Kapitel 5
Sir Henry hatte mehrfach versucht, Josefine zu überreden, die weiteren Untersuchungen einem Spezialisten für Knochenfrakturen aus dem Pathologischen Institut in Aalborg zu überlassen. Aber sie hatte darauf bestanden, selbst die Bruchkanten des Schädels zu untersuchen, mit dem Hinweis, dass sich die Ergebnisse um Tage verschieben und sich damit die Ermittlungen der Polizei verzögern würden, wenn sie die Untersuchungen Aalborg überließen, worauf Henry widerstrebend seinen Segen gegeben hatte.
Sie befand sich jetzt in einem kleinen Labor im Rechtsmedizinischen Institut, wo eine Kollegin des Grabräumungsprojektes dabei war, die Knochen eines Kinderskelettes auf einer Plexiglasplatte zu verteilen.
Es herrschte eine konzentrierte Atmosphäre in dem kühlen und geruchsneutralen Labor. Als Hintergrundgeräusch war das leise Brummen der Absaugvorrichtung zu hören, die wie eine dieser altmodischen helmartigen Trockenhauben klang. Josefine hatte ihre Jacke angezogen, fröstelte aber trotzdem.
Eine andere Kollegin sortierte mit routinierten Handgriffen einen Haufen Fingerknochen, die wie frisch in Beize getaucht aussahen. Sie verteilte die Knochen behutsam auf Blasenfolie.
Josefine war dabei, die letzten Knochenstücke des Schädels zu verleimen. Zu dem Zweck war vorher der Schädel vom Körper getrennt, von einem Techniker der Rechtsmedizin präpariert und von allen Weichteilen befreit worden. Es war nicht üblich, den Kopf bei einer Obduktion vom Körper zu trennen, aber es kam vor, zum Beispiel wenn der Schädel besonders stark beschädigt war. So konnten die Anthropologen problemloser die Bruchfläche untersuchen und bestimmen, welche Mordwaffe verwendet worden war. In ganz seltenen Fällen war ein Abdruck der Mordwaffe im Schädelknochen zu finden. Jedenfalls erleichterte diese Methode die Untersuchung der Frakturen und das Anfertigen von Fotos, die dann von Computerprogrammen ausgewertet werden konnten.
Josefine schluckte und verzerrte das Gesicht. Die Halsschmerzen wurden schlimmer.
Ritas Schädelknochen hatte der Serie von Schlägen nicht standgehalten, von denen ein jeder für sich tödlich gewesen wäre. Wie schon tausendmal zuvor grübelte sie darüber nach, was Rita in den letzten Sekunden vor ihrem Tod gedacht haben mochte. Josefine hoffte inständig, dass sie nicht mehr mitbekommen hatte, was mit ihr geschah.
Sie hatte den ganzen Vormittag konzentriert an der Rekonstruktion des Schädels gearbeitet und war jetzt fast fertig. Sie nahm ein weiteres Stück der Hirnschale, drehte es unter der Lampe hin und her und platzierte es in dem fast komplett wiederhergestellten Schädel.
Da weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen und richtete die Architektenlampe genau auf den Punkt, wo sie etwas zu sehen glaubte, das dort nicht hingehörte. Josefine stand auf, ging um den Tisch herum und betrachtete die runde Wölbung des Schädels, der sich mit seiner hellen Elfenbeinfärbung von den anderen, vom Alter nachgedunkelten Schädeln unterschied.
Sie verließ das Labor, lief über den Flur und rief aus ihrem Büro den Chefpathologen an.
»Da ist etwas, das du dir ansehen musst, Henry«, sagte sie kurzatmig. »Hast du Zeit vorbeizukommen?«
*
»Und du glaubst nicht, dass das von der Mordwaffe stammt?«, fragte Henry wenig später skeptisch, während er den Teil des Schädels unter die Lupe nahm, der Josefines Aufmerksamkeit geweckt hatte.
Er setzte die Brille ab und rieb sich die Augen.
