20. Kapitel
Kamerun, Freitag, 4. Januar 1895
Robert Hansen hatte sich das Jackett ausgezogen und reichte es zusammen mit seinem Koffer dem jungen Kameruner, der wie weitere Einheimische mit seinem Boot an das Schiff herangefahren war, um die Passagiere und die Ladung sicher an Land zu bringen, bevor er selbst einstieg und auf dem schmalen Sitzbrett Platz nahm. Es war lange her, seit er zuletzt hier gewesen war, doch alles war fast unverändert und noch so, wie er es in Erinnerung hatte. Einzig der Anleger, der gerade gebaut wurde, war neu.
An Land angekommen, ließ er sich ein Pferd geben, für das er bezahlte, obwohl ihm eine Trage angeboten wurde. Doch er wollte lieber so rasch wie möglich zur Plantage. Zwei Einheimische begleiteten ihn zu Fuß, von denen einer seinen Koffer trug. Mit einer erstaunlichen Gleichmäßigkeit liefen sie neben seinem Pferd her, ohne das Tempo verlangsamen zu müssen oder zwischendurch um eine kleine Verschnaufpause zu bitten. Es war, als machte ihnen das Laufen nicht das Geringste aus.
Nach einer knappen Stunde wurde der Pfad breiter, und Robert erblickte das weiße Steinhaus mit den roten Dachziegeln und den drei strohgedeckten Erkern, über dem die Hitze flirrte. Er zügelte das Pferd und näherte sich dann in langsamem Tempo dem Farmgebäude.
Er wusste nicht genau, womit er gerechnet hatte. Vielleicht dass es verfallen aussah, schlimmstenfalls geplündert oder gar niedergebrannt war. Doch es sah genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte, und fast erwartete er, jeden Moment Heinrich Begemann vor die Tür treten zu sehen, der ihn herzlich begrüßte. Er stieg vom Pferd und ließ sich seinen Koffer reichen. Dann drückte er jedem der beiden Männer, die ihn begleitet hatten, eine Münze in die Hand, übergab ihnen das Pferd und hob zum Abschied die Hand.
»Malambuku?«, rief er. »Hamza?«
Erst tat sich nichts, dann war im Haus Bewegung wahrzunehmen.
Malambuku hatte ein Trockentuch in der Hand und öffnete zögernd den Gitterschutz, als könne er nicht glauben, wen er da vor sich hatte. »Sango!«, entfuhr es ihm, und Robert stellte seinen Koffer ab und ging auf ihn zu. Kräftig schüttelte er Malambuku die Hand, dann zog er ihn an sich und umarmte ihn.
»Malambuku, dir ist nichts geschehen, dem Herrn sei Dank!«
»Malambuku so freuen, Sango hier.«
»Ja, ich bin auch froh. Wie geht es Hamza?« Robert versuchte im Blick seines Gegenübers zu lesen, welche Nachricht er wohl erhalten würde.
»Hamza gut. Er auf Plantage bei Pflanzen.«
Robert atmete erleichtert aus. Zwar tat es ihm auch um jede andere Seele leid, die der Herrgott zu sich rief. Doch Malambuku und Hamza waren so etwas wie seine Familie in
Kamerun geworden und hatten daher noch einen deutlich höheren Stellenwert für ihn.
»Sango sitzen. Malambuku holen Trinken.«
»Danke. Ja, etwas zu trinken wäre jetzt gut.« Robert ging zu den Rattanstühlen hinüber und setzte sich. Tief atmete er die afrikanische Luft ein. Die Reise hatte ihn nicht sonderlich angestrengt. Einzig die Sorge, was ihn hier erwarten mochte, hatte Robert die gesamte Fahrt über in Anspannung gehalten, die nun, da er zumindest wusste, dass Malambuku und Hamza außer Gefahr waren, von ihm abfiel.
Malambuku kam mit einem Tablett, einer Karaffe mit Limonade und drei Gläsern zurück. »Ich Duala geschickt, Hamza holen.« Malambuku schenkte die Limonade ein.
»Komm, setz dich und erzähle mir, was geschehen ist.«
»Sango Begemann tot«, sagte Malambuku. »Alle Duala traurig.«
»Ja, Malambuku, wir waren auch furchtbar schockiert, als wir davon erfahren haben.«
»Sango immer gut zu Duala. Nie geschlagen.«
»Ich weiß. Das hätte Heinrich nie getan.«
Schnelle Schritte waren zu hören, dann kam Hamza um die Hausecke. »Herr Hansen, Gott sei Dank sind Sie da!«
»Hamza!« Robert stand auf und schüttelte dem jungen Mann die Hand. »Ich bin so froh, dass wenigstens euch nichts geschehen ist. Komm, setz dich zu uns.«
Hamza zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz.
»Kannst du mir sagen, was geschehen ist?«
Hamza nickte. »Ich war dabei, als es geschah. Es waren ein halbes Dutzend Bakwiri.«
»Bakwiri? Weshalb haben sie das getan?«
Hamza berichtete Robert, was sich am Tag vor der Tat am Kamerunberg im Dorf der Bakwiri abgespielt hatte, und erzählte auch vom Tod Dschaggas, des Stammesführers.
»Herr Begemann hat es Ihnen auch geschrieben, doch der Brief sollte zusammen mit der letzten Ernte verschickt werden, die aber dann verbrannte.« Hamza erzählte genau, wie sich der Überfall zugetragen hatte, und endete mit den Worten: »Er hat versucht, die brennenden Säcke von den anderen herunterzuziehen, als die Fackel ihn traf und niederstreckte. Der Bakwiri war sofort über ihm und rammte ihm das Messer ins Herz. Wir konnten nichts mehr tun.« Tränen traten in Hamzas Augen. »Wir wollten ihn retten, doch es war zu spät«, wiederholte er.
