14. Kapitel
Hamburg, Mittwoch, 5. Dezember 1894
Seit jenem Abend vor einer Woche, als Therese und Robert beim Essen gewesen waren, hatte sich für die beiden keine Gelegenheit ergeben, über ihre Küsse und Zärtlichkeiten zu sprechen. Dabei hätte Therese zu gern gewusst, was Robert fühlte und ob ihr Näherkommen nur einer momentanen Laune geschuldet gewesen war. Doch wie hätte sie ihn das fragen sollen? Schließlich waren immer mehrere Familienmitglieder um sie herum, und Therese befürchtete, dass Robert die Küsse vielleicht sogar bereute und es darum womöglich vermied, mit ihr allein zu sein.
»Was wollen wir heute unternehmen?«, fragte Robert beim Frühstück.
»Wir können dich unmöglich schon wieder mit Beschlag belegen«, sagte Therese. »Du bist ja, seit wir hier sind, kaum zum Arbeiten gekommen.«
»Bis zum Mittag muss ich ins Kontor. Doch danach gehöre ich wieder ganz euch.« Er breitete die Arme aus, als mache er sich selbst zum Geschenk.
Luise lachte. Sie fand es herrlich, ihren Vater so glücklich zu erleben. Seit Therese da war, war er wie verwandelt. Es war zwar eigentlich Therese gewesen, die einen Tapetenwechsel gebraucht hatte und Wien entfliehen wollte, wo sie alles an ihren verstorbenen Ehemann erinnerte, doch kam ihr Besuch am Ende vor allem Robert zugute, der förmlich aufblühte. Galten sonst fast alle seine Gedanken dem Kontor und dem Abschluss immer größerer und lukrativerer Geschäfte, so schien es Luise nun, als wäre dies mit einem Mal zweitrangig für ihn. Ja, er hatte durch den Besuch Thereses und der Kinder entdeckt, dass es viel mehr als das Kontor in diesem Leben gab. Und dafür war Luise aufrichtig dankbar. Allerdings fragte sie sich, wie es wohl für ihn sein würde, wenn Therese irgendwann nach Hause zurückkehrte und wieder aus ihrer aller Leben verschwände. Würde es ihrem Vater den Ruck versetzen, den er brauchte, um sich endlich wieder ein eigenes Leben aufzubauen?
»Hättest du vielleicht Lust, mich heute zu Martha zu begleiten?«, fragte sie, an Therese gewandt. »Es geht ihr inzwischen viel besser, und ich bin sicher, sie wird sich sehr freuen, wenn du sie besuchst. Es wäre nur heute Vormittag. Wenn Vater wieder da ist und ihr etwas unternehmen wollt, wärst du zurück.«
»Von Herzen gern«, sagte Therese begeistert. »Ich gebe zu, ich habe mich nicht getraut, danach zu fragen.« Die Familie hatte Therese erzählt, in welchem Zustand Martha sich seit einiger Zeit befand und wie die Situation ausgerechnet kurz vor Thereses Eintreffen in Hamburg eskaliert war.
»Seit drei Tagen ist eine merkliche Besserung zu erkennen«, sagte nun auch Ludwig. »Ich habe vor, spätestens am Wochenende wieder mit Eduard nach Hause zurückzukehren.«
Luise legte fast bedauernd ihre Hand auf die Brust. »Ach nein, er wird mir schrecklich fehlen«, sagte sie. »Aber ich bin froh, dass dann alles wieder so ist, wie es sein soll.«
»Ich hoffe sehr, dass es auch so bleibt«, sagte Ludwig. »Ich werde wohl immer wachsam sein müssen, das ist mir klar. Doch ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihr zu helfen.«
»Eine solche Haltung würde nicht jeder an den Tag legen«, sagte Richard anerkennend. »Martha kann froh sein, dass sie dich hat.«
»Da gebe ich Richard völlig recht«, meinte Luise, die noch immer keine Aussprache mit Richard geführt hatte, aber versuchte, freundlich zu ihm zu sein, sodass sie sich wieder etwas annähern konnten. Andererseits fand sie, dass ihm diese deutliche Zurechtweisung neulich auch ganz gutgetan hatte, da sein Verhalten seitdem erheblich milder war. Aber es war selbstverständlich keine Art und Weise, miteinander umzugehen, und ihr Vater hatte schon recht gehabt: Wenn sie sich auf sein Niveau begab, war sie nicht besser als Richard.
