Kapitel 20
Endlich hatte Josefine mal wieder Zeit gefunden, an ihrem Bericht zur Volksgesundheit zu arbeiten. Gleich meldete sich leise ein schlechtes Gewissen, weil sie dafür andere, nicht minder dringliche Aufgaben hintanstellte, aber wenn sie nicht bald etwas zu Papier brachte, würde sie Probleme kriegen, den Abgabetermin einzuhalten. Draußen gingen die Leute bei herrlichem Sonnenschein spazieren, obwohl es klirrend kalt war. Ihre fröhlichen Stimmen waren bis in das kleine dunkle Büro zu hören, und Josefine musste bedauernd feststellen, dass das Leben gerade mal wieder an ihr vorbeiging.
Die Hauptaufgabe der Dokumentation von Krankheiten des 19. Jahrhunderts war der Nachweis physischer Spuren, die diese im Knochengewebe hinterlassen hatten. Die Industrialisierung wirkte sich auf den menschlichen Knochenbau aus, und die Mundhygiene der Kopenhagener war, verstärkt durch den Einzug des Zuckers, mangelhaft. Auch die Englische Krankheit als Folge von Vitamin-D-Mangel war weit verbreitet. Im Skelett machte sich das in Form von Deformierungen der Beinknochen bemerkbar, die sich nach außen bogen wie Krummsäbel.
Teile des Forschungsprojektes befassten sich mit Kindersterblichkeit, dem Tod der Mutter bei der Geburt und Veränderungen der Körpergröße durch alle sozialen Klassen.
Josefine ging zu dem kleinen Waschbecken, wusch sich die Hände und starrte einen Augenblick ihr Spiegelbild an. Sie würde sich als den absoluten Prototyp der dänischen Frau bezeichnen: mittelblond, graublaue Augen. Aus anthropologischer Sicht waren die Durchschnittsgröße und die Lebenserwartung seit der Bronzezeit ständig gestiegen, und auch wenn man keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Haarfarbe ziehen konnte, war sie überzeugt davon, dass ein Großteil der Menschen damals wie heute leberpastetenfarbenes Haar hatte. Über die Augenfarbe der Zeit konnte man auch nur Vermutungen anstellen, aber Josefine war ziemlich sicher, dass sie damals in der Menge nicht aufgefallen wäre, abgesehen davon, dass sie vielleicht einen Tick größer war als die Frauen von damals.
Sie stellte fest, dass ihre Wangenknochen deutlicher vortraten. Sie hatte abgenommen.
Sie seufzte, rieb sich die Augen und sah aus dem Fenster, hinter dem der eisblaue Himmel einen scharfen Kontrast zu der tristen Stimmung in ihrem dunklen Büro darstellte, und für den Bruchteil einer Sekunde streifte sie der Gedanke über die Absurdität, sich mit dem Tod zu beschäftigen.
Sie fuhr den Laptop herunter, nahm ihn von der Dockingstation und schob ihn in den Rucksack. Auf dem Weg zur Tür hinaus klingelte das Festnetztelefon. Sie zog kurz in Erwägung, nicht ranzugehen, änderte dann aber ihre Meinung. Es war Sir Henry, der ihr mitteilte, dass ein neuer Fall reingekommen war, und sie fragte, ob sie Zeit hätte, an der Obduktion teilzunehmen.
*
Henry begrüßte seinen Assistenten. Er hielt große Stücke auf Jordan, der umgänglich, stark und absolut unentbehrlich war, wenn die Leichen gewendet oder transportiert werden sollten. Darüber hinaus war Jordan das lebende Beispiel für Effektivität und Zeitersparnis am Arbeitsplatz. Er arbeitete schon eine Ewigkeit im Institut, und Henry graute vor dem Tag, an dem Jordan seinen Hut nehmen würde.
Der Assistent schob die Leiche auf einer Bahre in den Obduktionssaal. Kurz darauf trat Josefine durch die Tür, während sie ihren Mundschutz hinter den Ohren befestigte. Sie begrüßten sich kurz.
Jordan verfrachtete die Leiche mit Hilfe eines extra angefertigten Liftes von der Bahre auf den Sektionstisch.
