Kapitel 21
Isabella wusch sich die Hände und legte ihren Schmuck an. Danach zündete sie sich eine Zigarette an und starrte aus dem Fenster. Sie war gespannt, wie es Belinda ging, und zugleich besorgt, dass sie so schnell wieder aus der Klinik Bispebjerg entlassen worden war. Sie hatte mit dem Oberarzt gesprochen, der sie untersucht und ihren Zustand für nicht kritisch genug eingestuft hatte, um einen Platz in der ohnehin schon völlig überfüllten Abteilung zu belegen. Isabella seufzte leise und fühlte eine frustrierende Ohnmacht gegenüber dem System.
Die Eingangstür ging. Sie drückte die Zigarette aus, versteckte die Schachtel in einer Schublade und ging ins Wartezimmer, um Belinda und ihre Mutter zu begrüßen. Danach begaben sie sich ins Behandlungszimmer. Den Massenmord an den Fischen übergingen sie alle schweigend.
Nachdem Isabella das Becken noch einmal gereinigt hatte, schwamm im Aquarium nun ein neu gekaufter Schwarm Fische, als wäre nichts gewesen.
Sie musterte Belinda auf Spuren der Besserung, aber im besten Fall war ihr Zustand unverändert. Sie wirkte unruhig. Die Mutter war ein Schatten ihrer selbst. Isabella war gedanklich das gesamte Diagnoseregister durchgegangen, von Autismus bis Schizophrenie, ohne auf die Diagnose zu stoßen, die den Zustand des Mädchens umfassend beschrieb. Dissoziative Identitätsstörung war wohl die genaueste Annäherung an eine Diagnose – ein Zustand innerer Zerrissenheit, in der der Patient zwischen verschiedenen Persönlichkeiten hin und her pendelt. Sie hatte bisher nur mit einem Fall zu tun gehabt, wo der Patient mit verschiedenen Stimmen sprach und sich nicht an die anderen Personen erinnerte. Es war unheimlich gewesen, den jungen Mann mit der Stimme einer reifen Frau sprechen zu hören. Vielleicht hatte Belinda ja eine böse innere Doppelgängerin, die Tiere tötete? Einen niederträchtigen Zwilling, der ihre finstersten Fantasien auslebte? Bei der Vorstellung schauderte es sie. Weil sie wusste, wohin das führen konnte. Das konnte die Türen zu etwas noch viel Furchtbarerem öffnen, nämlich der äußersten Konsequenz, dem Mord an einem Menschen.
Und dann war da noch dieser leise nagende Zweifel, ob sie dieser Aufgabe überhaupt gewachsen war. War sie in der Lage, dem Mädchen zu helfen, das jetzt blass und zusammengesunken vor ihr saß und sich so fest auf die Lippe biss, dass dort ein perlengroßer Blutstropfen wuchs, platzte und über ihr Kinn lief. Die Mutter war sofort zur Stelle und wischte das Blut mit einem Papiertaschentuch weg. Die Tochter starrte vor sich hin.
»Und«, sagte Isabella. »Wie geht es?«
»Ich bin mir nicht sicher …«, antwortete die Mutter. »Ich finde, es ist wie vorher …«
Isabella ließ den Blick zu Belinda wandern, die abgehackt atmete, als wäre sie gerannt, und in regelmäßigen Abständen hustete.
»Hat sie Fieber?«
»Nein, wir haben heute Morgen gemessen. 35,6.«
»Hm, ich denke, ich höre sie trotzdem mal ab.«
Isabella überlegte, ob Belinda sich möglicherweise eine kalte Lungenentzündung eingefangen hatte.
Sie holte ihr Stethoskop und ging zu Belinda.
»Hast du Atemnot, Belinda?«
Sie signalisierte Belinda, dass sie ihr Oberteil hochziehen sollte, und wärmte den Schallkopf zwischen den Händen. Das Mädchen gab ein tiefes Knurren von sich.
»Nimm das weg, du Miststück!«, schrie Belinda mit einer um mindestens eine Oktave gesunkenen Stimme.
Isabella sah die Mutter fragend an, die zur Salzsäule erstarrt dasaß.
»Du machst uns nichts vor!«, rief Belinda.
Ein leises, bedrohliches Lachen stieg aus ihrem Bauchraum empor. Ihr Brustkorb pumpte wie ein Blasebalg.
»Belinda, ich muss dich abhören …«
Isabella machte einen neuen Anlauf, sich Belinda zu nähern.
