Kapitel 30
Josefine hatte die Musik aufgedreht, während sie in der Küche etwas zu essen vorbereitete. Der Duft von gebratenem Rindfleisch breitete sich in der Küche aus. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich bewusster zu ernähren, und wollte diesen Beschluss mit einem guten Steak vom Metzger feiern, was dazu geführt hatte, dass einem ihrer Kollegen neidisch das Wasser im Mund zusammengelaufen war, der ihr gerade anvertraut hatte, dass er seiner Frau zuliebe nur gebratenes Wurzelgemüse aß und sich nicht traute, ihr zu sagen, dass ihm davon schlecht wurde. Und dass er ihr selbstgebackenes Steinzeitbrot aus unter dem Vogelhäuschen zusammengefegten Körnern, einem gefühlten halben Liter Öl und einer Palette Eier widerlich fand. Davon kriegte er höllischen Durchfall, hatte er ihr beim gemeinsamen Frühstück in der Kantine gebeichtet. Josefine hatte kichernd geantwortet, dass man sich besser um das Innere seiner Koronararterien und den Cholesterinwert sorgen sollte, was der Kochbuchautor mit Sternestatus vor lauter Begeisterung wohl übersehen hatte.
Als ihr Handy zu klingeln begann, ärgerte Josefine sich, dass sie es nicht auf lautlos gestellt hatte. Sie drehte die Musik leiser.
»Tut mir leid, Sie so spät noch zu stören«, sagte Xander. »Aber an der Station Taastrup ist ein Mord passiert. Die Polizei von Vestegnen meint, es hätte was von einer Halal-Schlachtung zu Allahs Ehren«, fuhr er fort. »Ich habe mit Henry gesprochen, der meinte, dass ich Sie anrufen solle, weil er auf seinem abgelegenen Hof ist … Können Sie zum Fundort kommen?«
Josefine wischte sich mit einer müden Bewegung durchs Gesicht.
»Ja, kann ich. Schicken Sie mir eine SMS mit der Adresse?«
»Umgehend«, versprach Xander. »Aber stellen Sie sich auf ein heftiges Szenario ein. Ich habe ein paar Fotos bekommen … Das ist mit das Grausamste, was ich je gesehen habe. Eine junge Frau.«
»Ich bin hart im Nehmen«, sagte Josefine, aber etwas in Xanders Stimme ließ sie beunruhigt aufhorchen.
Sie beendete das Gespräch, schaltete den Herd aus und stieg in ihre ältesten Gummistiefel. Sie zog den Anorak über den Kopf, schnappte sich den Schultergurt der Ledertasche und überprüfte, dass sie Geldbeutel und Handy eingesteckt hatte.
Unterwegs hielt sie an einer Shell-Tankstelle, tankte und kaufte sich einen Kaffee. Ein beißender, nach Frost riechender Wind kroch unter ihre Kleider, und sie bereute, dass sie keinen wärmeren Pullover unter dem Anorak angezogen hatte.
*
Josefine spürte die Wirkung des starken Kaffees als Vibrieren hinter den Augenlidern. Das gewohnte Klopfen aus dem Motor, das schon so lange dort war, wie sie sich erinnern konnte, war wie ein nervöser Pulsschlag. Als sie Kopenhagens Zentrum verließ, spürte sie fast den physischen Druck der Dunkelheit auf ihr Auto, und die Randbereiche der Scheinwerferkegel kamen ihr schwärzer vor als sonst.
Xander war nicht der Typ für Übertreibungen, weshalb sie sich innerlich auf das denkbar schlimmste Szenario einstellte. Egal wie viel Erfahrung man hatte und wie oft man dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte, drängte sich in solchen Situationen unweigerlich die Gewissheit der eigenen Vergänglichkeit auf. Alles hatte ein Ende, und der Tod lauerte irgendwo da draußen als Unbekannte X in der Lebensgleichung. Sie hatte längst die letzten Reste ihres Kinderglaubens verloren, und das Einzige, woran sie tatsächlich glaubte, war die Unabwendbarkeit des Todes. Etwas, worin sie tagtäglich bestätigt wurde.
