Kapitel 1
Kopenhagen, 2014
DU BIST NUN EIN ENGEL. Die Inschrift auf der schwarzen Marmorsäule des Kindergrabes auf dem Assistens Kirkegård ließ die Rechtsanthropologin Josefine Jespersen einen Augenblick innehalten. Sie spürte einen kurzen Stich in der Bauchgegend, als sie die Jahreszahl las. 1986. Der Junge war im gleichen Jahr gestorben wie ihr Bruder. Und sie waren im gleichen Jahr geboren. Sie räusperte sich, während ihre Gedanken eine kurze Reise in die Vergangenheit unternahmen. Dann drehte sie sich um und ging auf die in einem Halbkreis stehenden, neongrün gekleideten Angestellten der Baugesellschaft Metro Service AG zu und signalisierte ihnen mit einem kurzen Nicken, dass sie mit der Arbeit beginnen konnten.
Der zeitige Wintereinbruch kam ihr wie ein böses Omen vor. Die Tage flossen unbemerkt ineinander, morgens wurde es immer später hell, und viel zu früh am Nachmittag schlich sich bereits die Dämmerung heran. Die Sonne hatte den Kampf gegen die Dunkelheit verloren, und Josefine fühlte sich wie in einer Art Winterruhe. Dichter Nebel lag über allem, und der Assistens Kirkegård hatte sich in eine schlammig aufgewühlte Baustelle verwandelt. Es regnete seit mehreren Tagen ununterbrochen, das Wasser strömte aus allen Poren der Erde.
Ein greller Scheinwerfer beleuchtete den Flecken, von dem zuerst die hohe, schlanke Marmorsäule entfernt und aus dessen Erde danach die sterblichen Überreste ausgegraben werden sollten, die dort einmal ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Ein Schrank von Mann bediente das Bobcat, das aussah wie ein Spielzeugbagger.
Josefine und die Archäologin Rita Magnussen verfolgten die Arbeiten von der Seitenlinie. Sie waren Teil eines Teams, das im Zusammenhang mit dem bevorstehenden U-Bahn-Bau am Nørrebro-Rondell für eine ethisch korrekt verlaufende Räumung des nördlichen Friedhofsbereiches sorgen sollte. Die sterblichen Überreste der betroffenen Gräber mussten ausgehoben und auf einen anderen Teil des Friedhofs verlegt werden. Das Projekt war, wie zu erwarten, auf massiven Widerstand gestoßen. Wegen Störung des Grabfriedens, wie viele meinten, was aber nicht ausgereicht hatte, um die Bauarbeiten zu stoppen.
Für Josefine war dies eine einzigartige Gelegenheit, an große Mengen Knochenmaterial zu gelangen, die Aufschluss über den allgemeinen Gesundheitszustand der Kopenhagener aus anthropologischer Sicht geben konnten. Die unzähligen Skelette waren das reinste Eldorado und ein sicheres Fundament für ihr aktuelles Forschungsprojekt. Parallel musste sie ihre tägliche Arbeit im Anthropologischen Labor erledigen. Als Expertin für Knochen half sie zwischendurch in der Rechtsmedizin aus, vorrangig bei Obduktionen nach schweren Verkehrsunfällen oder stark fortgeschrittener Verwesung, wenn die Leichen äußerlich nicht mehr zu identifizieren waren.
Rita Magnussen war vom Städtischen Museum ausgeliehen worden und für die Katalogisierung der Gräber zuständig. Sie lenkte die Ausgrabungsarbeiten mit eiserner Hand. Selbst gestandene Kerle wurden ganz zahm, wenn Rita sie mit Argusaugen bei der Bedienung der Minibagger beobachtete, mit denen sie die Erde in hauchdünnen Schichten abtrugen, damit sie ja nicht zu tief gruben und womöglich empfindliches Knochenmaterial beschädigten.
