Kapitel 3
Kriminalhauptkommissar Alexander Damgaard, von allen Xander genannt, traf etwa gleichzeitig mit den Polizeitechnikern am Tatort ein und stieg in den obligatorischen, aus einem Einwegoverall mit Kapuze bestehenden Raumanzug. Um Viertel nach neun hatte ihn der Anruf von Majken Holm, der bissigen Leiterin der Ermittlungszentrale, die im dritten Stock des Polizeipräsidiums residierte, erreicht. Sie hatte ein ABC-Team aus Kollegen von den Revieren Amager, Bellahøj und Kopenhagen City zusammengerufen. Letzteres repräsentierte er. Das Team sollte klären, warum noch niemand mit bluttriefendem Messer in unmittelbarer Nähe des Opfers gestellt worden war. Wenn es sich denn wirklich um einen Mord handelte. Leider deutete an diesem höllisch kalten Abend nichts darauf hin, dass sie bald einen Täter ausfindig machen würden. Xander ahnte, dass dies wieder einer der Fälle werden würde, die sich ewig in die Länge zogen und die Überstunden in Höhen trieben, die er niemals würde abfeiern können. Sein Chef hatte zu allem Überfluss die Auszahlung von Überstunden gestrichen, was mehr oder weniger bedeutete, dass er ehrenamtlich arbeitete.
Sie befanden sich in einem Bereich des Friedhofs, in dem die Grabräumungen für die Baumaßnahmen der U-Bahn fast abgeschlossen waren. Der Regen ging allmählich in Schneegriesel über, und die aufgestellten Scheinwerfer erzeugten an den Mauern lange Schatten der Grabmäler, eine Skyline der besonderen Art. Xander las die Aufschriften einiger Grabsteine in der beleuchteten Zone. Da war für jeden Geschmack etwas dabei. Ihm ging durch den Kopf, dass er selbst sich auch eher in der absteigenden als aufsteigenden Phase seines Lebens befand. Ob jemand sein Grab besuchen würde? Frau und Kinder hatte er nicht, und seine Mutter war über achtzig. Alles, was von ihm bleiben würde, wäre ein einfacher Stein auf dem Friedhof mit einer unpersönlichen Inschrift, die mit der Zeit unter Moos und Taubenscheiße verschwinden würde.
Er schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich stattdessen auf den Tatort.
Die Untersuchungen waren bereits in vollem Gang. Fundort und Friedhof waren weiträumig abgesperrt. Wie emsige Ameisen hatten die Techniker sich zu der Leiche vorgearbeitet und eine schmale Passage eingerichtet, über die alle Zuständigen in ihre Arbeitsbereiche gelangen konnten, ohne eventuelles Beweismaterial zu zerstören. Einer der Spürhunde aus der Gruppe 1 schlug an. Die Tiere waren darauf trainiert, kleinste Spuren von Blut, Spucke und Sperma zu erschnuppern, und absolut unentbehrlich in der entscheidenden Anfangsphase einer Mordermittlung.
Xander erkannte das Geräusch des Technischen Einsatzwagens, der sich in Stellung brachte – ein voll funktionstüchtiges mobiles Büro, das in kürzester Zeit für Zeugenbefragungen und Büroarbeiten zur Verfügung stehen würde. Der Bauwagen lief inoffiziell unter dem Namen Wurstbude .
Der Bereitschaftsdienst hatte ein weißes Zelt über dem Fundort errichtet, das nur mäßigen Schutz vor dem kräftigen Wind bot, gegen den sie gehörig zu kämpfen gehabt hatten, bis die Planen stabil standen. Die Temperaturen befanden sich im freien Fall, und Xander vermutete, dass diese Tatsache den Rechtsmedizinern die genaue Bestimmung des Todeszeitpunktes erschweren würde. Im Licht der Scheinwerfer war zu erkennen, dass sich in den Erdvertiefungen Schnee sammelte.
