13. Kapitel
Kamerun, Montag, 3. Dezember 1894
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Hamza die Augen aufschlug. Wie jeden Morgen konnte er sich nicht dagegen wehren, dass sein erster Gedanke nach dem Aufwachen Luise galt. Doch heute war ein besonderer Tag, denn er wusste, dass heute Luises einundzwanzigster Geburtstag war. Er hatte sich dieses Datum gemerkt, weil die Deutschen auf so etwas Wert legten, wie er mitbekommen hatte. In Kamerun war das vollkommen anders. Oftmals erinnerten sich die Eltern gerade noch, in welcher Jahreszeit das Kind geboren worden war. Doch aufgrund des beständigen Klimas war auch das nicht immer der Fall. Wozu jedoch der Tag der Geburt mit einer Zahl verknüpft werden musste, würde man gewiss keinem Kameruner plausibel machen können. Auch Hamza fand es überflüssig, doch da er versucht hatte, sich so gut es ging den Gepflogenheiten der Deutschen anzupassen, hatte er sich Luises Geburtstag gemerkt.
Er fragte sich, wie es ihr wohl ging. Anders als sonst, wo er sich rasch jeden weiteren Gedanken an Luise verbot, beschloss er aufzustehen, zu ihrem Baumstamm zu gehen und sich zu
gestatten, Luises und ihrer gemeinsamen Zeit zu gedenken. Nur heute, weil es ihr Geburtstag war und es bei dieser einen Ausnahme bleiben sollte.
Er schwang seine Beine aus dem Bett, zog sich Hose und Hemd über und machte sich barfuß auf den Weg. Auch wenn er sie inzwischen tagsüber immer trug, hatte Hamza sich an die Schuhe der Weißen noch immer nicht wirklich gewöhnen können. Andererseits fand er, wenn er Hose und Hemd trug, musste er, was die Schuhe anging, konsequent sein, auch wenn es ihm schwerfiel. Nun jedoch, da noch alle schliefen und niemand ihn sehen würde, war er erleichtert, dass er die Schuhe einfach im Zimmer stehen lassen konnte.
So leise es ihm möglich war, verließ er sein Zimmer, schlich die Stufen hinunter und ging hinaus. Gemächlich schritt er zu dem Baumstamm, der ein Stück weit von dem Farmhaus entfernt war und von dort nicht gesehen werden konnte, und setzte sich. Der Himmel war in ein zartes Rosa getaucht, das allmählich kräftiger wurde. Nicht mehr lange, dann würde die Farbe zu einem hellen Orange wechseln, und nur der Bereich um den Kamerunberg herum würde sich in einem lichten Grauton absetzen. So war es immer, wenn die Sonne aufging und die Nacht verdrängte. So war es auch gewesen, wenn er mit Luise hier gesessen hatte.
Er schloss die Augen und stellte sich vor, ihre Schritte herankommen zu hören, leise, ganz leise, damit niemand mitbekäme, dass sie sich hier trafen. Dann würde sie sich neben ihn setzen und ihre Hand auf seinem Oberschenkel ablegen, wie sie es schon so oft getan hatte. Oder sie würde einfach nur schweigend seine Hand nehmen, ganz still und vertraut, und sie hätten das Gefühl, es gäbe nur sie beide auf dieser Welt. Alle anderen schliefen, niemand war da, um sie zu stören. Sie könnten wieder diese Vertrautheit spüren, diese enge Verbundenheit, die es zwischen ihnen gegeben hatte. Hier, an diesem Ort und
zu dieser Zeit so früh am Tag war immer alles gut gewesen, alles hatte sich richtig angefühlt, was mit dem Aufsteigen der Sonne in Geheimniskrämerei und Lügen untergegangen war. Nein, sie hatten niemals eine echte Chance gehabt, auch wenn sie es sich noch so sehr eingeredet hatten.