»Robert, wenn du in den nächsten Tagen einmal Zeit hast, würde ich sehr gern etwas mit dir besprechen«, sagte Hans.
»Sicher, worum geht’s?«
»Geschäfte«, antwortete Hans ausweichend und warf Luise einen Blick zu.
Schon vor Viktorias Geburt hatten die beiden über eine verrückte Idee gesprochen, die besonders Luise nun immer häufiger durch den Kopf ging. Es war die Idee von einem Warenhaus, einem riesigen Kontor, das jedoch nicht auf eine Handvoll Artikel spezialisiert wäre, sondern Waren von überallher einkaufte und fast alles zu bieten hätte, was die Menschen sich wünschten. Es sollte ein Welthandelshaus sein, so hatten sie es genannt, das Einkäufer zu den entlegensten Orten entsandte, um die Spezialitäten des jeweiligen Landes direkt nach Hamburg zu bringen. Luise überlegte immer intensiver, ob nicht in diesem gemeinsam mit ihrem Ehemann zu gründenden Kontor ihre Zukunft lag und es womöglich doch eines Tages an
Richard sein könnte, die Firma Hansen zu übernehmen. Nach dem, was er in letzter Zeit vorzuweisen hatte, hätte er es fast verdient, und Luise hätte die Möglichkeit, noch einmal ganz von vorn anzufangen – und zwar gemeinsam mit ihrem Ehemann. Auch dies war ein Gedanke, den sie überaus reizvoll fand.
Es war schon eigenartig. Noch vor einigen Wochen, bevor Viktoria das Licht der Welt erblickt hatte, war Luise bereit gewesen, ihrer Familie und vor allem Hans den Rücken zu kehren und mit Hamza ein neues Leben zu beginnen. Das war für sie jetzt nicht mehr vorstellbar. Nein, vielmehr
wollte
sie die Gedanken an Hamza hinter sich lassen, wenngleich er für sie stets der Eine bleiben würde, den sie aufrichtig geliebt hatte. Sie liebte auch Hans, natürlich, doch es war anders. Vermutlich wäre es niemals gut gegangen, hätte sie ihre Welt gegen seine eingetauscht. Es war, als hätte eine höhere Macht ihr Schicksal gewendet und ihr gezeigt, wo entlang ihr Lebensweg lief. Luise war dafür aufrichtig dankbar.
»Nun gut, wir werden schon die Gelegenheit für ein Gespräch finden«, sagte Robert nun. »Ich muss los, damit ich heute Mittag nicht allzu spät aus dem Kontor komme.« Er wandte sich an Therese. »Und ich habe mir die Freiheit genommen, für Freitagabend erneut einen Tisch für uns zwei in dem Lokal zu reservieren, in dem wir letzte Woche waren. Ich hoffe sehr, das ist auch in deinem Sinn?«
Thereses Herz machte einen Sprung. Er wollte also doch Zeit mit ihr allein verbringen! »Von Herzen gern«, gab sie mit einem strahlenden Lächeln zurück.
»Gut«, meinte Robert und warf ihr einen langen Blick zu. »Ich freue mich sehr darauf.«
»Warte«, sagte Richard und stürzte seinen Kaffee hinunter. »Ich komme direkt mit ins Kontor.«
»Jetzt schon?«, fragte Robert.
»Ja, ich habe noch so viel auf dem Tisch.«
»Danke, dass du das alles für uns machst«, sagte Luise rasch zu Richard, was dieser aber nur mit einem Blick quittierte, den sie nicht deuten konnte.
Richard gab Elsa noch einen Kuss auf die Wange, seine Tochter Marie küsste er auf die Stirn, und dann verließ er das Esszimmer.
Robert erhob sich ebenfalls. »Dann wünsche ich allen einen angenehmen Vormittag, und grüßt bitte Martha sehr herzlich von mir.« Er ließ seinen Blick noch einmal auf Therese ruhen.
