Kapitel 36
Josefine hatte den IT-Spezialisten Arne zu Rate gezogen. Seine Glatze schien frisch poliert und glänzte im Schein der Küchentischversion einer Poul-Henningsen-Lampe. Er hatte erzählt, dass er zu Hause alle Lampen des Lichtkünstlers habe, und ihr Fotos gezeigt. Josefine zog ihn immer wieder mit seinem Tick auf, womit er sich heroisch abfand. Arne trug die obligatorische Lederweste und ein kurzärmeliges erdbraunes Poloshirt. Das Einzige nicht Erdtönige an ihm waren seine Augen, die mit der Glatze um die Wette strahlten. Josefine hatte ihn noch nie unfreundlich oder grummelig erlebt, der Mann war schlicht und ergreifend auf sehr undänische Weise immer gut gelaunt. Arne hatte ein Faible für Josefine, und sie war immer die Erste auf der Liste, wenn etwas aktualisiert oder neu eingerichtet werden musste. Arne bestimmte souverän, wer wann einen neuen Computer bekam. Wer auf die Idee kam, ihn oder seinen Kollegen Mohammed herumzukommandieren, rutschte sehr schnell auf seiner Favoritenliste nach unten.
Josefine wusste nicht, was sie richtig gemacht hatte, dass Arne offensichtlich alles, womit er gerade beschäftigt war, fallen ließ, wenn sie ihn anrief oder eine Mail schickte – etwas, das die Eiskönigin
gehörig auf die Palme brachte, weil es häufig passierte, dass sie länger warten musste als ihrem Platz in der Hierarchie und dem Dienstalter angemessen.
Arnes Mondgesicht öffnete sich in einem freundlichen Lächeln, während er die Sonderbehandlung ihrer kurzen Bildsequenz erläuterte und das extra Aufpolieren der Schritte, also eine Erweiterung auf insgesamt drei Schritte in Folge. Das hörte sich nicht weltbewegend an, aber Josefine konnte sich sehr genau vorstellen, dass ihn das einige Überstunden gekostet hatte, was von Mohammeds eifrigem Nicken bestätigt wurde. Josefine war insgeheim fasziniert von seinem hübschen Äußeren und den kohlschwarzen funkelnden Augen. Er war immer in Arnes Kielwasser zu finden, die beiden waren wie siamesische Zwillinge.
»Ich habe das Gehirn des CT-Scanners ausgeborgt«, sagte Arne kryptisch.
Josefine vermutete, dass er damit auf die zwei Großrechner im Keller anspielte, die Bilddaten aus dem neu gekauften, hübsch geformten CT-Scanner bearbeiteten.
Arne herrschte wie ein Gott im Untergeschoss; er stellte Verbindungen her, führte kleinere Reparaturen aus und sorgte dafür, dass alles flutschte. Dafür nahm er sich zwischendurch ein paar Freiheiten heraus. Wie jetzt, wo er Kapazitäten der leistungsstarken Rechner für ganz andere Arbeiten abzweigte als von der Direktion vorgeschrieben. Die in die Rechtsmedizin gebrachten Leichname wurden beim Eintreffen in ihrem Leichensack gescannt. Der Scanner war für die Pathologen eine entscheidende Hilfe, manche behaupteten sogar, er mache eine Obduktion überflüssig, weil die verfeinerte Technologie inzwischen so messerscharfe dreidimensionale Aufnahmen lieferte, dass man die Schlaftabletten darauf zählen konnte, die ein Selbstmörder geschluckt hatte.
»Was heißt geborgt?«, hakte Josefine nach.
»Sch«, flüsterte Arne und zwinkerte ihr zu. »Sir Henry würde ausrasten, wenn er wüsste …«
Josefine nickte wissend.
»Wir haben die Rechner höchstens ein paar Stunden geborgt, also die, die mit dem Scanner verbunden sind … So spät kommen ja selten Kunden rein«, sagte er und rieb sich mit dem Finger über den Nasenrücken. Er lächelte verschwörerisch. »Das machen wir hin und wieder, wenn wir ein paar extra Pferdestärken brauchen …«
»Ich will gar nicht mehr wissen!«, sagte Josefine.
Sie wollte sich nicht vorstellen, was Henry sagen würde, wenn er herausbekam, was hier nachts in seinem Keller vor sich ging. So friedlich er im Allgemeinen war, wusste sie, dass er explodieren würde, wenn er von den heimlichen Aktivitäten erführe.
»Willst du meinen neuen dreiarmigen Kronleuchter sehen?«, fragte Arne. Aus seinem Mund klang es wie ein unmoralisches Angebot. »Ein ganz seltenes Stück mit Schirmen aus gelbem Mattglas mit weißen Unterseiten, drei Unterschirmen aus einlagigem Opalglas … und einem Baldachin aus gebräuntem Messing. Und er ist höhenverstellbar. Leider ist am oberen Schirm ein Stück abgesplittert. Mohammed hat aber schon Ersatz im Netz gefunden«, fügte er mit hörbarer Erleichterung hinzu.
Er zeigte ihr eine Bildserie auf seinem iPhone mit dem gleichen Enthusiasmus, als ginge es um sein neugeborenes Enkelkind.
»Schick«, sagte Josefine und sah überrascht, dass Arne rot wurde. »Schauen wir uns jetzt die Bildsequenz an?«
Arne nickte.
»Ihr lasst euch nicht erwischen, okay?«
»Ganz ruhig. Mohammed und Jordan haben das im Griff. Das merkt keiner.«
Josefine hatte nicht gewusst, dass Jordan auch zu der geheimen Liga gehörte, aber irgendwie überraschte sie das nicht. Sie konnte sich die drei lebhaft vorstellen, wie sie bei Nacht und Nebel in geheimer Mission durch den Keller der Rechtsmedizin schlichen.
Arne tippte etwas auf der Tastatur und drehte dann den Bildschirm so, dass Josefine besser sehen konnte.
Sie erkannte die Lichtpunkte von dem Überwachungsfilm wieder. Arne spielte die Sequenz mehrmals in Slow Motion ab. Josefine starrte konzentriert auf die Bilder und versuchte, sich die charakteristischen Merkmale des Bewegungsablaufes einzuprägen. Der Gedanke, der gerade in ihrem Kopf Form anzunehmen begann, wurde zerschossen, als eine Falsettstimme durch das Büro gellte.
Keiner von ihnen hatte die Eiskönigin
kommen hören.
»Wieso nimmt keiner das Telefon ab?«, fragte sie anklagend und stemmte die Hände in die Seiten ihres figurbetonenden Kittels. Ihre Augen funkelten. Selbst in wütendem Zustand sah sie umwerfend aus, aber sie verströmte etwas Bedrohliches. »Ich werde ständig aus dem PACS-System geworfen, und Muhammed hat offensichtlich sein Handy ausgeschaltet!«
»Er heißt Mohammed …«
»Whatever«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich muss ins Bildarchiv, und das so schnell wie möglich. Die IT-Abteilung ist eine Serviceabteilung und kein Sozialamt!«
Mohammed materialisierte sich im Türrahmen, und Arne schickte ihm einen warnenden Blick.
»Mohammed geht mit Ihnen«, murmelte Arne.
Die Eiskönigin
schritt aus dem Raum und hinterließ eine kühle Brise teuren Parfums.
»Wenn sie ihn noch einmal Muhammed nennt …«, sagte Arne leise und mit vor Wut funkelnden Augen.