Henry betrachtete Josefine, die sich abwartend ans Fußende des Tisches gestellt hatte, ehe sein Blick zu der Leiche wanderte. Es beeindruckte ihn immer wieder zutiefst, wenn Verstorbenen die Todesangst noch ins Gesicht gemeißelt war, nachdem das Herz längst aufgehört hatte zu schlagen. Vorsichtig zog er den blutgetränkten Mantel- und Blusenkragen vom Hals. Die Schnitte in der Haut schienen mit denen in den Kleidern übereinzustimmen, woraus er schloss, dass es sich um eine besonders scharf geschliffene Stichwaffe gehandelt haben musste. Möglicherweise ein Skalpell, dachte er, als sein Blick die Stahlschale mit seinen eigenen Instrumenten streifte.
Jordan fing an, die Leiche behutsam zu entkleiden. Er legte die Kleider auf einen Tisch, wo ein Polizeitechniker sie einer gründlichen Untersuchung unterzog, und begann dann, die Haut mit einem weichen Schwamm zu reinigen. Wie gewohnt verrichtete er seine Arbeit schweigend. Da sie sich inzwischen gut genug kannten, war es nicht zwingend notwendig, jeden Handgriff zu kommentieren.
Jordan drehte die Leiche behutsam auf den Bauch, keine einfache Übung für einen Einzelnen. Er überkreuzte die schlanken Beine in Knöchelhöhe und schob einen Arm unter den Bauch, zog den Körper zu sich und drückte ihn mit Hilfe des eigenen Körpergewichts nach hinten. Henry schaltete das von der Decke hängende Mikrofon ein und begann mit der Untersuchung der Rückseite der Leiche, während er seine Beobachtungen in seinem typischen leisen Stakkato in das Mikrofon sprach. Er leitete sein Protokoll mit der Feststellung ein, dass es sich bei der Toten um Luisa Fernandez handelte, fünfundzwanzig Jahre alt. Er fand die zu erwartenden rotvioletten Leichenflecken, die sich bildeten, sobald die Blutzirkulation aussetzte und die Blutkörperchen von der Schwerkraft angezogen zur Erde sackten. Die Leichenflecken entsprachen der Liegeposition, in der sie gefunden worden war, was darauf schließen ließ, dass niemand die Leiche nach Eintritt des Todes bewegt hatte.
Die Totenstarre setzte normalerweise wenige Stunden nach dem Tod ein. Ihren Höhepunkt hatte sie etwa einen halben Tag später, danach blieb sie ein paar Tage konstant, um schließlich wieder nachzulassen, parallel zum Voranschreiten der Verwesung, die mit der außer Kraft gesetzten Immunabwehr in Gang kam, sobald die körpereigenen Bakterien freies Spiel hatten.
Henry signalisierte Jordan mit einem Blick, dass er die Leiche wieder umdrehen konnte.
Seine Aufmerksamkeit war auf die umfassende Zertrümmerung des Schädels und ein auffälliges grobes Kreuz über der Brust gerichtet.
Während der gründlichen Untersuchung der Unterarme bildete sich eine senkrechte Furche zwischen Henrys dunklen Augenbrauen. Vorsichtig hob er den Kopf der Leiche an und signalisierte seinem Assistenten, die OP-Lampe zu drehen.
»Was meinst du zu den Bruchflächen, Josefine?«, fragte er.
Sie beugte sich über die Leiche und nahm augenblicklich den aufdringlich metallischen Geruch des geronnenen Blutes wahr. Das rabenschwarze Haar der Toten war dick, was einen genauen Überblick über die massive Zerstörung des Schädels erschwerte. Die Hirnschale war am Hinterkopf zerschmettert. In dem glänzenden Haar klebten dunkle Schorfklumpen. Josefine sah sich die Verletzungen zuerst an, ehe sie sie mit den Fingerspitzen abtastete.
»Kann ich den CT-Scan der Bruchflächen sehen?«, fragte sie an Jordan gewandt.
»Der Scanner ist leider kaputt. Ihr müsst euch noch ein bisschen gedulden. Ich habe einen Techniker bestellt, aber die Reparatur kann dauern«, sagte er mit einem Ausdruck, der von bitterer Erfahrung zeugte.
