Kapitel 33
Xander blätterte den vorläufigen Obduktionsbericht durch, den er soeben per Mail erhalten hatte. Mit den kurzen, nüchternen Beschreibungen stellten sich Flashbacks von Belindas starrem Blick auf der Netzhaut ein. Die Todesursache war, wie Josefine schon vermutet hatte, ein Knochensplitter vom Schädel, der sich als Folge stumpfer Gewalt tief in das Gehirn gebohrt hatte. Aber auch ohne den Knochensplitter wäre sie unmittelbar darauf an dem offenen Schädelbruch gestorben. Xander hatte gelernt, das Ärztelatein einigermaßen zu dechiffrieren, stockte aber, als er auf einen Begriff stieß, den er nicht einordnen konnte. Mit einem irritierten Seufzer tippte er Maria Holebys Nummer ein. Er musste etwas warten, weil sie gerade telefonierte.
»Hallo«, sagte Xander. »Ich lese gerade Ihren Bericht und wollte wissen, was Dermatitis artefacta
bedeutet.«
»Selbstverletzung«, antwortete Maria. »Sie hat Schnittnarben an den Innenseiten der Handgelenke.«
»Und das können keine Abwehrverletzungen sein?«
»Nein, die Wunden sind fast verheilt. Und es liegen keine anderen Schnittverletzungen vor. Außerdem sind sie oberflächlich und auf charakteristische Weise gleichmäßig … wie Rillen. Der Mensch ist von Natur aus nicht so veranlagt, sich selbst zu verletzen. Es ist wohl in unserem Wesen verankert, dass wir keine verunstaltenden Narben haben wollen«, sagte sie.
Es entstand eine leise rauschende Pause. Die Verbindung war schlecht, und es klang, als befände sich Maria auf einem anderen Kontinent.
Xander bedankte sich für die Aufklärung und beendete das Gespräch.
Er dachte an die Rasierklingen in Belindas Kommodenschublade und fröstelte bei dem Gedanken, was sie damit gemacht hatte.
Er tippte erneut eine Nummer ein und hatte gleich darauf Pater Dominics tiefe Stimme im Ohr.
»Sie haben eine Klientin namens Belinda …«
»Ja, das stimmt.«
»Ich habe mit ihrer Psychiaterin gesprochen, Isabella Mont-Petersen.«
»Ich kann leider keine Auskünfte über meine Klienten geben, wie Sie sicherlich verstehen.«
»Belinda ist tot«, sagte Xander ohne Umschweife.
»Gütiger Gott …«, sagte der Priester. »Wie?«
»Sie wurde ermordet. Die Psychiaterin hat mir gesagt, dass sie Kontakt zu Ihnen aufgenommen hat wegen einer …«
»Teufelsaustreibung«, vollendete Pater Dominic den Satz. »Ja, das ist richtig. Sie hatte ein Radiointerview mit mir gehört und einige der charakteristischen Symptome für echte Besessenheit wiedererkannt. Die Psychiaterin war extrem beunruhigt wegen ihrer Patientin … und das mit gutem Grund.«
»Könnten Sie das genauer ausführen?«
»Sie war stark angeschlagen. Ich bin überzeugt, dass ein oder sogar mehrere Dämonen involviert waren. Belinda hat ausgesprochen extrovertiert reagiert. Ich hatte Schwierigkeiten, die Séance durchzuführen. Sie hat unheimliche Kräfte mobilisiert … und das Weiße der Augen nach außen gewendet. Das habe ich bislang nur bei einer anderen Klientin erlebt.«
»Was haben Sie gestern Abend nach neun Uhr gemacht?«
»Ich war bei einem Sterbenden im Hospiz der Sankt-Lukas-Stiftung. Manchmal werde ich gerufen, wenn es aufs Ende zugeht. Ich war dort einige Stunden. Soll ich die Nummer raussuchen?«
»Danke, nicht nötig, ich schaue selbst im Netz nach.«