Er stellte sich ein wenig abseits und zündete sich eine Zigarette an, nahm ein paar tiefe Züge und klopfte die Asche ab. Er wechselte einen Blick mit der hübschen Rechtsmedizinerin Maria Holeby, deren sinnliche Lippen schon ganz blau waren. Sie schaffte das Unmögliche, selbst in dem Einwegschutzoverall noch sexy auszusehen. Ihr Gruß war jedoch wie gewohnt unterkühlt, und egal wie sehr er seinen Charme hochschraubte, machte sie ihrem Spitznamen Eiskönigin alle Ehre.
Um den Hergang des Mordes zu rekonstruieren, musste die Leiche aus dem Grab gehoben werden. Xander begab sich unterdessen zu den Technikern, um dort bei einem kleinen Plausch einen Becher dampfend heißen Kaffee zu trinken, den ein sehr jung aussehender Polizist aufgesetzt hatte, sobald die Wurstbude ans Stromnetz angeschlossen worden war.
Nach dem Kaffee schlenderte er wieder zu der Rechtsmedizinerin.
»Hallo, Maria. Was habt ihr rausgefunden?«
»Der exakte Todeszeitpunkt lässt sich wegen der vermaledeiten Kälte und des Windes schwer bestimmen … Im Grab war es windgeschützt, aber die Erde ist gefroren. Sie wurde vermutlich zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr getötet. Ihr wurden schwere Kopfverletzungen in Form von dumpfen Schlägen zugefügt.«
Er schaute hinunter in das Grab und dann zu der Frauenleiche auf der weißen Plane. Der Leichnam war blut- und erdverschmiert, die Augen starrten mit gebrochenem Blick auf einen Punkt an der Zeltdecke.
»Konnte sie identifiziert werden?«
»Ja. Sie heißt Rita Magnussen. Gefunden wurde sie von der Rechtsanthropologin Josefine Jespersen, einer meiner Kolleginnen am Rechtsmedizinischen Institut. Die Verstorbene hat die Grabverlegungen in Verbindung mit dem U-Bahn-Bau geleitet und war zu diesem Zweck vom Stadtmuseum abgestellt worden. Josefine Jespersen hat Wiederbelebungsmaßnahmen vorgenommen, obgleich ziemlich schnell klar war, dass das zwecklos ist …«
»Ist Josefine Jespersen noch hier?«
»Ja, sie sitzt in einem der Streifenwagen.«
»Habt ihr sonst noch etwas Interessantes gefunden? Die Mordwaffe vielleicht?«
»Nein«, antwortete Maria. »Aber die Techniker haben neben der Leiche eine kleine Plastikflasche mit dem Bodensatz einer klaren Flüssigkeit gefunden. Sie untersuchen gerade den Inhalt …«
Xander nahm die Leiche noch einmal in Augenschein. Der Kopf der Frau war auf extrem brutale Art und Weise malträtiert worden. Als hätte der Täter sich in einem gewaltigen Blutrausch befunden.
»Wenn Sie noch etwas finden, kennen Sie ja meine Nummer.«
Sie nickte.
Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte Xander die farblichen Kontraste auf dem Friedhof: der knallige Mannschaftscontainer, das bonbonartig gestreifte Absperrband, die Kräne, die Löcher in der Erde und die quietschorangefarbenen Kegel. Buntes Chaos im Verhältnis zu den dezenten Profilen der alten Grabmäler.
*
Der abgesperrte Jagtvej mit den kreuz und quer auf der sonst so befahrenen Straße parkenden Einsatzfahrzeugen wirkte wie eine Kriegszone. Eine Kollegin zeigte Xander, wo die Zeugin zu finden war. Der Wind drang ungehindert durch seine Kleidung, als er auf einen Streifenwagen zustapfte, der halb auf dem Bürgersteig parkte. Xander erahnte die Konturen zweier Personen hinter der Scheibe und klopfte, was ihm sofort leidtat, weil die Person auf dem Beifahrersitz erschrocken zusammenzuckte. Das Fenster wurde heruntergelassen.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er. »Alexander Damgaard, Polizei Kopenhagen.« Ihr Gesicht kam ihm vage bekannt vor. Er glaubte, sich zu erinnern, dass er vor ein paar Jahren mal mit ihr zusammengearbeitet hatte. Sie sah blass und verängstigt aus.