Hamza streckte die Beine aus, reckte sein Gesicht der aufgehenden Sonne entgegen und genoss die Wärme, die die Nachtluft immer mehr durchdrang. Ob Luise wohl auch noch manchmal an ihn dachte? Ob sie sich womöglich auch nach ihm sehnte? Seine Wut und Enttäuschung waren in den letzten Tagen schwächer geworden. Zwar konnte er noch immer nicht verstehen, weshalb sie sich nicht einmal von ihm verabschiedet hatte. Andererseits hatte er sich daran erinnert, wie die beiden seinerzeit, als Luise in Kamerun gelebt hatte, ihre gemeinsame Flucht geplant hatten und an ebendiesem Baumstamm verabredet gewesen waren. Damals war er derjenige gewesen, der nicht gekommen war. Er erinnerte sich noch gut daran.
Es war die Nacht gewesen, in der seine Schwester Nila gestorben war. Sie hatte einen Ochsenkarren geführt, der vom Pfad abkam. Nila hatte noch versucht, ihn zu stützen, doch das Tier fand am Rand des matschigen Weges keinen Halt mehr und hatte den Karren einige Meter mit sich in die Tiefe gerissen. Nila wurde darunter begraben. Als Hamza und einige Stammesbrüder Nila fanden, hatte sie noch gelebt. Und fast war es ihnen sogar schon gelungen, den Karren wieder aufzurichten, als dieser erneut kippte und schwer auf Nila herunterkrachte. Hamza hatte versucht, es zu verhindern, und sich dabei das Bein gebrochen. Noch in der gleichen Nacht war Nila in den Armen ihres Bruders gestorben. Hamza atmete geräuschvoll aus. Die Erinnerung an diese Nacht setzte ihm auch heute noch zu.
Er verlagerte sein Gewicht nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie. War es möglich, dass Luise ebenfalls etwas geschehen war, das sie daran gehindert hatte, vor seiner Abreise
zu ihm zu kommen? Er hatte keine Ahnung, wie es bei den Weißen ablief, wenn eine Frau ein Kind bekam. Durfte sie dann womöglich das Haus für eine Weile nicht verlassen?
Er richtete sich auf. Es war das erste Mal, dass ihm der Gedanke kam, Luise hätte womöglich gar keine Gelegenheit gehabt, ihn noch einmal aufzusuchen. Was, wenn er ihr unrecht tat – so wie auch sie damals geglaubt hatte, er hätte es sich einfach anders überlegt, als er nicht zum Treffpunkt am Baumstamm gekommen war? Was, wenn sie ebenso verzweifelt war wie er über die schreckliche Art und Weise, wie sie hatten auseinandergehen müssen?
Hamza schloss die Augen, sah Luises Gesicht vor sich. Fast glaubte er, ihre Berührungen spüren zu können. Luise, seine große Liebe, die Frau, für die er bereit gewesen war, alles aufzugeben, seine Familie zu verlassen, seinem Stamm den Rücken zu kehren und mit ihr gemeinsam fortzugehen in die englischen Kolonien, wo sie zwar auch nicht geachtet gewesen wären, aber doch zumindest geduldet, und wo sie gemeinsam hätten leben können.
Raimund Leffers, der Sohn von Felicitas und Sigmund Leffers, hatte es damals tatsächlich gemacht. Zusammen mit Suna, einer Duala, in die er sich verliebt hatte, war er fortgelaufen, um sich bis zu den englischen Kolonien durchzuschlagen. Hamza hätte zu gern gewusst, was Sigmund zu der Flucht seines Sohnes gesagt hatte. Immerhin machte Raimunds Vater keinen Hehl aus der Verachtung, die er den Einheimischen gegenüber empfand. Er war ein vollkommen anderer Mensch als beispielsweise Luises Vater. Robert Hansen hatte ihn stets gut und mit Respekt behandelt, was man nur von den wenigsten Deutschen in Kamerun sagen konnte.