»Das machen wir«, sagte Therese, die Roberts vielsagenden Blick erwiderte. Zu gern hätte sie ihn in diesem Moment geküsst, einfach aus Vorfreude auf den kommenden Freitagabend.
»Also bis später«, sagte Robert rasch, als hätte er den gleichen Gedanken, den er zu vertreiben versuchte. Dann verließ auch er das Esszimmer.
»Bis später«, riefen ihm die Familienmitglieder noch nach. Kurz darauf hörte man Schritte und das Zuschlagen der Haustür. Richard und Robert hatten die Villa verlassen.
»Sollen wir Eduard nachher hierlassen oder ihn mit zu Martha nehmen?«, fragte Luise, an Ludwig gewandt. »Was wäre dir lieber?«
Er zögerte. »Du hast ja auch erlebt, wie sie sich gemacht hat. Wie schätzt du die Situation denn ein?«
»Vom Gefühl her würde ich sagen, wir nehmen ihn mit. Vielleicht gibt sein Anblick Martha ja zusätzlich Ansporn, sich wieder in den Griff zu bekommen«, überlegte Luise laut.
»Oder aber sie fühlt sich unter Druck gesetzt«, hielt Ludwig dagegen. »Offen gesagt, können wir es so oder so, richtig oder auch falsch machen. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wir nehmen ihn mit«, entschied Luise.
»Gut«, stimmte Ludwig zu. »Richte Martha aus, dass ich auf jeden Fall heute Abend nach der Arbeit wieder vorbeikomme.«
»Das werde ich.«
Viktoria, die im Stubenwagen lag, den Luise am Fenster abgestellt hatte, begann unruhig zu werden. »Da möchte jemand sein Frühstück haben«, sagte Luise und stand auf. Vorsichtig nahm sie Viktoria heraus und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie verabschiedete sich vom Rest der Familie und zog sich dann nach oben in ihr Schlafzimmer zurück, um Viktoria in aller Ruhe zu stillen. Immer wieder hörte sie jemanden über den Flur gehen. Offenbar hatte sich die Frühstücksrunde inzwischen aufgelöst, dabei war es gerade einmal acht Uhr durch.
Als Luise mit dem Stillen fast fertig war, betrat Hans das Schlafzimmer, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Die Kutsche war zurück, sodass sich Ludwig und Hans diese nun teilen und sich von Hugo zu ihren jeweiligen Firmen bringen lassen würden. Luise liebte es, wie die Familie stets morgens bei Tisch zusammensaß, um dann irgendwann aufzubrechen und in alle möglichen Richtungen fortzueilen, um am Abend wieder zusammenzukommen und einander von den Erlebnissen des Tages zu erzählen. Sie hatte bisher noch keinen Gedanken darauf verwendet, doch jetzt fragte sie sich, ob Viktoria ein Einzelkind bleiben sollte. Mit Hans konnte sie es sich gut vorstellen, noch weitere Kinder zu haben, ja, mit ihm konnte sie sich tatsächlich alles vorstellen, in beruflicher wie privater Hinsicht.
Es war gegen halb zehn, als Luise, Therese und Eduard in die Kutsche stiegen und sich auf den Weg zur Villa der Ahrendsens machten. Franz hatte protestiert, als seine Mutter ihm sagte, er könne nicht mitkommen und solle stattdessen bei Sophia, Helene und Elsa bleiben. Er fand es ungerecht, dass Eduard, obwohl er viel jünger war, mitfahren durfte und er nicht. Das Argument, dass Eduard immerhin Marthas Sohn sei und daher einen guten Grund habe, seine Mutter zu besuchen, zählte für Franz nicht. Er schmollte, verschränkte die Arme vor dem
Körper und weigerte sich, seiner Mutter einen Kuss zu geben, als die sich von ihm verabschiedete. Sophia wies ihn zurecht und sprach leise mit ihm.
Als Therese dann ging, rannte er ihr hinterher und umarmte sie eilig, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lief wieder zurück. Therese nahm sich vor, Sophia später unbedingt noch zu fragen, welche Zauberworte sie Franz da eingeflüstert hatte. Denn so rasch hatte es sogar Therese noch nie vermocht, den Dickkopf des kleinen Mannes zu knacken.