»Hast du Abwehrspuren gefunden, Henry?«
»Nein.«
»Der Täter muss von hinten zugeschlagen haben … Sie hat es nicht mehr geschafft, die Arme hochzureißen, um sich zu schützen«, stellte Josefine fest. »Der Betreffende dürfte etwas größer gewesen sein als sie. Wie groß ist sie eigentlich?«
»Einssiebenundsechzig«, antwortete Jordan.
»Sie liegt also wehrlos am Boden. Der Täter beugt sich über sie und führt ein paar tiefe Schnitte aus«, sagte sie.
»Ich stimme dir zu.« Henry räusperte sich. »Die Platzierung der Risse in Mantel und Bluse lassen darauf schließen, dass sie auf dem Rücken lag, als er die zwei Schnitte durch die Stofflagen und die Haut ausgeführt hat. Dazu könnte er durchaus ein Skalpell benutzt haben.«
Eine Assistentin aus der Rechtsmedizin stieß zu ihnen und machte Fotos. Der Blitz wurde von den weißen Kacheln reflektiert und hinterließ leuchtende Flecken auf der Netzhaut.
Josefine übergab wieder an Henry und stellte sich ans Kopfende der Bahre, um den Kollegen nicht im Weg zu stehen, die sich in konzentrierter Stille den inneren Untersuchungen zuwandten.
Mit leichten und routinierten Bewegungen durchschnitt Henry mit seinem Skalpell die Haut in gleichmäßigen Linien. Eine dünne gelbe Fettschicht klaffte auseinander und bildete ein großes Ypsilon. Er zog die Haut zur Seite, die sich wellte wie ein Fensterleder. Am Ende sah man die freigelegten Organe, die sich bewegten, während er arbeitete. Die kleinen Brüste waren an den Seiten hinuntergerutscht.
Mit präzisen und zielgerichteten Bewegungen legte er die Atemorgane frei.
Henry fing den Blick seines Assistenten über den Rand seiner Brille ein. Jordan reagierte prompt und holte eine kleine kompakte Kreissäge. Mit lautem Kreischen schnitt sich das Sägeblatt durch die Rippen, die er mit einem kurzen Ruck zur Seite klappte und den Blick auf das menschliche Innenleben freilegte.
Nach Abschluss der Leichenschau und nachdem der Körper wieder ordentlich zusammengenäht war, breitete Henry ein weißes Laken über der Toten aus und bat Jordan, die Leiche für den Abschiedsraum herzurichten.
»Es kommt ein katholischer Priester, um für sie zu beten. Sie war sehr gläubig.«
Henry nahm den Mundschutz und die Papierkappe ab und strich sich übers Haar.
»Und was denkst du über die Mordwaffe?«, fragte er Josefine.
»Eine stumpfe Schlagwaffe«, sagte sie entschieden.
»Hm«, murmelte Henry. »Du hast vermutlich recht. Die Schnittwunden an der Brust waren jedenfalls nicht tödlich.«
Sie hörten Schritte näher kommen und sahen den Kriminalhauptkommissar im üblichen weißen Kittel, in Handschuhen, Papierhaube und Mundschutz.
»Wie ist sie gestorben?«, fragte Xander ohne Einleitung.
»Wiederholte Schläge gegen den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand«, antwortete Henry. »Der Tod ist meiner Meinung nach unmittelbar eingetreten.«
Er richtete den Blick auf Josefine, die sich räusperte.
»Der erste Schlag war gegen die Schläfe, danach auf den Scheitel. Ersterer war vermutlich betäubend, der zweite meiner Beurteilung nach tödlich.«
Henry nickte zustimmend.
»Danach hat der Mörder noch einige Schläge ausgeführt, aber da war sie vermutlich bereits tot.«
Henry klappte das Tuch etwas weiter herunter, bis die Brust der Frau zu sehen war. Ihre Haut war kalkweiß.
»Der Mörder hat ihr mehrere Schnitte zugefügt …«
»Sind die Wunden sehr … tief?«, fragte Xander, nachdem er seine Stimme freigeräuspert hatte.
Henry schüttelte den Kopf.