Je mehr er über Luise und Robert nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihm vor, dass das, was er noch vor ein paar Tagen geglaubt hatte, wirklich wahr sein könnte. Ebenso
wie es dumme Deutsche gab, gab es auch dumme Duala, Bakwiri und Bakoko. Hatte er sich womöglich getäuscht und unterlag einem furchtbaren Irrtum, der ihn verbitterte und seine Seele finster werden ließ? Doch was war mit Heinrich Begemann? Er hatte genau gehört, wie Leffers ihn für seine List gelobt hatte, Hamza zu befördern, um so dafür zu sorgen, dass dieser den Mund hielte. Hamza seufzte laut. Irgendwie hatte er das Gefühl, gar nichts mehr sicher zu wissen.
Ob er Luise schreiben und versuchen sollte, etwas über ihre Gründe zu erfahren? Mit dem Schreiben tat er sich zwar noch schwer, aber das Lesen ging ganz gut. Doch was, wenn womöglich ein anderer als Luise den Brief in die Finger bekäme und seine Schlüsse daraus zöge? Würde er damit nicht sie beide verraten, wo doch nun gar keine Gefahr mehr bestand? Aber wie sollte er weiterleben mit all den Fragen, die ihn plagten und ihm so schwer auf der Seele lagen?
Der Himmel war inzwischen kräftig orange. Nicht mehr lange, dann würden alle erwachen, und das Leben auf der Plantage würde seinen Lauf nehmen. Hamza erhob sich und blickte noch einmal zum Kamerunberg. Fast sah es aus, als stiege Rauch von dort auf. Konnte das sein? Wenn ja, dann war es ein gewaltiges Feuer, das dort loderte und bis hierher zu sehen war.
Er wandte den Blick ab und ging zurück zum Haus. Vielleicht sollte er doch noch einmal das Gespräch mit Heinrich Begemann suchen. Mehr, als dessen Ansichten über ihn bestätigt zu bekommen, riskierte er schließlich nicht. Und dann wäre er auch nicht enttäuschter als ohnehin schon. Doch wenn dabei herauskäme, dass er womöglich etwas falsch verstanden hatte und Begemann doch der Mensch war, für den Hamza ihn immer gehalten hatte, dann könnte zumindest seine Seele wieder ein wenig Frieden finden. Der kleine Hoffnungsschimmer gab ihm neuen Mut.
Einen Tag nachdem Hamza zu so früher Stunde den Rauch in der Nähe des Kamerunbergs hatte aufsteigen sehen, erreichte die Plantage der Familie Hansen die Nachricht, was die Beobachtung wirklich zu bedeuten gehabt hatte. Die Deutschen hatten die Kämpfer vom Stamm der Bakwiri aufgebracht und vernichtend geschlagen. Dschagga, der Stammesführer, war tot, ebenso wie fast drei Viertel seiner Männer. Die Überlebenden mussten sich nun darum kümmern, dass Frauen und Kinder versorgt waren. Einige wenige jedoch, so hieß es, hatten den Deutschen blutige Rache für den Tod des Stammesführers geschworen und sich in den Urwald geschlagen, wo sie gegenüber den Deutschen klar im Vorteil waren.
Hamza hatte einen Teil der Informationen von Heinrich Begemann bekommen, anderes wiederum von seinen eigenen Stammesbrüdern gehört. Die hatten die Befürchtung, dass von den wenigen Männern, die Rache geschworen hatten, eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausging und es gut möglich war, dass es Überfälle auf Deutsche geben würde, sodass diese sich vor allem bei den sonntäglichen Kirchgängen vorsehen müssten sowie anlässlich anderer Zusammenkünfte, bei denen die Deutschen sich austauschten.
»Ist alles in Ordnung, Hamza?«, fragte Heinrich Begemann, als er vom Haus herüberkam, um auf der Plantage nach dem Rechten zu sehen.
»Die Männer sind ein bisschen unruhig«, erklärte Hamza. »Es gibt Gerüchte, wonach einige Bakwiri Rache geschworen haben.«
»Und man kann es ihnen nicht mal verdenken«, gab Begemann seine Ansicht preis.
»Den Bakwiri?«, fragte Hamza nach. Er wollte sich vergewissern, ihn richtig verstanden zu haben.