Sie registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Ein dunkler Schatten schoss auf dem Seitenstreifen an der Scheibe vorbei, sie riss das Steuer herum und hatte einen Augenblick keine Kontrolle mehr über den Wagen – dann befand sie sich wieder auf der richtigen Fahrbahn und nahm den Fuß vom Gas. Die zwei neongelben Lichtpunkte glühten ein paar Sekunden auf ihrer Netzhaut nach, nachdem sie den Fuchs oder die große Katze passiert hatte. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus und versuchte mit aller Macht, die Panikattacke zurückzudrängen, die für einen Moment jeden klaren Gedanken blockierte.
Als sie die diversen Scheinwerfer der unterschiedlichen Repräsentanten der Ordnungsgewalt sah, war Josefine erleichtert. Ein Krankenwagen stand im Leerlauf da, herbeigerufen im Zuge der Kettenreaktion, die bei der Meldung eines verdächtigen Todesfalles in Gang gesetzt wurde für den Fall, dass es Verletzte gab.
Josefine parkte das Auto, ging in Richtung eines Lieferwagens, in dem sie die Techniker vermutete, und nahm Augenkontakt mit einem Mann im Einwegschutzanzug auf. Sie wies sich aus, und ihr wurden ein ebensolcher Anzug ausgehändigt, Schuhüberzieher und ein Mundschutz.
»Furchtbar«, sagte der Techniker und starrte ihr in die Augen. Sie glaubte, ihm bei einer früheren Gelegenheit schon einmal begegnet zu sein, konnte sich aber nicht an seinen Namen erinnern.
»Damgaard hat mich vorgewarnt«, antwortete sie leise und stützte sich am Lieferwagen ab, um in den Overall zu steigen. Als sie den Vorschriften gemäß gekleidet war, steuerte sie auf den weißen Lichtzirkel im Tunnel zu. Der aufwendige Aufbau verhieß nichts Gutes. Josefine entdeckte die Eiskönigin , die sie mürrisch musterte. Ein großer, breitschultriger Mann baute sich hinter ihr auf.
»Hallo, Josefine.«
Xander zog sie ein Stück beiseite.
»Danke, dass Sie so kurzfristig gekommen sind … Das ist bestialisch … schockierend. Massive Schädelverletzungen. Ich habe mit dem Ermittlungsleiter der Polizei Vestegnen abgesprochen, dass wir in diesem Fall ruhig ein wenig vorgreifen und Sie gleich von Anfang an hinzuziehen können …«
Ein anderer Mann im Einweganzug ging an ihnen vorbei. Josefine erkannte in ihm die kreidebleiche Ausgabe von Xanders Mitarbeiter Jørgen, der aussah, als müsste er sich übergeben. Beim Anblick seines Chefs inhalierte er ein paar Mal tief, was etwas zu helfen schien.
»Kein Problem«, log Josefine. »Gehen wir?«, fragte sie, um es hinter sich zu bringen.
»Ja.«
Sie achtete darauf, den Markierungen zu folgen, die den Weg anzeigten, auf dem alle Spuren von technischer Relevanz bereits gesichert waren und keine Gefahr bestand, dass sie oder einer der anderen die Fundstelle mit eigener DNA verunreinigte oder wichtige Spuren zerstörte.
Die Stimmung in der Unterführung war durch die starken Scheinwerfer, die vielen arbeitenden Menschen und nicht zuletzt den Geruch von Tod aufgeheizt und verdichtet. Der scharf metallische Geruch versetzte Josefine in den Augenblick des Mordes zurück. Vor ihrem inneren Auge sah sie eine fliehende Gestalt in dem dunklen Tunnel.
Sie kniff die Augen vor dem grellen Licht zusammen.