»Nein, weil die Verletzungen von einem stumpfen Instrument verursacht wurden, sehr wahrscheinlich von einer Schlagwaffe.«
»In Bezug auf die Schlagwaffe stimme ich dir zu«, sagte Henry nachdenklich. »Besonders hier oben um den Scheitelpunkt herum ist die abgerundete Läsion deutlich zu erkennen.« Er zeigte auf die Umrisse einer Fraktur, die Josefine mit ihrer pedantischen Rekonstruktion sichtbar gemacht hatte.
»Der Täter hat offenbar ein scharfes Instrument benutzt, um etwas in den Schädel zu ritzen«, fuhr Josefine fort.
»Ein Messer«, sagte Henry langsam, nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte und sich erneut über den Schädel beugte. »Oder ein Skalpell. Und das Motiv ist unmissverständlich …«, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu.
Josefine nickte. Für die kindlich einfache künstlerische Umsetzung gab es keine gute Note.
Es hatte etwas beängstigend Berechnendes, die eigene Signatur in die Hirnschale seines Opfers zu ritzen. Das deutete auf einen kaltblütigen Mörder hin, weil es eine äußerst riskante Angelegenheit war, sich länger als unbedingt nötig am Tatort aufzuhalten. Sie fröstelte und rieb sich über die Arme.
»Gut entdeckt«, sagte Henry. Er nahm die Brille ab, klappte sie zusammen und steckte sie in die Brusttasche des Kittels. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er schließlich.
Sie schlug den Blick nieder.
»Alles gut …«
»Hm«, sagte er skeptisch und fügte hinzu: »Informierst du Alexander Damgaard? Ich sorge dafür, dass deine Beobachtungen dem Obduktionsbericht beigefügt werden.«
*
Am gleichen Nachmittag trat Xander in Josefines Büro, hob ein paar Papierstapel von einem Wegner Y-Stuhl und setzte sich. Mit nachdenklicher Miene betrachtete er den Schädel, der auf einem Kissen aus grünem schaumartigem Material stand, das auf die Finger abfärbte.
»Was ist das?«, fragte er.
»Oasis«, antwortete Josefine.
Er sah sie fragend an.
»Das wird für Blumengestecke verwendet«, fügte sie hinzu, als ginge es um völlig alltägliche Dinge. »Aber wir verwenden es unter anderem als Stützmaterial für Schädel.«
»Ah ja.«
Xander räusperte sich.
»Sehen Sie sich das mal an«, sagte Josefine mit konzentriertem Gesichtsausdruck. »Der Mörder hat ein Zeichen eingeritzt, post mortem, wie wir glauben.«
Sie zeigte auf die rechte Schädelseite.
»Wie kann es sein, dass das bei der Obduktion übersehen wurde?«
»Die Gesichtshaut, das darunterliegende Gewebe und die Knochen waren so zerstört wie nach einem schweren Verkehrsunfall. Bei der ersten Untersuchung haben wir es übersehen, aber ich habe alle Bilder noch einmal gründlich verglichen. Es sieht so aus, als hätte der Täter einen Schnitt durch die Weichteile, also Haut, Unterhaut, Muskulatur und Hirnhaut vorgenommen, ehe er in den Schädelknochen geritzt hat.«
»Eine Nachricht vom Mörder?«
»Möglich, ich weiß es nicht. Aber Sie wissen ja selber, dass es extrem selten vorkommt, dass ein Täter derartige Signaturen hinterlässt.«
»Könnte die Ritzung auch auf andere Weise entstanden sein?«
»Nein, da bin ich wiederum ganz sicher«, sagte Josefine bestimmt, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
Xander bemerkte ihre rote Nase und die glasigen Augen.
»Eine makabre Signatur«, murmelte er und nahm eine andere Sitzhaltung ein, worauf der Stuhl bedrohlich knarrte. »Ein Kreuz … möglicherweise als christliches Symbol gemeint …«
Sie nickte.
Er machte Anstalten, sich zu erheben.
»Rufen Sie mich an, falls Sie noch mehr finden, okay?«
»Natürlich«, antwortete Josefine.
Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und putzte sich die Nase.
»Und gute Besserung«, sagte Xander schon auf dem Weg hinaus in den Flur.