Begemann nickte. »Ich würde es zwar nicht vor einem deutschen Militärkommando wiederholen, doch ich kann von
der Sache her verstehen, was die Bakwiri umtreibt. Sie haben nur versucht, sich gegen die Landnahme durch die Deutschen zu verteidigen, und daraus ist dann ein Blutbad geworden.« Er seufzte und schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß nicht, Hamza, ob das, was die Deutschen hier in eurem Land machen, wirklich richtig ist. Und nicht nur die Deutschen – die anderen Europäer sind nicht besser. Mir kommen immer größere Zweifel.«
Hamza sah ihn abwartend an. Er war noch immer vorsichtig Heinrich Begemann gegenüber und wusste nicht, ob er ihm trauen konnte. Spielte der Verwalter ihm womöglich nur vor, dieser Ansicht zu sein, um sicher sein zu können, die Duala nicht eines Tages gegen sich zu haben? Schließlich wusste Begemann sehr genau, dass für den Fall, dass die Duala ihre Arbeit auf der Plantage einstellten, diese nicht mehr länger zu betreiben wäre. Und bis er genug neue Arbeiter fände, wäre zumindest ein Teil der Ernte verdorben, was einen riesigen Verlust für die Hansens bedeuten würde.
»Einmal angenommen«, fuhr Begemann fort, »du hättest – beispielsweise als Stammesführer – die Möglichkeit gehabt, mit den Deutschen zu sprechen … Sie wären also gekommen und hätten gesagt, dass du und dein Stamm das Land verlassen müsst, auf dem dein Volk schon immer gelebt hat. Das hätte dir doch sicher nicht gefallen.«
»Nein, gewiss nicht«, musste Hamza eingestehen.
»Und wie hättest du die Lage bereinigt?«
Hamza überlegte eine kleine Weile und antwortete dann: »Ich denke, ich hätte versucht herauszufinden, warum die Deutschen genau dieses Stück Land begehren.«
»Ein sehr kluger Ansatz«, sagte Begemann anerkennend. »Nun, nehmen wir einmal an, weil die Pflanzen dort besser wachsen und die Anbindung an die Wasserwege günstiger ist als anderswo.«
»Dann könnte ich verstehen, weshalb sie dieses Stück Land haben wollen.«
»Und würdest du es ihnen einfach überlassen?«
Hamza wiegte den Kopf. »Mir wäre von Anfang an bewusst, dass ich ihnen das Land am Ende ja doch geben müsste. Also würde ich versuchen, das Bestmögliche für mein Volk dabei herauszuholen, und mir beispielsweise einen kleinen Anteil an den Erträgen für meine Leute sichern, sodass es auch für uns lohnend wäre.«
»Und warum sollten die Deutschen darauf eingehen?«
»Weil auf diese Weise Verzögerungen durch kriegerische Auseinandersetzungen vermieden werden und sie darüber hinaus zuverlässige Arbeiter gewinnen könnten, mit einem eigenen Interesse daran, einen möglichst hohen Gewinn auf der neu entstandenen Plantage zu erzielen. So gäbe es am Ende niemanden, der sich beschweren könnte.«
»Und alle wären zufrieden. Tja, da sieht man mal wieder, wie einfach verfahrene Situationen durch kluge Überlegungen bereinigt werden könnten«, stellte Begemann abschließend resigniert fest. Er legte in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf Hamzas Schulter. »Hoffen wir nur, dass nicht noch mehr geschieht!« Dann deutete er hinüber zum Lager. »Ich habe gesehen, dass schon alles für morgen bereitliegt.«
»Ja, es ist die gesamte restliche Ernte. Die Hansens können zufrieden sein.«
»Das werden sie, ganz gewiss. Ich weiß, wie hoch sie all das einschätzen, was wir, und damit meine ich jeden deiner Stammesbrüder genauso wie uns beide, hier leisten.«
»Es ist sehr freundlich, dass Sie das sagen. Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Aber natürlich, Hamza, immer raus damit!«
»Ich möchte gern wissen, aus welchem Grund Sie mich befördert haben. Weshalb haben Sie mich zum Vorarbeiter auf der Plantage gemacht?«
Begemann wollte gerade antworten, als plötzlich wie aus dem Nichts ein halbes Dutzend Reiter mit brennenden Fackeln aus dem Urwald herausbrachen und auf das Lager zustürmten.