Die Fundstelle war ein summender Bienenkorb mit identisch gekleideten Menschen, von denen jeder seiner speziellen Aufgabe nachging. Der Tunnelboden war an einigen Stellen schlammig und schwarz wie Torf. Der aufdringliche Blutgeruch wurde intensiver, als sie sich der auf dem Rücken liegenden Gestalt näherten. Die weit aufgerissenen Augen starrten ihnen entgegen, als hätte genau dort der Mörder gestanden, das Letzte, was sie gesehen hatten. Die Mascara war um die Augen schwarz verlaufen, was diese unnatürlich groß wirken ließ. Der Kontrast des roten, noch hellen und flüssigen Blutes auf den flachsblonden Haaren konnte größer kaum sein.
»Es ist gerade erst passiert«, murmelte Josefine.
Ihr Blick wurde von den Augen angezogen, deren beunruhigende Klarheit das Licht des Scheinwerfers wie meerblaues Glas reflektierte.
Eine Fliege prallte gegen Josefines Stirn. Sie wedelte sie weg und schüttelte sich.
Josefine hatte Fliegen schon immer abstoßend gefunden, obgleich sie sie inzwischen als Teil einer unverbrüchlichen Nahrungskette ohne moralische Skrupel akzeptierte wie auch die Tatsache, dass sie sich in manchen Zusammenhängen als sehr wertvoll für die Ermittlungen erwiesen. Nach Eintreten des Todes legten sie ihre Eier in das tote Fleisch, aus den Eiern wurden Larven, und die Verpuppung dieser Larven folgte einem exakten zeitlichen Rhythmus, abhängig von Jahreszeit, Wind, Wetter und nicht zuletzt Temperatur. Sie fungierten sozusagen als eine Natur-Uhr, an der man sich in den rechtsmedizinischen Untersuchungen ausrichtete, da es für die Ermittler entscheidend war, den Todeszeitpunkt so genau wie möglich zu bestimmen.
Josefine ging in die Hocke und nahm verwundert etwas auf der Erde genauer in Augenschein, das durch einen kleinen roten Tatortpfeil angezeigt wurde: ein blutiges Stück Fleisch.
»Sie hat sich ein Stück von der Zunge abgebissen«, sagte sie langsam. »Vermutlich beim ersten Schlag.«
Sie wandte sich der Leiche zu, um sie genauer zu untersuchen. Der Schädel war weich und nachgiebig. Aus einem langen Riss am Hinterkopf war das Blut aus dem Körper pulsiert und hatte einen roten glänzenden See um das Mädchen gebildet.
Sie bewegten sich mit dem Rücken zu der von Graffiti übersäten Betonwand von der Leiche weg.
Xander nahm eine Taschenlampe, deren Lichtkegel von ein paar purpurroten Strichen auf der Wand reflektiert wurde. Josefine identifizierte das charakteristische, auf dem Kopf stehende Kreuz, das neben den knalligen Graffiti eine noch größere Schockwirkung entfaltete. Rote Tropfen suchten sich einen Weg nach unten wie flüssige Malerfarbe. Die Gerinnung hatte noch nicht eingesetzt, und der Gesamteindruck war der einer schlampig ausgeführten Arbeit, als wäre der Täter in Eile gewesen. Für einen Augenblick spürte sie die physische Nähe des Mörders. Ihr Magen zog sich zusammen. Josefine legte die Hände vor den Mund und betrachtete das Kreuz. Sie fühlte ein paar Spasmen in der Speiseröhre und befürchtete, sich übergeben zu müssen, schaffte es aber, den Reflex mit ein paar tiefen Atemzügen zu unterdrücken.
Sie suchte Xanders Blick.
»Scheint derselbe Täter zu sein wie …«
Xander nickte.
Josefine sah die Eiskönigin und ging ihr entgegen.
»Lassen Sie ein CT-Scanning des Schädels machen«, sagte sie leise. »Und sagen Sie gerne dazu, dass es eilt.«
»Sie wissen doch, dass wir momentan unterbesetzt sind«, antwortete die Eiskönigin .