Es erwies sich als echtes Unterfangen, die schwarze Marmorsäule aus dem Wurzelgewirr des Baumes zu befreien, das sich entschlossen um den Sockel geschlungen zu haben schien, um ihr Vorhaben zu vereiteln. Efeuranken wanden sich mit schimmernden Schuppenblättern um den Baumstamm. Unter Einsatz einiger Spanngurte versuchten die Männer, die Säule aus der Umklammerung zu befreien. Mehrere Mitarbeiter der Baugesellschaft waren dazugestoßen, und Josefine lauschte dem südländischen Kauderwelsch, in dem sie sich verständigten. Die Metro-AG hatte einen italienischen Subunternehmer für die Betongussarbeiten angeheuert. Die Bauarbeiter befanden sich inzwischen seit über einem Jahr auf dänischem Boden, und ihrer Blässe nach zu urteilen schien ihnen das raue Klima im Norden nicht zu bekommen.
Diese besondere Grabstelle war Die letzte Bastion getauft worden, weil die Angehörigen sich hartnäckig der Grabräumung widersetzt und sogar den Bischof aufgefordert hatten, in der Sache einzuschreiten. Das hatte dazu geführt, dass die Metro-AG buchstäblich um die Grabstelle herum hatte arbeiten müssen, bis in der Angelegenheit entschieden worden war. Der Bischof hatte am Ende nichts ausrichten können, da die ethischen Regeln der Räumung bis aufs letzte Komma eingehalten worden waren. Die Ruhezeiten für Gräber liefen auf dem Assistens Kirkegård nach zwanzig Jahren aus. Unmittelbar nach der Antwort des Bischofs hatte die Metro-AG sich unter Aufsicht der Archäologen des Städtischen Museums an die Räumung des Grabes gemacht.
Josefine betrachtete die widerspenstige Säule, auf der kleine weiße Marmorflügel die Lichter der ersten Laternen reflektierten. Das Monument war ausgesprochen prachtvoll und hatte vermutlich ein Vermögen gekostet. Noch mehrere Meter entfernt spürte sie das Nachbeben des harten Aufschlags der Säule, die wie ein gefällter Baum zur Seite kippte und ziemlich exakt in der Mitte zerbrach, wie sie verärgert feststellte.
»Meine Güte, was für Idioten«, flüsterte sie Rita zu, die mit geballten Händen und angespannter Miene dastand, ehe sie auf den Bobcatfahrer zusteuerte und ihn mit ein paar Kraftausdrücken überschüttete, die keiner Übersetzung bedurften, während sie energisch mit den Händen gestikulierte. Ihre Locken strahlten fast weiß im Licht der Scheinwerfer.
Die Grabungsarbeiter banden umständlich ein paar Stricke um die Säulenstücke, um sie anschließend mit dem Bobcat abzutransportieren. Danach ging es in die nächste Arbeitsphase, in der mit dem Bagger behutsam eine Erdschicht nach der anderen abgetragen wurde, bis die Schaufel mit einem hohlen Kratzen über eine harte Oberfläche schabte und Rita das Zeichen gab, ab jetzt ohne Maschinen weiterzuarbeiten. Der Bobcat wurde abgestellt.
Sie traten an den Rand des Grabes und blickten in den dunklen rechteckigen Aushub.
»Scheint Eiche zu sein«, bemerkte Rita. »Auch wenn es eins der neueren Gräber ist, wären andere Holzsorten längst verrottet.«
Josefine nickte stumm.
Der Sargdeckel schien intakt, an einigen Stellen schimmerte durch den Matsch die dunkel lackierte Oberfläche durch.
*
Die Regentropfen trommelten hart und rhythmisch auf die Erde. Hinter einer Buchsbaumgruppe, die irgendwann sicher einmal ordentlich getrimmt gewesen war, jetzt aber wie in stillem Protest wild in alle Richtungen wucherte, stand eine Gestalt. Trotz der Kälte lief der Person salzig schmeckender Schweiß über die Wangen und weiter auf den Kragen der nach Imprägniermittel riechenden Regenjacke. Wie in unbeschreiblichem Schmerz gaben die zurückgezogenen Lippen die Zähne frei. Ein unbändiger Zorn sprühte aus der Tiefe des Körpers nach oben wie glühende Lava.