»Bakwiri!«, brüllte Hamza und rannte zum Lager hinüber, genau wie die anderen Duala, die durch den lauten Schrei aufmerksam geworden waren.
Sofort riefen viele Stimmen durcheinander, die Duala versuchten die Bakwiri von ihren Pferden zu stürzen, da wurde bereits die erste Fackel auf die aufgestapelten Kakaobohnensäcke geworfen. Der Stoff fing augenblicklich Feuer. Schon flog die nächste Fackel, die ihr Ziel ebenfalls nicht verfehlte, bevor Hamza den Werfer erreichte, ihn vom Pferd ziehen und zu Boden ringen konnte. Begemann sprang ihm zur Seite und hielt den Mann fest, während die anderen Duala versuchten, auch die weiteren Reiter herunterzuziehen. Noch drei Bakwiri konnten kurz hintereinander von ihren Pferden gezogen werden, sodass sich am Ende nur noch zwei von ihnen Fackeln schwingend auf ihren Reittieren hielten.
Einer von ihnen wendete sein Pferd und hielt nun genau auf Hamza und Begemann mit dem sich am Boden windenden Bakwiri zu. Hamza sah es und stieß Begemann mit einer raschen Bewegung beiseite. Der Reiter schwang die Fackel und schlug sie Hamza mit aller Kraft gegen die Schulter. Sofort entzündete sich Hamzas Hemd, doch er schlug eilig die Glut aus und konnte so ein Aufflammen verhindern.
Noch mehr Duala eilten herbei, hielten diejenigen, die bereits von den Pferden gestürzt waren, fest und versuchten, die zwei letzten Reiter zu fassen. Der eine warf seine Fackel nun ebenfalls auf die aufgestapelten Säcke, und das Feuer im Lager schwoll weiter an. Gleich darauf wurde auch er vom Pferd gerissen.
»Hamza, die Bohnen!«, schrie Begemann und rappelte sich auf.
Die ersten Duala rannten los, um Wasser zu holen, während andere versuchten, die brennenden Säcke von den noch unversehrten herunterzustoßen. Ein Duala geriet dabei selbst in Brand, zwei andere warfen ihn zu Boden und erstickten die Flammen mit ihren eigenen Körpern.
Begemann zerrte die noch unversehrten Säcke zur Seite. Der letzte noch verbliebene Reiter hielt genau auf ihn zu.
»Achtung!«, brüllte Hamza noch, da hatte der Bakwiri den Verwalter bereits erreicht und hieb ihm die brennende Fackel auf den Kopf.
Begemann brach zusammen, Kleidung und Haare fingen sofort Feuer.
»Wasser! Holt mehr Wasser!« Hamza sprintete los, doch der Bakwiri sprang von seinem Pferd, zückte ein Messer, hastete zu Begemann und rammte ihm die Klinge direkt ins Herz.
In diesem Moment erreichte Hamza ihn und riss ihn von Begemann herunter. Die Kleidung des Bakwiri hatte ebenfalls Feuer gefangen.
Hamza stieß ihn beiseite, versuchte verzweifelt, die Flammen am Körper Begemanns zu ersticken. Zwei Duala rannten mit Eimern herbei und leerten sie über dem Verwalter aus. Die Flammen erloschen, doch Begemann rührte sich nicht mehr. Sein Haar war fast vollständig verschmort, die Haut des Gesichts zum Teil geschmolzen. Sein Hemd war an der Brust mit Blut durchtränkt. Hamza legte eine Hand auf Begemanns Brust, um zu fühlen, ob er noch atmete. Es gab keine Bewegung mehr, keine Atmung. Begemann war tot.