»Da draußen läuft ein Mörder frei herum, und Henry würde es sicher begrüßen, diesen Fall zu priorisieren.«
Josefine machte auf dem Absatz kehrt. Sie hatte schon lange mal Lust gehabt, die Eiskönigin in die Schranken zu weisen, und es war ein gutes Gefühl, es getan zu haben. Auch wenn es auf professioneller Ebene sicher nicht zuträglich war, eher im Gegenteil. Die Eiskönigin war ein echter Karrieretyp, die in beeindruckend kurzer Zeit kometenhaft sowohl intern in der Rechtsmedizin als auch extern über die Veröffentlichung mehrerer Artikel in angesehenen Fachmagazinen in der Hierarchie aufgestiegen war, was sie nicht müde wurde, zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu erwähnen.
*
Im grellen Licht der Scheinwerfer zeichnete sich Jørgens schlaksiger, knochiger Körper dunkel unter dem halb transparenten Schutzanzug ab. Die hellen Augen glänzten.
»Die Zeugin ist jetzt vernehmungsfähig. Hast du Zeit?«
Die Stimme klang mechanisch, und Xander ahnte, dass der Kollege kämpfte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der grauenvolle Tatort ihn mitnahm.
Xander verließ die Unterführung. Davor stand ein Krankenwagen. Der Schein der blau blinkenden Lichter blendete ihn einen kurzen Moment. Er rieb sich die Augen, während er auf das Fahrzeug zuging. Ein Sanitäter stieg aus und kam ihm entgegen.
»Sie ist in der Unterführung hart von einer Person angerempelt worden«, sagte er.
»Ist sie verletzt?«
»Nein, aber sie steht unter Schock. Wir haben ihr was Beruhigendes gegeben.«
Der Sanitäter öffnete die Tür zur Patientenkabine. Weißes Neonlicht fiel auf den Asphalt.
Xander stieg in den Krankenwagen. Eine Frau mittleren Alters, deren Gesichtsfarbe fast mit den Wänden der Kabine verschmolz, lag auf einer Pritsche, deren Kopfteil hochgestellt war. Hinter den Lichtreflexen auf den Brillengläsern waren die Augen nicht zu sehen.
Ihre Hand klammerte sich um den Griff ihres Einkaufstrolleys, dessen Räder schlammverschmiert waren.
»Wie heißt sie?«, erkundigte sich Xander diskret beim Sanitäter.
»Emma Jensen«, antwortete er. »Frührentnerin.«
»Hallo, Frau Jensen«, sagte Xander mit der Andeutung eines Lächelns. »Kriminalhauptkommissar Alexander Damgaard von der Polizei Kopenhagen. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
Die Frau räusperte sich.
»Ist sie tot … Die Frau in der Unterführung?«
»Ja.«
Der Sanitäter nahm einen kleinen Aluminiumhocker von der Wandhalterung, damit Xander sich setzen konnte. Er befand sich jetzt auf Augenhöhe mit der Zeugin.
Die Frau schluckte beschwerlich, ohne seinen Blick loszulassen.
»Ich war auf dem Heimweg vom Bingo-Banko … Einmal in der Woche treffe ich mich dort mit meiner Schwester. Ich lebe allein, darum ist es nett, ab und zu mal unter Leute zu kommen. Ich war spät dran für meine Bahn … Um diese Zeit fährt sie nur noch alle zwanzig Minuten, und es ist nicht schön, am Bahnhof zu warten …«
»Was ist passiert?«
»Ich habe jemanden in der Unterführung gesehen.«
»Können Sie die Person beschreiben?«
Die Frau dachte eine Weile nach.
»Er war groß«, sagte sie.
»Wie groß ungefähr? Ich weiß, dass das aus der Entfernung und in dem schummrigen Licht nicht einfach ist.«
»Vielleicht so groß wie Sie?«
Xander machte eine Notiz auf seinem Block.
»Eher kräftig oder schmächtig gebaut?«
»Schmächtig«, antwortete sie, ohne zu zögern.
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
»Nein, er hatte eine große Kapuze auf, die das Gesicht verborgen hat.«
»Wie war er ansonsten gekleidet?«
»Enge Jeans und Gummischuhe …«
»Erinnern Sie sich an die Farbe der Gummischuhe?«
»Hell«, antwortete sie nach kurzer Bedenkzeit.
»Und er hat Sie gestoßen?«
Die Frau nickte langsam.