Aus ihrem Versteck beobachtete die Gestalt das makabre Schauspiel in dem künstlich aufgestellten Lichterhain. Die Säule war herausgerissen und zerbrochen. Der dumpfe Knall beim Aufschlag auf die Erde hatte als physischer Schmerz in den ganzen Körper ausgestrahlt.
Die Person beobachtete die Gruppe Menschen in den neongrünen Warnwesten mit Reflexstreifen, die wie Fahrbahnmarkierungen im Dunkeln strahlten. Man konnte ihre Gesichter nur erahnen. Besonders eins wirkte bekannt.
Ein Zweig knackte, als die Gestalt ihr Versteck verließ und die schwarze Silhouette von der Dunkelheit verschluckt wurde.
*
Josefine sah sich im hellen Licht eines Scheinwerfers den Oberschenkelknochen aus dem Kindersarg genauer an. Über ihrem Kopf klatschte der Regen schwer auf die weiße Zeltplane. Im Hintergrund war das dumpfe, niederfrequente Brummen eines Generators zu hören, der die zwei kräftigen Scheinwerfer mit Strom versorgte.
Sie nahm den Knochen mit in den knallblauen Arbeitscontainer, der wie ein überdimensionierter Legostein aussah und als behelfsmäßiges Labor diente. Sie drehte das Wasser auf und säuberte den Knochen gründlich in dem tiefen Stahlbecken. In südlichen Gefilden reichte es, Knochen mit einem weichen Pinsel zu säubern, aber die lehmige Erde in Dänemark erforderte krassere Methoden. Durch eine vermoderte Seite war Erde ins Innere des Sarges gelangt, doch der Rest der Wände war gut erhalten. Josefine legte den Oberschenkelknochen auf einen Stahltisch. Sie ignorierte das insistente Knurren ihres Magens, während sie den mobilen Röntgenapparat über den Knochen zog und konzentriert auf einen kleinen Monitor starrte, auf dem schwarzweiße Schatten wie in einer zernarbten Mondlandschaft zu sehen waren. Der völlig geruchsneutrale, vom Zahn der Zeit gründlich gereinigte Knochen hatte die Farbe der braunen Erde angenommen, deren penetrante Kompostnote sich auf die Schleimhäute legte.
Josefine platzierte den Knochen zum Trocknen auf ein feinmaschiges, in einen Holzrahmen gespanntes Drahtnetz.
Draußen frischte es auf. Der Wind rüttelte an dem Container und trug die Stimmen und Rufe einer Gruppe Kinder herüber, und es klang, als hätten sie in dem Augenblick den Friedhof betreten.
Sie unterbrach die Arbeit und sah auf ihre Armbanduhr. Halb acht schon.
Mit einem Seufzer zog sie die Latexhandschuhe aus und rieb sich müde das Gesicht. Sie beschloss, Feierabend zu machen, und schrieb mit einem feinen Edding die Referenznummer auf ein Schildchen und klebte es an das Trockenregal, in dem auch die übrigen Kinderknochen aufbewahrt wurden. Josefine wusch sich die Hände in einem Mini-Waschbecken und sah in den gesprungenen Spiegel. Sie hatte ein eher schmales Gesicht, hohe Wangenknochen und ein energisch vorgeschobenes Kinn. Sie strich eine sich kringelnde Haarsträhne, die sich aus dem französischen Zopf gelöst hatte, hinters Ohr und schaltete die Apparate und Scheinwerfer aus.
Im gleichen Augenblick hörte sie Svends charakteristische schlurfende Schritte vor dem Container, und eine Sekunde später tauchte das kantige Profil des Totengräbers im Türrahmen auf. Josefine hatte ihn aus Dragør rekrutieren müssen, weil etliche der fest angestellten Kollegen des Assistens Kirkegård sich geweigert hatten, die mehr als tausend Skelette zu verlegen.
Svend schob seine jagdgrüne Mütze so weit aus der Stirn, dass seine markanten Augenbrauen sichtbar wurden. Die Hände wirkten seltsam groß im Verhältnis zu dem langen, schlaksigen Körper.