»Nimm das verdammte Kreuz weg!«, schrie die tiefe Stimme. Die Hände des Mädchens hatten sich zu Krallen zusammengerollt. Isabella nahm eine hastige Bewegung wahr, im nächsten Augenblick riss die Kette ihres Armbandes. Mit einem leisen Klirren fielen die goldenen Anhänger auf den Boden. Einer davon war ein Kreuz. Genauer ein Dagmarkreuz. Sie hatte es zur Taufe von ihrer Großmutter bekommen.
Isabella sah Belinda in die Augen und senkte den Blick. Es war, wie in zwei tiefe Abgründe zu schauen.
Belinda beugte sich zu Isabella vor und zischte:
»Fotze!«
Sie zog die Lippen in der Karikatur eines Lächelns zurück. Ihr Mundgeruch war entsetzlich.
»Hure!«, schrie sie unvermittelt so laut, dass der Schrei ein helles Pfeifen in den Ohren hinterließ. Danach sackte sie in sich zusammen und wurde von einer neuen Hustenattacke geschüttelt.
»Entschuldigung, so schlimm ist es sonst nicht«, flüsterte die Mutter.
»Sie müssen unbedingt mit ihr zu ihrem Hausarzt«, sagte Isabella nachdrücklich. »Sie muss gründlich untersucht werden … Möglicherweise hat sie sich eine ernste Infektion eingefangen …«
Die Mutter nickte.
»Das werde ich tun.«
Isabella navigierte vorsichtig durch die Rushhour. Das Radio lief. Die Moderatoren lachten gegenseitig über ihre Witze, als wären ihnen die Zuhörer völlig egal. Genervt schaltete sie um auf Radio P1, wo gerade ein Interview lief.
Mit halbem Ohr hörte sie einer sonoren, sanften Männerstimme zu, die es ganz offensichtlich gewohnt war, öffentlich zu kommunizieren. Der Moderator versuchte immer wieder, den Interviewten vorzuführen, was ihm allerdings nicht gelang. Es war schnell klar, dass der Interviewte dem Moderator intellektuell und menschlich weit überlegen war.
»Aber Sie glauben nicht wirklich an den Teufel?«, kam die Frage des Moderators etwas von oben herab.
»Doch, das tue ich«, antwortete der Mann ruhig. »Wenn man an Gott glaubt, akzeptiert man auch die Gegenwart des Bösen.«
»Ernsthaft?«
»Ja«, kam die felsenfeste Antwort.
Es entstand eine für eine Radiosendung ziemlich lange, knisternde Pause.
»Und der Papst hat Sie also zum Exorzisten ernannt …«
»Ja«, lautete die kurze Antwort.
Papiergeraschel.
»Und wie beweisen Sie die Existenz des Bösen?«
»Das sollten Sie als Journalist eigentlich wissen … Fragen Sie doch einfach Ihre Kollegen aus der Redaktion, was in der Welt alles so passiert …«
»Aber wie erkennen Sie, ob eine Person besessen ist?«
»Na ja, die Betreffenden leiden generell an diffusen Symptomen wie Schlaflosigkeit, innerer Unruhe, Schmerzen, beispielsweise im Bauch, und hartnäckigem Husten. Gewichtsabnahme ist nicht ungewöhnlich. Und sie benutzen stark blasphemische Ausdrücke.«
»Kann das nicht auch ein Zeichen für eine psychische Erkrankung sein?«, fragte der Moderator.
»Ja, durchaus.«
»Aber wie entscheiden Sie da, ob es sich um echte Besessenheit handelt?«
»Das ist natürlich eine Herausforderung, aber ich blicke auf mehr als zwanzig Jahre Erfahrung zurück und irre mich selten …«
Das Gespräch ging weiter, und der Priester kam zu ein paar Details, die Isabella veranlassten, aus dem Verkehr auszuscheren und mit einer Vollbremsung am Straßenrand anzuhalten. Sie ignorierte die unzweideutige Geste eines Radfahrers, der ihr grottenschlechtes Verkehrsverhalten kommentierte. Sie war nur dankbar, dass sie bei ihrem überstürzten Manöver niemanden angefahren hatte. Ihr Herz begann zu hämmern, als ihr klar wurde, dass der Mann im Radio ihr gerade eine treffende Charakteristik des Falles Belinda geliefert hatte.
Sie sammelte sich noch einen Moment, ehe sie den Blinker setzte und sich wieder in den Verkehr einfädelte.