»Hallo«, sagte sie. »Ist schon okay.«
Er meinte, in ihren Augen ebenfalls so etwas wie ein Wiedererkennen zu sehen.
»Ich spendiere einen Kaffee«, sagte Xander. »Was halten Sie davon?«
Sie nickte und stieg aus dem Wagen. Sie war in eine rote Ambulanzdecke gewickelt. Ihr Haar war schlammverkrustet, und sie hatte offensichtlich saubere Kleider von den Sanitätern bekommen.
Gemeinsam gingen sie auf den Friedhof zurück. Xander öffnete die Tür zur Wurstbude und ließ ihr den Vortritt. Er entdeckte einen sauberen Pappbecher, schenkte ihr ein pechschwarzes Konzentrat aus einer Glaskanne ein, die auf einer Wärmeplatte stand, und reichte ihr den Becher.
»Sind Sie so weit okay?«
»Ja … einigermaßen«, antwortete sie zögernd. »Ich glaube, es ist noch nicht ganz bei mir angekommen, dass … dass Rita tot ist. Ich habe Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht … aber ihre Luftröhre war von Blut verstopft …«
Sie räusperte sich.
»Das war sehr mutig von Ihnen«, sagte Xander.
»Wie meinen Sie das? Das hätte doch jeder getan.«
»Der Täter kann zu dem Zeitpunkt noch nicht weit weg gewesen sein …«
Josefine starrte ihn an und richtete dann den Blick auf den grau melierten Boden.
»Warum waren Sie so spät noch auf dem Friedhof?«
»Ich hatte die Zeit vergessen. Parallel zur ethischen Räumung des Friedhofs arbeite ich gerade an einem Projekt zur öffentlichen Gesundheit …«
»Ethische Räumung?«
»Ja, im Zusammenhang mit dem U-Bahn-Bau müssen der nördliche Teil des Friedhofs geräumt und über tausend Skelette verlegt und neu bestattet werden,« erklärte sie.
»Jesus, das hört sich nach einem Mammutprojekt an«, platzte Xander heraus. »Natürlich habe ich etwas darüber gelesen, aber nicht geahnt, dass es sich um so viele Gräber handelt.«
»Das hängt die Metro-AG auch nicht unbedingt an die große Glocke«, bemerkte Josefine. »Sie werden so schon von überall angefeindet.«
»Haben Sie irgendetwas … Außergewöhnliches bemerkt?«
»Nein … nur Rita. Sie hatte mir übrigens kurz vorher einen Mordsschrecken eingejagt. Ich hatte gerade den Arbeitscontainer abgeschlossen, als sie aus der Dunkelheit auftauchte …«
»Hat sie etwas gesagt?«
»Wir haben über einen unserer Totengräber gelästert. Er behauptet, dass es auf dem Friedhof spukt … Und dann hat sie mich eingeladen, mit ihr und ein paar Kollegen aus dem Nationalmuseum noch ein Bier trinken zu gehen, aber mir war nicht danach … Ich dachte eigentlich, dass sie eine Verabredung mit ihrem neuen Freund hätte, aber das … ist offenbar erst morgen.«
»Kennen Sie diesen Freund?«, fragte Xander interessiert.