»Guten Tag, Hilde. Du kennst doch Therese Hansen, die Ehefrau von Onkel Karl?«
»Aber gewiss.« Die Haushälterin knickste. »Guten Tag, Frau Hansen. Ich hatte ja noch gar keine Gelegenheit … aber nun, da Sie hier stehen, möchte ich Ihnen sagen, wie leid mir das alles tut. Wirklich furchtbar leid.«
»Vielen Dank.« Therese nickte ihr zu.
»Da ist ja mein kleiner Eduard«, sagte die Haushälterin mit Begeisterung in der Stimme und beugte sich zu ihm herab, um ihn zu herzen, was Eduard vorbehaltlos geschehen ließ. Es war schon erstaunlich, wie die früher so griesgrämig dreinblickende Frau sich verändert hatte. Vermutlich lag es einfach an dem herzigen Wesen Eduards, das ihr Herz erreicht hatte und sie so liebevoll mit dem Jungen umgehen ließ.
»Könntest du ihn für eine kurze Weile nehmen, Hilde? Ich möchte gern, dass wir erst einmal allein mit meiner Schwester sprechen.«
»Aber gewiss doch, Frau Petersen.« Sie hob Eduard auf den Arm. »Nicht wahr, mein Schatz, wir beide freuen uns, endlich einmal wieder zusammen zu sein?«
»Ist meine Schwester oben?«, fragte Luise.
»Nein, sie ist im Garten.«
»Im Garten? Bei diesen Temperaturen?«
»Keine Sorge. Sie hat eine dicke Decke übergelegt, und wir haben eine Matratze auf der Liege, sodass es rundherum warm ist. Und solange die Dezembersonne noch etwas Wärme gibt, ist es tatsächlich sehr angenehm. Erst am Nachmittag wird es zu kühl, aber so lange wird sie gewiss nicht draußen bleiben.« Hilde trat etwas näher an die beiden heran. »Sie sieht wirklich viel, viel besser aus. Wir sind alle ganz glücklich.«
»Ach, das ist ja wunderbar«, freute sich Luise. »Bitte lass uns zwei Stühle bringen, damit wir uns eine Weile zu ihr setzen können.«
»Ich werde mich gleich darum kümmern«, erwiderte die Haushälterin und verschwand sogleich zu den Räumen der Angestellten.
Luise und Therese gingen durchs Wohnzimmer, wo eine der Doppeltüren zur Terrasse hinaus geöffnet war. Es war kühl im Raum. Bestimmt würde Hilde den Ofen später ordentlich anfeuern müssen, um es wieder wohlig warm zu bekommen.
Luise klopfte beim Hinaustreten zweimal gegen den Türrahmen und sagte: »Klopf, klopf.«
Martha drehte sich um. »Nein«, entfuhr es ihr überrascht. »Therese!«
»Allerdings.« Die Wienerin machte einige rasche Schritte und beugte sich zu der ruhenden Martha hinab. »Martha, wie schön es ist, dich zu sehen.« Therese betrachtete sie. »Du siehst gut aus.«
Martha senkte den Blick. »Vermutlich überrascht dich das.« Sie warf Luise einen Blick zu. »Ich nehme an, Therese weiß, was geschehen ist?«
»Du meinst, dass du Schwierigkeiten hattest und dich ihnen gestellt hast?«, sagte Therese an ihrer Stelle. »Ja, allerdings weiß ich davon. Und ich bin hier, um dir zu sagen, wie stolz du auf dich sein kannst, dafür, dass du bereit warst, dich zu ändern.«
Das Hausmädchen brachte zwei Stühle, die sie rechts und links von Marthas Liege aufstellte. Dann verschwand sie sofort wieder. Therese und Luise nahmen Platz.
»Es ist sehr nett von dir, dass du es so ausdrückst«, sagte Martha, an Therese gewandt. »Doch ich muss euch sagen, ich schäme mich in Grund und Boden. Ich glaube, ich werde nie mehr aufhören können, mich zu schämen.«
»Möchtest du mit uns darüber sprechen?«, fragte Therese.