»Mit den Händen?«
»Nein, er hat mich im Vorbeilaufen mit dem Körper angerempelt … beinahe, als hätte er mich nicht gesehen …«
Sie seufzte und verschränkte die Hände über dem Bauch, während ihr Blick auf einen Punkt an der Kabinendecke fixiert war. Xander hatte das Gefühl, dass sie sich gerade innerlich zurückzog. Die Kiefermuskeln arbeiteten unter der Gesichtshaut.
»Frau Jensen«, sagte Xander eindringlich, »wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, ist es ganz wichtig, dass Sie mich sofort informieren.«
Emma Jensens Brillengläser beschlugen.
Er reichte ihr seine Visitenkarte. Als sie nicht reagierte, legte er sie auf die Decke.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie nach Hause gebracht werden«, versprach Xander. »Sollen wir Ihre Schwester anrufen, oder gibt es sonst jemanden, der bei Ihnen sein kann?«
»Das ist nicht nötig. Ich bin es gewohnt, allein zurechtzukommen. Ich … muss mich nur noch ein bisschen beruhigen.«
»Wenn Sie das Bedürfnis haben, mit jemandem über das Erlebte zu reden, hat die Polizei …«
»Ich … glaube nicht. Ich möchte das Ganze am liebsten so schnell wie möglich vergessen.«
»Melden Sie sich einfach«, sagte Xander und stand auf.
Vor dem Krankenwagen gönnte er sich erst einmal ein paar Züge aus einer Zigarette, ehe er sich wieder in die Unterführung begab.
Er sah auf den S-Bahn-Fahrplan und danach auf seine Armbanduhr. Dann suchte er im Gewimmel Maria Holeby und nahm sie beiseite.
»Gibt es schon eine Einschätzung in Bezug auf den Todeszeitpunkt?«
»Weniger als eine Stunde«, antwortete sie. »Sie war bei unserem Eintreffen noch warm, Körpertemperatur 36,8 Grad, und das Blut war noch nicht geronnen. Vermutlich sogar weniger als eine Dreiviertelstunde«, fasste sie zusammen.
Ein beunruhigendes Gefühl machte sich im Magen breit, während Xander die Informationen sacken ließ, und ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Möglicherweise war Emma Jensen eine noch viel wichtigere Zeugin als bisher angenommen, wenn es der Mörder war, der an ihr vorbeigelaufen war und sie angerempelt hatte.
»Jørgen!«, rief er.
Sein Ruf hallte durch die Unterführung. Eine weiß gekleidete Gestalt kam auf ihn zu.
»Ja?«
»Ich habe gerade mit der Zeugin gesprochen, die das Opfer gefunden und die Polizei alarmiert hat. Ich bin ziemlich sicher, dass sie den Mörder gesehen hat. Sichere ihren Mantel und gib ihn den Technikern. Vielleicht ist ausreichend DNA daran zu finden«, sagte er versonnen, fast mehr zu sich selbst als zu seinem Kollegen.
Jørgen nickte und verschwand.
Xander entdeckte Josefine, die auf ihn zukam.
»Das Opfer wird jetzt in die Rechtsmedizin gebracht«, sagte sie. »Sie hat einen großen offenen Schädelbruch, ein abgesplittertes Stück vom Knochen hat vermutlich die Halsschlagader durchlöchert. Das würde den großen Blutverlust erklären.«
»Verdammt«, murmelte Xander und starrte auf seine Schuhüberzieher.
»Der Schlag wurde mit großer Kraft und einem stumpfen Instrument ausgeführt … Ich muss die Bruchflächen noch unter dem Mikroskop untersuchen. Ich sehe mir den CT-Scan gleich morgen früh an.«
Xander bedankte sich kurz für ihre Hilfe, wandte sich ab und ging zu den Scheinwerfern, wo er Kenneth entdeckte, der Fingerabdrücke sicherte.
»Was gefunden?«, fragte er.
Kenneth schüttelte den Kopf.
»An der Wand sind Millionen Abdrücke. Ganz schön unübersichtlich das Ganze …«
»Er muss ziemlich groß gewesen sein, um bis dort obenhin zu reichen«, stellte Xander mit einem Blick auf die bluttriefende Zeichnung fest.