Stunden später saßen der Stammesführer der Duala, Hamza, Malambuku und insgesamt zwanzig junge Duala auf dem Absatz der Veranda der Hansen-Farm und warteten auf die Ankunft der Deutschen, die mittlerweile durch einen von Hamza losgeschickten Reiter über die Geschehnisse informiert worden
waren. Einer der Bakwiri war seinen Brandverletzungen erlegen. Die anderen fünf saßen gefesselt und von Duala bewacht auf der Erde und sahen ihrem Schicksal entgegen, das sich entscheiden würde, sobald die Deutschen einträfen.
Der nächstgelegene Posten war nicht mehr als etwa zwei Stunden Ritt entfernt. Es würde also nicht mehr allzu lange dauern, bis die Deutschen kommen und die Angelegenheit regeln würden.
Weder Hamza noch Malambuku wussten, wie es jetzt weitergehen sollte. Der Verwalter der Plantage war tot, die Ernte bis auf drei verbliebene Säcke verloren, weil es ihnen nicht gelungen war, das Feuer zu löschen, bevor die Flammen übersprangen. Was dies für jeden Einzelnen von ihnen bedeutete, konnte Hamza nicht einmal erahnen.
Als die Deutschen schließlich eintrafen, waren sie in Begleitung von Sigmund Leffers, was Hamzas Hoffnung schwinden ließ, dass die Angelegenheit auch nur einigermaßen vernünftig geregelt würde. Hamza schilderte, so ruhig es ging, was geschehen war. Keinesfalls wollte er riskieren, dass man den Duala eine Mitschuld am Tod des Deutschen Heinrich Begemann vorwerfen konnte.
Es überraschte ihn, dass Leffers seinen Worten vorbehaltlos Glauben schenkte. Er hätte mit allem gerechnet, dass sie beispielsweise abgeführt, ausgepeitscht oder auch gleich erschossen würden. Doch so war es nicht. Leffers sagte Hamza, dass er wisse, wie Begemann über ihn gedacht und dass er ihm vertraut hatte. Und solange er nicht das Gegenteil annehmen musste, würde auch Leffers selbst es so halten. Er sagte Hamza zu, Robert Hansen telegrafisch mitzuteilen, was sich ereignet hatte. Bis von diesem eine Antwort eintreffen würde, sollten Hamza und Malambuku versuchen, die Plantage auch ohne Verwalter weiterzuführen, und zusehen, ob womöglich nicht doch noch ein Teil der verbrannten Kakaobohnen zu gebrauchen wäre.
Hamza sicherte es zu, dann nahmen Leffers und die anderen Deutschen die Bakwiri mit. Was diesen bevorstand, konnte Hamza sich nur allzu gut vorstellen. Er fand es richtig. Sein Hass auf die Bakwiri hätte zu diesem Zeitpunkt größer nicht sein können.
Als er schließlich ins Haus ging und an Begemanns Zimmer vorbeikam, warf er einen Blick durch die geöffnete Tür.
Es würde ein Begräbnis für den Deutschen geben, das hatte Leffers ihm gesagt. Bis dahin sollte der Leichnam auf der Plantage verbleiben, fest in Baumwolltücher eingewickelt, damit sich keine Tiere oder Insekten daran gütlich tun konnten.
Hamza sah sich um. Noch vor wenigen Stunden war Begemann hier gewesen. Er hatte dort am Tisch gesessen und etwas geschrieben. Und nun würde er nie mehr zurückkommen. Hamza dachte an die letzten Momente, die er im Gespräch mit dem Deutschen verbracht hatte. Er hatte Begemann gerade gefragt, weshalb dieser ihn befördert hatte, um für sich herauszufinden, ob er sich womöglich in seiner ersten Wut getäuscht und dem Verwalter unrecht getan hatte. Nun würde er es nie mehr erfahren.
Hamza trat an den Schreibtisch, auf dem ein Brief lag, den Begemann offenbar kurz vor seinem Tod geschrieben hatte. Er steckte noch nicht in dem Kuvert, das danebenlag. Hamza setzte sich auf den Stuhl, nahm den Briefbogen und begann zu lesen.