»Sie können ruhig gehen«, sagte Josefine. »Ist ja schon spät. Ich pack’s auch bald.«
Svend machte Anstalten, ihrer Aufforderung zu folgen, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
»Sind Sie … Sind Sie sicher, dass wir weitermachen sollten?«, fragte er langsam und leicht stammelnd.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich weiß nicht … das ist irgendwie so … verkehrt«, sagte er leise und starrte auf den Boden. Seine schwarzen Gummistiefel waren schlammverschmiert. »Wir stören die Grabruhe der Toten …«
Josefine runzelte die Stirn, musterte das zerfurchte Gesicht des Mannes und atmete tief ein.
»Svend, ich verstehe Sie gut. Aber egal was passiert, die U-Bahn wird in jedem Fall gebaut. Und dazu müssen die sterblichen Überreste verlegt werden. Wir sollten zusehen, das Beste daraus zu machen.«
Er schüttelte skeptisch den Kopf. Auf der Mütze glitzerten ein paar Regentropfen.
Dann hob er den Blick und sah Josefine an.
»Wenn wenigstens ein Pastor dabei wäre«, wandte er ein. »Um die Toten zu segnen. Ich bete für jeden Einzelnen das Vaterunser …« Er zögerte einen kurzen Moment. »Da kommt am Ende nichts Gutes bei raus«, sagte er mit ungewohnter Schärfe in der Stimme. »All die Seelen … die jetzt keine Heimat mehr haben … Ich spüre sie, wenn ich draußen im Dunkeln herumlaufe.«
»Mal ganz ehrlich, Svend.« Josefine lächelte. Sie hatte sich inzwischen an seine sehr eigene Art gewöhnt. »Wollen Sie damit sagen, dass es auf dem Friedhof spukt?«
Zu ihrem eigenen Erstaunen lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Svend begnügte sich damit, ihr stumm in die Augen zu sehen.
»Wir machen jetzt erst mal Feierabend«, bestimmte Josefine, zog den Reißverschluss ihrer Schutzweste herunter und streifte sie ab. Die giftgrünen Westen der Metro-AG mit den Reflexstreifen waren ein Ausbund an Hässlichkeit, aber die Betriebsratsrepräsentanten waren geradezu fanatisch, was die Benutzung betraf.
»Soll ich Sie zum Jagtvej begleiten?«, bot Svend sich an.
»Danke, Svend, aber ich schaff es auch allein über den Friedhof.«
»Okay … dann geh ich mal«, murmelte er und verschwand.
Josefine packte ihren Laptop in den Rucksack, löschte die letzten Lichter und schaltete den Generator aus. Als sie nach der Türklinke tastete, wäre sie um ein Haar über eins der kräftigen Kabel gestolpert, die mit Klebeband am Boden befestigt waren.
Die Dunkelheit legte sich wie ein schwerer Umhang um sie, als sie aus dem Teamcontainer ins Freie trat. Die Straßenbeleuchtung auf dem Jagtvej warf ein schwaches gelbliches Licht auf den verlassenen Friedhof. Ein harter Windstoß fegte ihr kalte Regentropfen ins Gesicht.
Sie zuckte zusammen, als sich vor ihr eine Gestalt in der Dunkelheit materialisierte.
»Scheiße, ist mir kalt«, sagte eine nasale Stimme. »Wieso hast du die Scheinwerfer ausgeschaltet? Ich hätte mich fast auf den Hintern gesetzt.«
»Rita? Ich dachte, du wärst längst gegangen …«
»Wollte ich auch, aber dann ist was dazwischengekommen, das ich noch erledigen muss. Für heute Nacht ist Frost vorhergesagt …«
»Verdammt.« Josefine stöhnte, weil sie ahnte, dass das zu weiteren Verzögerungen im Arbeitsablauf führen könnte.
Rita gähnte herzhaft, der Atem stand in einer weißen Wolke vor ihrem Mund.
»Dieser Svend wird auch immer merkwürdiger«, sagte Josefine.
»Was hat er sich jetzt wieder ausgedacht? Dass er mit Kierkegaard gesprochen hat?«
»So ungefähr. Er meint, dass wenigstens ein Pastor bei der Räumung der Gräber anwesend sein sollte, weil die Seelen sonst heimatlos durch die Gegend irren … und der Grabfrieden gestört wird …«
Rita stieß ein heiseres Lachen aus und schaffte es, sich eine Zigarette anzuzünden.