»Nein, ist wohl noch ziemlich frisch.«
»Und was war dann?«
»Wir haben uns verabschiedet, und ich bin parallel zum Jagtvej an der Mauer entlanggelaufen. Mein Auto steht in einer Seitenstraße.«
»Und Rita?«
»Rita wollte sich noch im Mannschaftscontainer umziehen. Ungefähr auf halber Strecke zu meinem Auto … habe ich den Schrei gehört«, sagte Josefine und studierte ihre Hände. »Ich bin sofort umgekehrt und habe sie gesucht.«
»Haben Sie irgendetwas gesehen?«
»Nein, es war ja stockdunkel. Ich habe sie ziemlich schnell in dem ausgehobenen Grab gefunden … Das … das war so furchtbar. Ihre Augen …« Josefine sprach nicht weiter und strich sich stattdessen mit dem Handrücken unter der Nase entlang. Sie wandte das Gesicht ab und starrte aus dem kleinen, von Schneeflocken bedeckten Fenster.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie jemand nach Hause bringt.«
»Und was ist mit meinem Auto?«
»Ich schlage vor, dass Sie es morgen abholen.«
»Ja … Sie haben wohl recht.«
»Ich werde mich vermutlich im Laufe der nächsten Tage noch einmal bei Ihnen melden.«
»Okay«, sagte Josefine und gab ihm ihre Nummer.
Sie gingen zurück zum Streifenwagen, wo Xander dem Kollegen die Anweisung erteilte, Josefine nach Hause zu bringen. Während er die Rücklichter in der Dunkelheit verschwinden sah, ging er gedanklich noch einmal ihre Aussage durch.
In ihren Augen hatte die nackte Angst gestanden.
Ohne Vorwarnung ertönte ein lauter Ton in seinem Kopf, dieses Mal ein dunkler, tiefer Kontrabass mit niederfrequenten Schwingungen wie das Summen einer Hornisse, die sich in seinen Schädel verirrt hatte. Früher hatte ihn dieser Ton fast in den Wahnsinn getrieben, einmal hatte er sich so verzweifelt auf die Ohren geschlagen, dass sein Trommelfell geplatzt war. Danach war es noch schlimmer gewesen.
Inzwischen akzeptierte er den Ton als seinen ständigen Begleiter. Ein HNO-Arzt hatte ihm schulterzuckend geraten, sich tunlichst mit seinem Tinnitus anzufreunden.
Manchmal verschwand er für ein paar Tage, um in einer neuen Form zurückzukehren. Diese Pausen fürchtete er am meisten, weil er wusste, dass der Ton wiederkommen würde, dass die Ruhe nur die Stille vor dem Sturm bedeutete. Die Alternative zwischen hohem Pfeifton und tiefem Brummen war eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
Der Tinnitus war die Reminiszenz eines realen Albtraums. Gemeinsam mit einer Kollegin hatte er versucht, eine Frau davon abzuhalten, sich in ihrer Küche zu vergasen. Ein winziger Zufall hatte für ihn über Leben und Tod entschieden: dass die Kollegin vor ihm die Küche betreten hatte. Die Tür war von innen zugeklebt gewesen, und er hatte sie mit der Schulter aufgedrückt. In einer Situation, in der Gefahr im Verzug war, wurde normalerweise keine Frau vorgeschickt, aber die Kollegin hatte im Namen der Gleichberechtigung darauf bestanden und war als Erste in die Küche gestürmt.
Die Frau hatte vor dem Gasofen gekniet wie zum Gebet. Sie drehte ihren Kopf und sah sie einen ausgedehnten Augenblick lang an. Der beißende Gasgeruch trieb ihnen die Tränen in die Augen. Dann hob die Frau ein Feuerzeug auf, das neben ihr auf dem Boden lag. Ein Zischen war das Letzte, das er wahrgenommen hatte, ehe es ganz still wurde. Es war ihm nach wie vor unbegreiflich, dass seine Kollegin hatte sterben müssen, während er überleben durfte. Sie hinterließ einen Mann und zwei kleine Kinder. Er war verdammt noch mal allein. Single. Niemand würde ihn vermissen.
Die Frau hatte vorhergesehen, dass jemand versuchen könnte, sie zu retten. Und sie war bereit gewesen, andere mit in den Tod zu reißen.
Der Heulton war seine tägliche Erinnerung daran, dass jeder Tag der letzte sein konnte.