Arbeit abhalten. Ach, sei so nett und sag Robert noch nichts, solltest du womöglich mit ihm telefonieren.«
»Willst du ihn in Hamburg überraschen?«, fragte Georg erstaunt und erhob sich ebenfalls.
»Nein, das nicht. Das wäre ja eher ein Überfall. Ich werde selbst mit ihm telefonieren und es ihm dann persönlich sagen. Ich gebe zu, ich möchte auch an seiner Stimme hören, ob es ihm wirklich recht ist.«
»Das wird es sein. Mach dir keine Gedanken.«
Georg begleitete die Schwägerin noch ein paar Schritte und verabschiedete sich dann. So schmutzig, wie er von den Kakaobohnen war, wollte er nicht in den Verkaufsraum treten und womöglich von Kunden gesehen werden.
Sie umarmten sich, und Therese gab Georg noch einen Kuss auf die Wange. Dann ging er wieder nach hinten ins Lager und sie in den Verkaufsraum.
Felix bediente gerade eine Kundin, hob aber rasch das Tresenbrett an, als er Therese kommen sah, damit sie hindurchtreten konnte.
Therese grüßte die Kundin, dann verabschiedete sie sich von Felix und wünschte den beiden noch einen guten Tag. Als sie das Gebäude verließ, sah sie an der Fassade hinauf. Karls Name stand noch immer daran, und das würde sich auch nicht ändern.
Es war das erste Mal seit Monaten, dass Therese das Gefühl hatte, alles würde sich richten und eines Tages wieder gut sein. Ohne Karl zwar, aber dennoch. Auch wenn sie den Weg ohne ihren Mann nicht aus freien Stücken gewählt hatte, so würde sie ihn akzeptieren. Und ihn immer weitergehen. Schritt für Schritt. Nur niemals stehen bleiben und verharren. Denn das entsprach nicht ihrem Wesen.