»Der ist ernsthaft gaga! Wenn er den Job hier nicht hätte, würde er wahrscheinlich den lieben langen Tag auf einer Parkbank hocken und Bier trinken …«
Josefine nickte. Die Beschreibung war treffend. Svend hatte die verlotterte Ausstrahlung und die scharfen Gesichtszüge eines obdachlosen Schluckspechtes.
»Apropos Bier … Ich habe mich mit ein paar Jungs aus der Nationalhistorischen Sammlung verabredet … Magst du mitkommen?«
»Nein, danke.«
Die Jungs waren eine Gruppe junger vollbärtiger Typen – süß, aber unglaubliche Nerds.
»Du wirst es bereuen …«
»Ich dachte, du hättest ein Date?«, fragte Josefine neugierig.
»Das ist erst morgen.«
»Wer ist denn der Glückliche?«
»Sag ich nicht …«
»Komm schon!«
»Ich versprech dir, dass du die Erste bist, die es erfährt … Aber es ist noch so frisch …«
Josefine biss sich auf die Lippe und überlegte, ob sie noch einen letzten Versuch machen sollte, den Namen aus der Freundin herauszukitzeln.
»Okay, dann sehen wir uns morgen«, sagte Rita und trat die Kippe unter der Stiefelsohle aus.
Josefine nickte. Sie registrierte das leise Klicken, als Rita die Tür des Mannschaftscontainers aufschloss, und das Dröhnen des Generators, der hustend wieder ansprang. Gleich darauf fiel blasses Licht durch das einzige Fenster des Bauwagens, fein gewürfelt durch das Gitter davor.
*
Nicht viel später schloss Rita den Mannschaftscontainer wieder ab. Sie steckte sich die Ohrstöpsel in die Gehörgänge, wischte sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang und schaltete die Musik ein, die sie in einen weichen Kokon hüllte, als sie über den dunklen Friedhof lief.
Rita spürte die Kälte unter ihre Jacke kriechen und ein leises Vibrieren im Körper. Sie freute sich auf das Treffen mit den Archäologenkollegen und konnte nicht verstehen, wieso Josefine nicht hatte mitkommen wollen. Sie ließ sich von der Musik mitziehen und fiel in ihren Rhythmus ein. Sie peilte den Nordausgang auf das Nørrebro-Rondell an und nahm eine Abkürzung dicht am Ausgrabungsgelände vorbei, wo sie behände den gespannten Schnüren und Pflöcken auswich, deren Verteilung sie in- und auswendig kannte.
Ihre Gedanken kreisten um die Toten, die in ihren Särgen in der Friedhofserde begraben lagen. Alle Leichname hatten einen mehr oder weniger ausgeprägten Verwesungsgrad erreicht, deren Verlauf immer der gleiche war. Der Tod hatte seine eigene, unfehlbare innere Uhr. Der Satz Denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück kam nicht von irgendwoher. Die Erde war der Beginn und das Ende von allem, eine ewige Transformation, die Zersetzung vergänglicher Materie. An dem, was Svend sagte, war etwas Wahres dran. Sie störten die Toten in ihrer Ruhe. Sie hatte höhnisch über seine Bemerkung in Bezug auf die heimatlosen Seelen gelacht, aber jetzt …
Rita blieb stehen. In der Pause zwischen zwei Musikstücken glaubte sie, hinter sich ein Geräusch zu hören. Sie drehte sich um und starrte in die Dunkelheit, zog die Ohrstöpsel heraus und lauschte konzentriert, aber abgesehen von dem rauschenden Wind in den blattlosen Baumkronen und dem konstanten Verkehrslärm vom Jagtvej war alles still.