Martha zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ich habe es lange gar nicht bemerkt. Am Anfang habe ich es genossen, mal ein Glas Wein mit Ludwig zu trinken.« Wieder senkte sie den Blick. »Ich kann doch ganz offen mit euch sein? Ihr werdet ihm doch nicht weitersagen, was ich euch anvertraue?«
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete Luise empört. »Du weißt, dass ich das nie tun würde.« Sie deutete auf Therese. »Keine von uns.«
»Ludwig und ich verstehen uns nicht besonders«, begann Martha zu erzählen. »Und wenn ich etwas getrunken hatte, dann wurde ich irgendwie besser damit fertig.«
»Wo liegen denn eure Schwierigkeiten miteinander?«
Martha presste die Lippen zusammen, Tränen traten in ihre Augen. »Nun, einfach gesagt ist es so, dass er mich nicht liebt.«
»So ein Unsinn!«, sagte Therese sofort, doch Luise enthielt sich eines Kommentars. Zwar hatte er es nicht so deutlich gesagt, doch auch Luise meinte herausgehört zu haben, dass Ludwig haderte, weil er seinerzeit die Beziehung zu Frederike auf Druck seines Vaters hatte beenden müssen.
»Er war schon einmal kurz davor, sich zu verloben«, sagte Martha tonlos zu Therese. »Luise weiß davon. Die Frau war nicht mehr standesgemäß, aber ich glaube, er trauert ihr immer noch nach.«
Luise schluckte schwer. Es war also genau das, was sie bereits vermutet hatte: Martha spürte, dass Ludwig mit dem Herzen noch immer bei Frederike war.
»Das ist Unsinn«, brachte Luise nun mit entschlossener Stimme hervor. »Ludwig liebt dich, und zwar von ganzem Herzen. Wir wissen beide, dass er dich hätte verlassen können, so wie du dich aufgeführt hast. Und auch dass du deine Pflichten gegenüber Eduard vernachlässigt hast, wäre Grund genug gewesen.« Sie hob den Kopf. »Ich glaube, ich an seiner Stelle hätte all das vor den Richter gebracht und die Scheidung gefordert.«
Martha traten Tränen in die Augen. »Wer weiß, ob er das nicht noch tut …«
»Er tut es nicht. Denn er liebt dich, das hat er mir selbst gesagt«, log Luise.
»Ist das wahr?« Martha war aufrichtig erstaunt.
»Die Frage ist wohl eher, liebst du Ludwig? Verzeih mir, aber ich hatte bisher nicht wirklich den Eindruck, dass du dich nach ihm verzehrst.«
»Ich weiß es nicht«, gestand Martha, und diese klare und ehrliche Antwort überraschte Luise ebenso wie Therese.
»Gibt es einen anderen?«, fragte Therese.
Martha schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. So etwas würde ich nie tun. Doch ich fürchte, ich habe Ludwig aus den völlig falschen Gründen geheiratet, und bekomme nun die Quittung dafür.«
»Aus welchen Gründen hast du ihn denn geheiratet?«, fragte Luise.