Kamerun, 4. Dezember 1894
Lieber Robert,
diese Ladung Kakaobohnen, die Du hier erhältst, ist nun der Rest der letzten, wieder hervorragenden Ernte. Unsere Pflanzen sind so kräftig und gesund, wie wir es uns besser nicht vorstellen könnten.
Doch so gut diese Nachrichten auch sind, so beunruhigend ist das, was ich Dir außerdem zu berichten habe. Denn leider scheint es, als könnten die Deutschen und die Einheimischen nicht in Frieden miteinander leben. Denn die Unruhen, die nach dem Dahomey-Aufstand eigentlich beigelegt waren, sind nun durch die Bakwiri wieder aufgeflackert. Der Stamm der Bakwiri, der nicht weit von unserer Plantage lebt, hat sich geweigert, das Gebiet um den Kamerunberg von den Deutschen bepflanzen zu lassen und dort den Bau von Faktoreien zuzulassen. Es hat vielfache kämpferische Handlungen gegeben mit großen Verlusten auf beiden Seiten.
Um ein für alle Mal den deutschen Willen durchzusetzen, hat nun vor wenigen Tagen Oberleutnant von Stetten in Begleitung von Dr. Preuß und Leutnant Hans Dominik eine Strafexpedition angeführt, in deren Verlauf der Stammesführer der Bakwiri namens Dschagga getötet wurde.
Es hat wohl so kommen müssen. Allerdings empfinde ich das, was den Einheimischen angetan wird, immer mehr als schreckliche Ungerechtigkeit – Verträge hin oder her. Versteh mich bitte nicht falsch; ich weiß sehr genau, dass es bei der Aufteilung des Schwarzen Kontinents mit rechten Dingen zugegangen ist. Auch sehe ich es positiv, dass sie nicht nur die Möglichkeit haben, durch ihre Arbeit auf den Plantagen ihre Familien zu ernähren, sondern darüber hinaus, wie wir am Beispiel von Hamza sehen, die Gelegenheit erhalten, sich größeres Wissen und ganz neue Fertigkeiten anzueignen und dadurch Ziele zu verwirklichen, die es für die Eingeborenen vor der Ankunft der Europäer nicht gegeben hat. Doch sosehr mir dies alles auch bewusst ist, so falsch empfinde ich dennoch, wie mit den Menschen umgegangen wird.
Als Beispiel möchte ich dir von einem Gespräch erzählen, das ich mit Sigmund Leffers führte. An jenem Tag hatte ich, Deinem Wunsch folgend, den Du in Deinem letzten Brief geäußert hast, Hamza den Posten des Vorarbeiters auf der Plantage angeboten. Wie von Dir ebenfalls gewünscht, habe ich ihm nicht gesagt, dass
dies auf Deine Veranlassung hin geschah. Wir hatten zuvor eine Unterhaltung über die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in Hamburg und hier in Kamerun, bei der sich wieder einmal zeigte, dass Hamza ein überaus kluger junger Mann ist, der sich viele Gedanken um seine Mitmenschen macht. Es ging darum, dass er mir – durchaus nicht unfreundlich, aber doch ziemlich direkt – vorhielt, dass wir die Frauen der Männer, die auf unserer Plantage arbeiten, nicht gesondert bezahlen, obwohl die Frauen in Hamburg immer Geld für ihre Arbeit bekommen, ob deren Ehemänner nun ebenfalls dort arbeiten oder nicht. Er brachte das Argument vor, dass ja – wenn die Männer, die hier arbeiten, keine Frauen hätten, die ihnen helfen könnten – weitere Männer eingestellt werden müssten, die dann allerdings vollen Lohn erhalten würden. Du merkst sicher, worauf seine Argumentation hinausläuft. Natürlich konnte ich ihm nicht eingestehen, dass ich seine Denkweise vollkommen richtig finde. Die anderen Deutschen hier würden mich lynchen, käme ich auf die Idee, für die Arbeit der Frauen zusätzlich zu bezahlen. Also habe ich die Diskussion über das Thema abgebrochen.