»Nein, verhältnismäßig oberflächlich, auch wenn es brutal aussieht, muss ich gestehen. Aber wie Josefine bereits sagte: Tödlich waren die Schädelfrakturen«, fuhr Henry fort, den Blick auf die Schnitte gerichtet.
»Sieht aus wie ein Kreuz«, bemerkte Xander. Und einen Augenblick später: »Denken Sie das Gleiche wie ich?«
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte Josefine und lief aus dem Raum. Sie zog die Latexhandschuhe von den Händen und warf sie unterwegs in einen Abfalleimer, lief den Gang hinunter, zog die Personalkarte durch das Lesegerät, schloss ihr Büro auf, drückte den Lichtschalter und fuhr ihren Laptop hoch. Sie gab eine Suche in PACS ein, im Picture Archive and Communications System, dem Bildarchiv des Rechtsmedizinischen Instituts, und druckte ein paar schwarzweiße Bilder aus. Danach begab sie sich zurück in die Pathologie und schob mit der Hüfte die Tür zum Sektionssaal auf.
»Seht euch das an«, sagte sie kurzatmig und verteilte die Ausdrucke auf einem Rolltisch. »Die stammen von dem Mord auf dem Assistens Kirkegård …«
Henry drehte den Schirm einer Bürolampe so, dass das Licht auf die Ausdrucke fiel, und stellte sich neben Josefine. Sie wählte ein Bild aus, das sie Xander reichte.
»Ja, verdammt«, murmelte Xander mit gerunzelter Stirn.
»Auf dem Assistens Kirkegård war es in den Schädel eingeritzt«, sagte sie.
»Könnte das Kreuz … von ein und derselben Person ausgeführt worden sein?«, fragte Xander.
»Ja, mit ziemlicher Sicherheit …«
»Josefine hat recht«, sagte Henry und verschränkte die Arme vor der Brust.
In der folgenden Stille brummte nur die Lüftungsanlage unter der Decke.
Henry räusperte sich.
»Bei der Leiche wurden ein paar Gegenstände gefunden, die Sie sich ansehen sollten.« Er holte einen Plexiglasbehälter, in dem einige durchsichtige Plastikbeutel lagen. Einen davon reichte er Xander.
»Das hier sieht aus wie die Flasche, die die Techniker in dem Grab auf dem Friedhof sichergestellt haben. Sie haben allerdings nicht herausgefunden, was für eine Art Flasche das ist.«
Xander nahm einen anderen Beutel und hielt ihn gegen das Licht.
»Ein Rosenkranz …«, murmelte er.
»Der wurde in der Tasche der Toten gefunden.«
»Das alles wirkt ziemlich religiös.« Xander kratzte sich unter dem Mundschutz. »Kommt irgendwann noch ein Priester zu der Verstorbenen?«
»Ja, er müsste jeden Moment da sein«, antwortete Henry nach einem Blick auf die große Wanduhr. »Und nicht irgendein Priester, wohl ein höheres Tier. Generalvikar, hat er gesagt, auch wenn ich nicht genau weiß, was der Titel beinhaltet. Er heißt Pater Dominic.«
»Den kenne ich. Könnten Sie Fotos der eingeritzten Brust der Toten besorgen?«
»Ja, kein Problem.«
»Ich schlage vor, wir zeigen dem Priester die Bilder und Gegenstände.«
Kurz darauf betraten sie den Abschiedsraum, wo ein Glasmosaik das Licht in klaren blauvioletten Farben reflektierte. Eine Kerze tauchte das Ganze in einen versöhnlichen Schein. Das weiße Profil der jungen Frau hob sich von der dunklen Wand ab.
Es klopfte an der Tür. Jordan führte einen großen, schwarz gekleideten Mann herein und verschwand wieder. Der Mann in Schwarz begrüßte die Anwesenden mit leiser Stimme und stellte sich als Pater Dominic vor. Er sah die tote Frau an und schluckte. Einen Augenblick stand er mit hängenden Armen einfach nur da und betrachtete die Verstorbene. Dann streckte er die Hand aus und berührte leicht ihre Wange. Ein Zittern schien durch seinen Körper zu laufen. Es war vollkommen ruhig in dem Raum.
Ein dumpfes Klopfen durchbrach die Stille.
Josefine öffnete die Tür.
»Hier sind die gewünschten Fotos«, sagte Jordan.