Robert beugte sich vor und legte seine Hand auf Hamzas Arm. »Das weiß ich, Hamza.« Er setzte sich wieder aufrecht hin. »Und was ist seitdem hier auf der Farm und der Plantage geschehen?«
»Wir wussten nicht recht, was wir tun sollten«, antwortete Hamza und sah seinen Vater an. »Also haben wir einfach so weitergemacht wie vorher.« Er zuckte die Achseln.
»Ja, natürlich, sehr pflichtbewusst seid ihr. Ich bin euch zu tiefem Dank verpflichtet.«
»Nur getan, was richtig«, erklärte Malambuku.
»Darf ich Sie fragen, wie es jetzt weitergehen soll, Herr Hansen?« Hamza trank nun erstmals einen Schluck von der Limonade, die sein Vater eingeschenkt hatte. So oft hatte er hier mit Heinrich Begemann gesessen und mit ihm gesprochen. Meistens war es dabei um irgendwelche Arbeiten gegangen oder welcher Teil der Plantage ausgedünnt werden musste, damit die anderen Pflanzen kräftiger wachsen konnten. Und nun saß er hier mit Robert Hansen und musste klären, wie es nach dem Tod Begemanns weitergehen sollte. Für Hamza fühlte es sich rundum falsch an.
»Wie viel ist von der Ernte noch übrig?«
»Nicht mehr als drei Säcke. Alles andere ist verbrannt und unbrauchbar.«
»Drei Säcke«, wiederholte Robert und überlegte. »Ich muss mit Leffers sprechen. Vielleicht kann er mir helfen, von den anderen Plantagen so viele Bohnen wie möglich einzukaufen, um meinen Lieferverpflichtungen nachkommen zu können.«
»Ich kann Boten aussenden, die auf den Plantagen nachfragen«, bot Hamza an. »Wenn wir von jeder Plantage, die nicht mehr als drei Tagesritte entfernt liegt, auch nur zehn Säcke kaufen, könnten wir den Verlust auffangen.«
»Würdest du das tun?« Robert gefiel es, wie praktisch Hamza die Dinge anging. Vor allem aber hatte er immer eine Idee. Ausweglose Situationen schien es für ihn überhaupt nicht zu geben.
»Ja, Herr Hansen. Ich kümmere mich gleich darum.«
»Danke.«
»Doch wie soll es dann weitergehen?«, fragte Hamza nochmals nach.
»Offen gesagt, kann ich das zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Ich muss einen Verwalter finden, der sich hier um alles kümmert.«
»Wissen Sie schon, wen Sie fragen wollen?«
»Nein. Ich wüsste nicht einmal jemanden, der auch nur geeignet wäre. Fällt euch jemand ein?«
Sowohl Malambuku als auch Hamza schüttelte den Kopf.
»Sango Begemann nur manchmal hatte Besuch von Sigmund Leffers. Sonst keine Deutschen auf Farm«, sagte Malambuku.
Robert winkte ab. »Leffers hat mit seinem eigenen Anwesen genug zu tun. Außerdem teile ich die meisten seiner Ansichten nicht. Er würde die Plantage nicht in meinem Sinn führen, und das will ich nicht.«
Hamza wollte sich die Erleichterung darüber, dass Robert Sigmund Leffers nicht einmal in Erwägung zog, nicht allzu deutlich anmerken lassen.
»Sein Sohn Raimund wäre eher passend«, überlegte Robert weiter. »Aber von ihm habe ich schon sehr lange nichts mehr gehört. Es ist sogar möglich, dass er zwischenzeitlich ins Deutsche Reich zurückgekehrt ist.«
»Nein, das ist er nicht«, stellte Hamza richtig. »Er hat sich in eine Duala verliebt und ist zusammen mit ihr weggelaufen.«
»Eine Duala? Na, dann hatte er bei einem Vater wie Sigmund wahrlich allen Grund, sich davonzumachen!« Robert konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Woher weißt du davon?«
»Ich kannte sie«, gab Hamza knapp Auskunft. Dass Luise und er das Gleiche vorgehabt hatten und der Plan gewesen war, gemeinsam mit Raimund und Suna zu fliehen, behielt er freilich für sich.
Sie redeten noch eine Weile, doch ein geeigneter Kandidat für den Verwalterposten fiel ihnen beim besten Willen nicht ein. Abschließend kündigte Robert an, dass er am Sonntag den Gottesdienst besuchen werde, um danach mit den Deutschen zu sprechen und so womöglich auf jemanden zu stoßen, der bereit und fähig wäre, die Anstellung zu übernehmen. Bis dahin wolle er sich einen Überblick verschaffen und die Dinge, die nach Begemanns Tod liegen geblieben waren, aufarbeiten.
»Ich habe noch etwas für Sie«, sagte Hamza zu Robert, bevor sich die Runde endgültig auflöste. Er stand auf und ging ins Haus. Als er wiederkam, hielt er Begemanns letzten Brief in den Händen. »Den wollte er Ihnen zusammen mit den Kakaobohnen schicken.«
»Danke.« Robert nahm das Schriftstück entgegen und blieb auf der Veranda sitzen, während Malambuku und Hamza wieder an die Arbeit gingen. Als er den Brief gelesen hatte, ließ er ihn sinken und rieb sich die Augen. Die Tränen zurückzuhalten, fiel ihm unendlich schwer.