»Na, aus dem Grund, warum es auch alle anderen tun: Ich wollte versorgt sein und eine gute Partie machen.«
»Sprich nur für dich«, mahnte Therese. »Ich nämlich habe Karl nur aus einem einzigen Grund geheiratet: aus Liebe.« Sie sah Luise an. »Und du? Aus welchem Grund hast du Hans geheiratet?«
»Nicht aus Liebe. Bei mir war es wie bei Martha«, gab sie unumwunden zu. »Aber dann ist etwas Eigenartiges geschehen: Ich habe mich in meinen eigenen Mann verliebt.«
Therese lachte hell auf. »Wirklich?«
»Ja, es stimmt. Ich gebe Martha da schon recht. Es war bei uns wie bei den meisten anderen höhergestellten Familien auch: Die Heirat musste lohnend sein, im besten Fall für die eine wie für die andere Seite.«
»Hm«, machte Therese. »Zwar kann ich nicht für alle Frauen in Wien sprechen, doch tatsächlich gibt es ein solches Verhalten bei uns eher in den Königshäusern. Wir normalen Menschen dürfen uns die aussuchen, die uns gefallen.«
»Nun ja, niemand hat mich gezwungen, Hans zu heiraten«, räumte Luise ein. »Doch mein Vater hat deutlich gemacht, dass er die Verbindung begrüßen würde.«
»Siehst du? Wenn ich das wenigstens auch von mir behaupten könnte. Ich habe mir Ludwig selbst ausgesucht. Nicht, weil ich mir keinen Besseren hätte vorstellen können. Es war der Wunsch seines Vaters und, nun ja, ich war nicht abgeneigt. Doch aus Liebe habe ich ihn bestimmt nicht genommen. Ich habe mich an das erinnert, was unsere Mutter uns früh schon beigebracht hat: Ein Mann muss eine gute Partie und dazu bereit sein, alles für seine Frau zu tun und ihr alles zu schenken, was sie sich nur wünscht.« Martha hob den Finger. »Und natürlich sollte das gesellschaftliche Ansehen groß sein, und die anderen feinen Damen müssen neidisch sein auf den Fang, den man da gemacht hat.«
Therese verdrehte die Augen. »Herr im Himmel«, sie legte die Hände aneinander wie zum Gebet, »das ist ja fürchterlich!« Sie lachte herzlich. »Ich glaube, einen solchen Unsinn hätte sich nicht einmal meine Mutter einfallen lassen, und sie hatte wahrlich so manchen eigenartigen Gedanken.«
Eine kurze Pause entstand, dann lachten die drei Frauen gleichzeitig los, ohne genau zu wissen, weshalb. Irgendwie war
die Anspannung fort, nun da alle so unbekümmert miteinander über derart heikle Themen plaudern konnten.
»Doch zurück zum Problem«, sagte Luise schließlich, immer noch schmunzelnd. »Wie soll es nun weitergehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Martha. »Ich glaube, ich habe das erste Mal seit Jahren – vielleicht sogar überhaupt – ehrlich über mich nachgedacht. Und ich muss zugeben, dass mir das Bild, das sich mir bot, ganz und gar nicht gefiel.«
»Ich hätte nie gedacht, solche Worte einmal aus deinem Mund zu hören«, sagte Luise. »Und glaub mir, das ist jetzt wirklich nicht böse gemeint.«
»Das weiß ich«, sagte Martha. »Doch glaubt ihr denn, dass ich überhaupt noch eine Wahl habe? Ich meine, ich rechne fast täglich damit, dass Ludwig mir die Scheidungspapiere zustellen lässt.« Wieder sah sie von Therese zu Luise und wieder zurück. »So etwas wie das, was ich mir geleistet habe, lässt sich doch kein Ehemann bieten.«
»Offen gesagt, finde ich es gut, dass du endlich mal ein bisschen Demut zeigst«, fand Luise. »Doch du solltest dich nicht selbst zu schlecht machen. Ja, du hast einen Fehler gemacht, sogar einen großen. Aber Therese sagte es doch vorhin schon: Das Wichtigste ist, dass du deinen Fehler eingesehen und etwas unternommen hast. Du hast dem Alkohol abgeschworen. Das war der erste Schritt. Alles andere muss nach und nach kommen.«
Martha seufzte schwer. »Und was ist mit Eduard? Glaubt ihr, dass ich ihm noch eine gute Mutter sein kann?«
»Willst du es denn sein?«, fragte Therese. »Ich sage es dir ganz aufrichtig: Als ich hörte, dass du ihn in seinem Zimmer sich selbst überlassen hast, war ich fürchterlich wütend auf dich.«
»Ja«, sagte Martha, »dafür gibt es keine Entschuldigung.«
»Das stimmt«, bekräftigte Luise. »Doch es bleibt Thereses Frage: Möchtest du Eduard eine gute Mutter sein?«
»Ich würde alles dafür geben. Und ich würde alles besser machen, das schwöre ich.«
Therese und Luise tauschten einen Blick und lächelten sich zu. »Dann«, sagte Luise und stand auf, »habe ich eine Überraschung für dich.«
Sie ging durch die Terrassentür ins Haus und rief nach Hilde, die sogleich mit Eduard an der Hand aus der Küche kam. Luise beugte sich herunter und nahm Eduard auf den Arm. »Wir gehen jetzt zu deiner Mama.«
»Mama«, wiederholte Eduard.