Sie nahm sie entgegen, und der Assistent verschwand wieder.
»Ich bin gekommen, um für sie zu beten«, sagte der Priester tonlos. »Ich kenne sie aus meiner Gemeinde, in der sie seit vielen Jahren Mitglied gewesen ist. Gestatten Sie?«
Henry nickte und räusperte sich.
»Selbstverständlich. Aber … Herr Damgaard hätte ein paar Fragen, die Sie ihm möglicherweise beantworten können …«
»Ja?«
Xander reichte ihm den Beutel mit der kleinen Plastikflasche, die der Priester mit einem zusammengekniffenen Auge betrachtete.
»Das ist eine Weihwasserflasche«, sagte er nachdenklich. »Der blaue Verschluss und das Etikett deuten darauf hin, dass es aus Lourdes kommt …«
»Aus Frankreich?«
»Ja, das Lourdes am Fuß der südfranzösischen Pyrenäen, einer der wichtigsten Wallfahrtsorte der katholischen Kirche, hauptsächlich bekannt für seine Wunder, wo Blinde plötzlich wieder sehen und Lahme gehen können … Das Wasser hat Heilkraft …« Pater Dominics Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »War sie krank?«
»Sie war vollkommen gesund, wie es aussieht, es sei denn, die Gewebeproben, die ich zur Analyse eingeschickt habe, ergeben noch etwas Unerwartetes«, antwortete Henry.
Der Priester rieb sich kräftig mit den Händen über das Gesicht.
»Was war die Todesursache?«
»Stumpfe Gewalt gegen den Kopf«, antwortete Josefine.
Der Priester nickte bedächtig mit gequältem Gesichtsausdruck.
»Auf der Brust wurden Schnitte gefunden … eine Art Zeichen … möglicherweise ein Kreuz. Wir würden Ihnen gerne die Fotos zeigen. Ich muss Sie aber warnen, dass sie schockierend aussehen …«
»Der Tod ist Teil meiner Arbeit … Obgleich ich vorrangig mit natürlichen Todesfällen zu tun habe …«
Er seufzte.
Josefine gab ihm die Bilder.
Der Adamsapfel des Priesters rutschte nach unten.
»Hm, ja, das sieht in der Tat aus wie ein Kreuz«, sagte er langsam. »Aber warten Sie, da stimmt was nicht …«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Henry neugierig.
Der Priester starrte die Bilder an.
»Wie wurden die Schnitte ausgeführt?«
Josefine sah ihn fragend an.
»In welcher Richtung wurde das Messer geführt?«, präzisierte er.
Henry wunderte sich über die Frage, die aber offenbar von entscheidender Bedeutung war.
Er sah sich die Schnitte noch einmal genau an, jedes winzige Detail an den Wundrändern.
»Von unten nach oben«, sagte er. »Und danach von rechts nach links.«
Henry bemerkte eine pochende Ader an der Schläfe des Priesters.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Priester wie aus einer Ohnmacht erwacht. »Das ist vielleicht eine merkwürdige Frage.«
»Völlig in Ordnung«, beruhigte Henry ihn, der ungewöhnliche Fragen von Angehörigen gewohnt war.
»Beim Bekreuzigen führt man die rechte Hand von der Stirn an die Brust, danach von der linken an die rechte Schulter, wobei man sagt: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen
. Der Mörder hat es umgekehrt gemacht«, sagte der Priester.
»Umgekehrt?«, wiederholte Henry.
»Sehen Sie, der Balken liegt verkehrt … zu weit unten. Das Kreuz hat zwei Balken, einen senkrechten und einen waagerechten. Der senkrechte gemahnt die Katholiken an ihr Verhältnis zu Gott, der waagerechte an ihr Verhältnis untereinander …«
Es entstand eine längere Pause.
»Darf ich?«
Henry nickte.
Der Priester trat an die Bahre und beugte sich über die Leiche.
Der Pathologe zog sich dezent zurück und lauschte der Stimme des Priesters. Der zeichnete mit dem Zeigefinger ein kleines Kreuz auf die Stirn der Toten.
Nachdem er die Leiche der jungen Frau noch eine Weile betrachtet hatte, verließ er den Abschiedsraum.