Doch es zeigte mir einmal mehr, wie schlau Hamza ist und dass er einer der wenigen sein könnte, die in der Lage sind, eine führende Position als Sprecher der Kameruner einzunehmen. Jemand, der seinem Volk helfen kann, sich mit Worten und gewaltfreiem Widerstand gegen die aufzulehnen, die dies nicht zulassen wollen. Er begreift Zusammenhänge, denkt über sein eigenes Wohl und auch über das Wohl der Duala hinaus und könnte wirklich etwas bewegen. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich darauf freue, seine Entwicklung miterleben zu dürfen. – Ich kann mir bildlich vorstellen, wie Du lächelst, wenn Du diese Zeilen liest, findest Du doch darin Deine Meinung über Hamza bestätigt: dass er ein ganz besonderer junger Mann ist, der mit der richtigen Förderung Großes erreichen kann.
An dieser Stelle möchte ich aber noch einmal auf den Abend zurückkommen, als Felicitas und Sigmund Leffers zu Besuch waren.
Du kennst ja Sigmund Leffers und seine menschenverachtenden Ansichten über die Einheimischen. Natürlich kam das Gespräch sofort auf die Situation im Land und darauf, wie man Frieden herstellen könnte. Leffers hatte hierzu einen eindeutigen Standpunkt: Härte, Gewalt und Strafen. Als ich ihm nun sagte, dass ich es genau anders sähe, dass man nämlich durch einen respektvollen Umgang und Lob wesentlich mehr erreichen könne, erzählte ich in diesem Zusammenhang auch von Hamzas Gedanken über die Bezahlung von Frauen. Glaub mir, Leffers schnappte buchstäblich nach Luft und schlug sogleich eine Bestrafung Hamzas vor, worauf ich gar nicht erst einging. Vielmehr sagte ich ihm, dass ich diesen guten Mann und Arbeiter mit der Beförderung belohnt und ihm damit den Respekt, den er verdiente, entgegengebracht hätte. Dadurch sei aus einem möglicherweise unzufriedenen jungen Mann ein glücklicher mit besserer Stellung geworden, der alles daransetzen werde, das ihm entgegengebrachte Vertrauen zu rechtfertigen.
Wenn Du von Sigmund Leffers
’
Reaktion auf meine Worte liest, dann wird das auch bei Dir, mein lieber Robert, ein Kopfschütteln hervorrufen. Denn Leffers lobte mich als einen gerissenen Fuchs, der
den Neger
, wie er Hamza nennt, damit ausgetrickst habe. Kannst Du Dir das vorstellen? Er hat nicht einmal ansatzweise verstanden, dass mein Respekt gegenüber Hamza und das Vertrauen in ihn aufrichtig sind und ich große Hoffnungen in seine Fähigkeiten setze.
Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Ich glaube, es braucht hier viel mehr Männer, die Deine und meine Einstellung teilen, und viel weniger vom Schlag eines Leffers, eines Leist, eines von Stetten und wie sie sonst noch alle heißen, die einfach nicht verstehen, was Achtung bei anderen Menschen bewirken kann.
So, mein lieber Robert, es tat gut, mir meinen Unmut von der Seele zu schreiben. Nun bleibt mir nur zu hoffen, dass auch bei Euch in Hamburg alle wohlauf, gesund und glücklich sind. Ich selbst werde diese Lieferung bis zum Schiff begleiten und mein Gewehr
zur Hand haben, da es in letzter Zeit immer öfter zu Überfällen gekommen ist – wobei gerade von den letzten Bakwiri, die ohne ihren Stammesführer zusehen müssen, wie sie künftig ihre Familien ernähren, keine geringe Gefahr ausgeht. Bei der Gelegenheit werde ich mir auch endlich einmal den Fortschritt beim Bau des Anlegers ansehen und Dir in meinem nächsten Brief davon berichten.
In treuer Verbundenheit
Dein Verwalter Heinrich Begemann
Hamza ließ den Brief sinken und musste die Tränen zurückdrängen. Nun wusste er, wie Begemann von ihm gedacht hatte. Doch es war zu spät.