»Ja, mein Schatz, zu deiner Mama.«
Martha drehte sich um, als Luise wieder auf die Terrasse trat und sie ihre Schritte hörte.
»Eduard!« Martha schlug mit Schwung die Decke beiseite und sprang auf. »Eduard, mein Gott, du bist es wirklich!«
»Mama«, sagte er, und Luise stellte ihn auf die Füße.
Martha eilte zu ihm, ließ sich auf die Knie fallen und umarmte ihren Sohn. »Eduard.« Sie küsste ihn auf die Wangen. »Mein kleiner Liebling. Es tut mir so leid. Es tut mir alles so furchtbar leid.«
Der Kleine sah etwas hilflos zu Luise.
»Du machst ihm Angst, Martha.«
Sofort ließ sie ihn los. »Das wollte ich nicht. Bitte verzeih.« Sie strich ihm über die Arme. »Es ist nur so schön, ihn zu sehen.«
»Komm«, sagte Luise, »leg dich wieder hin. Eduard können wir zu dir unter die Decke setzen.«
So blieben sie noch eine ganze Weile beisammen, bis es ihnen zu kühl wurde. Außerdem war es bereits fast halb zwölf und damit Zeit, Viktoria zu stillen.
»Wir müssen jetzt los, Martha. Aber ich soll dir von Ludwig ausrichten, dass er heute Abend wieder heimkommt, um nach dir zu sehen. Wie wäre es, wenn du dein schönstes Kleid
anziehst, dich für ihn etwas zurechtmachst und mit ihm offen sprichst?«, schlug Luise vor.
»Sei ehrlich zu ihm, aber nicht zu ehrlich«, riet Therese. »Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn du sagst, dass du nicht weißt, ob du ihn liebst. Besser wäre es, du prüfst nicht, ob du ihn liebst, sondern suchst Gründe, es zu tun. Nur du kannst entscheiden, wie du deinen Mann siehst und über ihn denkst. Du allein. Vergiss das nicht!«
»Es war schön, dass ihr hier wart«, sagte Martha. »Ich danke euch.« Sie drückte Eduard noch einmal an sich. »Vor allem, dass ihr mir meinen Schatz mitgebracht habt.«
»Sag: Auf Wiedersehen, Mama! Ich komme bald wieder.« Luise machte Eduard vor, wie er winken solle, als sie ihn auf den Arm nahm. »Auf Wiedersehen«, wiederholte Luise noch mal, und Eduard plapperte es nach und winkte.
Martha und Therese verabschiedeten sich ebenfalls, und Martha hatte Tränen in den Augen, als die drei gingen.
Luise fühlte sich wie befreit. Die Frau, mit der sie sich soeben unterhalten hatten, hatte nichts mehr von der egoistischen und selbstzerstörerischen Frau an sich, die Martha noch bis vor Kurzem gewesen war. Vor allem die Einsicht in ihre Fehler und die offensichtliche Liebe, die sie für Eduard empfand, überraschten Luise. Sie hoffte aufrichtig, dass dies die Wende bringen und es den Ahrendsens von nun an vergönnt sein würde, ein gutes Leben miteinander zu führen.
Als sie nach Hause kamen, waren sie bester Laune – was sich jedoch schlagartig änderte, als sie die Villa betraten und dort helle Aufregung herrschte. Aus dem Esszimmer war Roberts erregte Stimme zu hören, ebenso die von Hans und Richard.
»Wir sind wieder da«, rief Luise, als sie und Therese mit Eduard das Esszimmer betraten. »Ist etwas geschehen?«
Robert nickte und trat auf sie zu. »Ich habe Hans direkt
Bescheid gegeben und auch Richard gebeten, mit mir nach Hause zu kommen. Ein Telegramm hat das Kontor erreicht: Es hat einen Überfall auf die Plantage gegeben, und unsere gesamte Ernte wurde vernichtet.«
Luise riss die Augen auf und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Und«, Robert musste sich räuspern, »Heinrich Begemann ist tot. Er ist bei dem Überfall ums Leben gekommen.«