Das Gefühl, nicht allein zu sein, wuchs ihr aus der Dunkelheit entgegen. Sie fühlte sich auf unangenehme, fast handgreifliche Weise beobachtet. Rita ließ ihren Blick in die Runde schweifen und atmete tief ein. Regen und Wind hatten weiter zugenommen, und es war beißend kalt. Die Regentropfen prasselten ihr hart ins Gesicht. Sie ging schneller, den Blick auf die Straßenbeleuchtung um das Nørrebro-Rondell gerichtet, die etwas von einem mystischen Sonnenaufgang hatte.
Im nächsten Augenblick nahm sie aus den Augenwinkeln ein Flackern wahr. Sie blieb stehen und schaute mit zusammengekniffenen Augen in Richtung einer Tanne, wo sie die Bewegung gesehen hatte. War das neben dem Baum die Silhouette eines Menschen, oder bildete sie sich das nur ein? Die Konturen zerflossen wie feuchte Tinte. Sie konnte nicht nachvollziehen, was einige Leute nach Anbruch der Dunkelheit auf dem Friedhof suchten, der auf gewisse schräge Existenzen eine geradezu magnetische Anziehungskraft zu haben schien.
Sie überlegte, ob das womöglich Svend war, der sich auf eine okkulte Mitternachtsséance vorbereitete, und lächelte. Wirklich wundern würde es sie nicht!
Rita blinzelte ein paar Regentropfen aus den Augenwinkeln und sah wieder zu dem Baum hinüber. Nichts.
Erschöpft und gestresst, wie sie momentan war, beschloss sie, dass es sich bei der Gestalt neben der Tanne um ein Trugbild handeln musste, und nahm sich vor, ein bisschen mehr auf sich achtzugeben.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, konnte die innere Unruhe, die sich in ihrem Körper breitmachte, aber nicht abschütteln.
Plötzlich waren hinter ihr ganz deutlich Schritte zu hören wie ein verzögertes Echo ihrer eigenen Schritte. Sie drehte sich um und fragte sich, was das für ein leises Pfeifen war, als sie eine Bewegung in der Luft wahrnahm.
Abrupt verstummten alle Geräusche, und sie registrierte, dass sie auf der Erde lag und in einen dunklen Himmel mit mondhellen Rissen starrte. Adrenalingesättigte Schmerzpfeile bohrten sich in ihre Brust, und die Regentropfen schmeckten nach Eisen. Sie schrie aus vollem Hals, während kochende Lava sich über ihre Stirn ergoss und der Mond sich verdunkelte. Sie erkannte den Umriss einer großen Gestalt mit erhobenen Händen und wollte sich schützen, aber ihre Arme waren völlig kraftlos. Ebenso ihre Beine. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren Körper. Mit zerschmetternder Wucht wurde sie erneut von etwas Schwerem, Hartem getroffen. Der krachende Laut von splitternden Knochen explodierte in ihrem Innern, danach verabschiedete sich das Gehör. Blut pulsierte heiß in ihrer Mundhöhle, von dem metallischen Geschmack wurde ihr übel. Obwohl ihre Augen offen standen, konnte sie nichts sehen. Der Schmerz war so unbeschreiblich und übertraf alles bisher Erlebte. Ihre Schreie waren albtraumstumm, und das Bewusstsein verabschiedete sich erst nach ein paar grauenvollen Augenblicken, in denen ihr aufging, dass sie sterben würde.
*
Josefine stapfte über den finsteren Friedhof. Sie hatte die Mütze über die Ohren gezogen und die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, um die Wärme zu halten. Vor der Friedhofsmauer bog sie auf einen schmalen, parallel zum Jagtvej verlaufenden Pfad ab. Hohe Eiben und wild wuchernde Buchsbaumsträucher wuchsen über ihrem Kopf zusammen und bildeten einen dunklen immergrünen Tunnel. Die in der Friedhofsmauer eingelassenen Bogen beherbergten moderne Grabstätten neben alten, verwitterten Grabmälern. Dieser Pfad war auch tagsüber eher schummrig, und nach Einbruch der Dunkelheit drang die Straßenbeleuchtung nur noch punktuell durch das dichte Grün. Darum trug Josefine immer eine kleine Taschenlampe bei sich, mit der sie jetzt die Blätter anstrahlte.