Kenneth nickte stumm.
»Ich tippe, er hat das Kreuz mit den Fingern gemalt. Sieh dir das an«, sagte Kenneth und zeigte auf den oberen Teil des Kreuzes, wo deutlich verwischte Streifen in Fingerbreite zu sehen waren.
Xander stellte sich vor, wie der Täter sich auf Zehenspitzen nach oben gestreckt hatte, und dachte an die Aussage der Zeugin, laut derer er und der Mörder sich das eine Merkmal teilten: nämlich dass sie gleich groß waren. Xander durchrieselte es kalt. Der Mörder musste extrem kaltblütig sein, weil er von beiden Enden der Unterführung zu sehen gewesen war, wo jederzeit potenzielle Zeugen hätten auftauchen können.
»Gibt es Überwachungskameras in der Unterführung?«, fragte Xander.
»Ja. Die eine ist zerschlagen«, sagte Kenneth. »Bei der anderen ist die Linse mit Kaugummi verklebt.«
»Vom Täter?«
»Nein, das klebt da mindestens schon eine Woche. Ich habe den Verantwortlichen der Dänischen Bahn ausfindig gemacht. Sie haben die Reparaturen für nächste Woche geplant.«
»Was ist mit den Kameras vor der Unterführung, auf den Bahnsteigen und in der Bahn?«
»Alle intakt«, sagte Kenneth, und seine Stimmlage hob sich ein wenig. »Die Verantwortlichen der Dänischen Bahn waren erstaunlich schnell und haben uns bereits die Dateien geschickt. Eine Kollegin ist gerade dabei, sie zu sichten. Sie sitzt draußen im Wagen.«
Xander schob die Seitentür des diskret aussehenden Technikerwagens auf und erkannte das Profil von Karen Madsen. Das Wageninnere war bis auf den letzten Millimeter mit allen möglichen teuren Gerätschaften ausgestattet.
Karen drehte den Kopf zur Seite und begrüßte Xander. Sie trug einen beigen Rollkragenpullover, eine schwarze Hose und robuste Schnürschuhe. Das fahle Gesicht wirkte noch blasser im bläulichen Schein der Monitore, als würde sie ihr gesamtes Dasein hinter abgedunkelten Scheiben fristen. Dabei strahlte sie eine freundliche Sanftheit aus. Wenn man ihr auf der Straße begegnete, würde man sie wahrscheinlich als Hausfrau alten Schlages einordnen, die immer selbstgebackene Kekse und frisch gebrühten Kaffee dahatte, falls unangemeldet Gäste vor der Tür standen.
»Ist etwas auf den Aufnahmen zu sehen?«, fragte er.
»Ja. Das Opfer ist mit der Bahn gekommen«, antwortete Karen.
Xander stellte sich hinter Karen, und es durchrieselte ihn kalt, als er das Opfer allein in der S-Bahn sitzen sah, und das Wissen, dass in der Unterführung ein brutaler Mörder auf sie wartete, war kaum zu ertragen. Das Mädchen erhob sich, und die Türen glitten langsam auf. Sie verschwand in der Dunkelheit. Karen tippte etwas auf der Tastatur, und Xander erkannte den dunklen Eingang der Unterführung wieder. Im Hintergrund waren wie kleine Monde ein paar Straßenlaternen zu sehen, die aber nichts gegen die Dunkelheit auszurichten vermochten.
»Könnte der Mörder ebenfalls mit der Bahn gekommen sein oder den Tatort auf diesem Wege verlassen haben?«, fragte er.
»Das habe ich überprüft.« Sie schaufelte einen Block unter einem Haufen Blätter frei. »In den Stunden vor dem Mord sind keine Männer in der Bahn gewesen, auf die die Beschreibung passen würde, und auch nicht auf dem Bahnsteig.«
»Spul ein bisschen vor«, bat Xander sie.
Karen drückte eine Taste, und der Zähler in der Ecke begann schneller zu schnurren. Kurz darauf wurden die Konturen eines Lieferwagens sichtbar, der in einer langsam gleitenden Bewegung aus der Dunkelheit zu schwimmen schien. Der Chauffeur vollzog ein Wendemanöver, das auf einen routinierten Fahrer schließen ließ, und parkte den Wagen schließlich so, dass er die Tunnelöffnung verdeckte.
Xander fluchte.
»Scheiße! Er hat die Stelle offensichtlich im Voraus ausgekundschaftet!«
»Du könntest recht haben«, sagte Karen zögerlich.
»Stell fest, wann genau die Kameras im Tunnel sabotiert wurden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Zufall ist!«
Er starrte angespannt auf die glänzende Front des Wagens. Das Kennzeichen war natürlich nicht zu erkennen. Ob das an der schlechten Auflösung der Überwachungsaufzeichnung lag oder ein bewusster Schachzug des Fahrers war, wusste er nicht, aber er vermutete, dass Letzteres der Fall war.
»Karen, kannst du Wunder vollbringen, was das Kennzeichen betrifft?«
»Ich fürchte, nein, die Kamera ist von lausiger Qualität. Man könnte meinen, die stamme aus einem Spielwarenladen. Völlig unbrauchbar.«
Etwas weckte Xanders Aufmerksamkeit. Während ihrer Unterhaltung hatte sich eine Veränderung in dem dunklen Stillleben vollzogen.
»Spul ein Stück zurück!«
Karen drehte einen Knopf.
Xander beugte sich vor. Die Front des Wagens sackte in einer leichten Wellenbewegung ab, gleich darauf war hinter der Windschutzscheibe die Andeutung einer Silhouette zu sehen. Das Gesicht des Fahrers war von einer Kapuze verdeckt, als wüsste der Betreffende exakt, wie er den Kopf halten musste, damit sein Gesicht nicht zu erkennen war. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Gleich darauf war das Auto verschwunden, und sie starrten auf einen leeren schwarzen Kreis.
»Verflixt und zugenäht«, fluchte er.
Das Schicksal schien sich mit dem Mörder verbündet zu haben.
Xander blieb vor dem Technikerwagen stehen, um die neuen Informationen sacken zu lassen. Etwas an der Personenbeschreibung der aufgewühlten Frührentnerin veranlasste ihn, in Teglholmen anzurufen, wo er sich zu Birthe durchstellen ließ und sie bat herauszufinden, wo der geistig verwirrte Mann vom Assistens Kirkegård sich befand. Der Friedhofsgräber Svend hatte ihn als Vogelscheuche beschrieben. Xander sah das schmale, hohlwangige Gesicht vor sich. Wie ein Raubvogel, hatte er gedacht. Mit einer besonderen Glut in den Augen. Ob Wahnsinn oder wilde Aggression konnte er nicht sagen, aber er hatte einen Anflug von Angst verspürt, als ihre Blicke sich im Verhörraum begegnet waren.
Die Arme und Beine der Vogelscheuche waren streichholzdünn, aber unter der ungewaschenen Haut hatten seine Muskeln energisch gezuckt.
*
»Bitte«, sagte Xander wenig später und verzog das Gesicht. Er hielt zwei bis zum Rand mit braunem dampfendem Kaffee gefüllte Plastikbecher in den Händen. Josefine und er hatten sich ein wenig aus der Betriebsamkeit und dem grellen Scheinwerferlicht in der Unterführung zurückgezogen.
Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Sie konnte jetzt wirklich etwas Aufmunterndes brauchen. Über das grausame Szenario hinaus hatte eine bleischwere Erschöpfung sie befallen.
Sie nahm ihm vorsichtig einen Becher aus der Hand, pustete kurz und trank dann einen Schluck Kaffee, der überraschend gut schmeckte.
»Ich hatte im Gefühl, dass noch mehr Morde passieren würden«, sagte Xander.
Er starrte mit nach innen gewandtem Blick in die Dunkelheit und drehte sich dann zu ihr um. Sein Blick war finster, die Falten an den Augenwinkeln bildeten feine Spinnweben. Lachfalten am Tag, dachte Josefine. Und Kummerfalten in der Nacht.