Sie hatte ihr Auto nicht ganz vorschriftsmäßig in der Jægersborggade geparkt und hoffte, dass alles in Ordnung war. Erst vor Kurzem hatte ihr jemand einen Seitenspiegel zerdeppert. Sie seufzte. Der alte, elend lange Volvo war in Kopenhagen der absolute Parkalbtraum. Ihre Kollegen in der Rechtsmedizin nannten ihn nicht ganz abwegig »Leichenwagen«.
Josefine erstarrte, als ein langgezogener Schrei sie in dem regenfeuchten Blättertunnel erreichte.
Sie riss die Mütze vom Kopf und drehte sich in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.
»Rita!«, rief sie in die Dunkelheit. »Alles okay bei dir?«
Josefine strengte ihre Augen an, um etwas zu erkennen, aber der Regen war zu dicht. Es kam keine Antwort. Sie versuchte zu ermitteln, woher das Geräusch gekommen war.
»Rita, verdammt!«, rief sie und lief über eine Abkürzung zurück zum Ausgrabungsfeld. Im kalten Licht einer einsamen Straßenlaterne schimmerten die Regentropfen an den Buchsbäumen wie weiße Eiskristalle. Die Erdhaufen und ausgehobenen tiefen Gruben warfen verwirrende Schatten, und sie befürchtete, über die gespannten Schnüre und Pflöcke zu stolpern, die Rita und ihre Kollegen aus dem Stadtmuseum nach einem für andere undurchschaubaren System angebracht hatten. Bis auf den Regen und den leisen Verkehr im Hintergrund war es jetzt ganz still auf dem Friedhof.
Sie leuchtete mit der Taschenlampe überallhin, konnte Rita aber nirgendwo entdecken. Dann ging sie in die Hocke und fuhr mit dem Lichtkegel über die messerscharfen Kanten eines frischen Grabes, das wie zu erwarten leer war.
»Rita?«, rief sie noch einmal.
Von einer Vorahnung getrieben näherte Josefine sich dem Doppelgrab, an dem sie Anfang der Woche gearbeitet hatte. Der schwarze Erdhaufen daneben war durch den kräftigen Regen abgeflacht.
Der zitternde Lichtkegel der Taschenlampe beleuchtete einen schwarzen Umriss auf dem Grund des Grabes, und als sie sich vorbeugte, erkannte sie, dass da ein Mensch lag. Und noch ein wenig später wusste sie, dass es Rita war. Sie starrte in ein Paar Augen, die nichts mehr sahen. Die Lippen waren geöffnet und das Gesicht zu einem Ausdruck tiefsten Schmerzes verzerrt. Die Zähne, die nicht ausgeschlagen waren, sahen aus wie von einer roten Haut überzogen. Ein kalter Schauer überlief Josefine. Es war unglaublich viel Blut, das über Ritas Gesicht lief.
Josefine steckte die Taschenlampe in die Bauchtasche ihres Anoraks, nahm den Rucksack ab und ließ sich in das Grab hinabgleiten, das deutlich tiefer war als von oben angenommen. Der Regen hatte die Erde in eine glatte Schlammfläche verwandelt, so dass sie das letzte Stück hinunterrutschte. Dabei landete sie mit einem Fuß auf Ritas Körper, der keine Reaktion zeigte. Josefine legte ein Ohr auf ihren Brustkorb auf der Suche nach einem Herzschlag. War da noch ein ganz schwacher Puls? Sie fischte das Handy aus der Hosentasche, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum die Tasten traf. Irgendwann schaffte sie es, den Notruf zu wählen und den ungewöhnlichen Ort zu beschreiben, an dem sie sich befand.
Sie holte tief Luft, kniete sich neben Rita und begann mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Ritas Nase war gebrochen, und tief in ihrem Innern wusste Josefine, dass das Ganze sinnlos war, weil mit jedem Druck auf das Brustbein mehr Blut aus dem Mund quoll. Aber sie konnte nicht aufhören, machte unermüdlich weiter, bis sie Rufe hörte und ein Lichtkegel in das Loch gerichtet wurde, der sie blendete.
Die Zeit, die sie in dem Grab verbracht hatte, kam ihr wie eine Ewigkeit vor.