Kapitel 37
Josefine zog den Kittel über den Kashmir-Rollkragenpullover. Ihre Kollegen hatten längst Feierabend gemacht, und sie war allein in der kühlen Stille des Labors, die nur durch ein hochfrequentes Summen der Neonröhre unterbrochen wurde, die zwischendurch flackerte und immer wieder aussetzte. Sie war bei der Katalogisierung der irdischen Überreste der neueren Gräber auf dem Assistens Kirkegård bis zu dem Kinderskelett aus der Grabstätte mit der schwarzen Marmorsäule vorgedrungen.
Sie seufzte, zog die Handschuhe aus und starrte auf die dunklen Knochen. Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Der Junge vor ihr war genauso alt geworden wie ihr Bruder. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihr Blick war einen kurzen Moment durch einen Tränenschleier getrübt. Sie strich sich übers Kreuz und spürte den Nachhall eines Schmerzes, während ihre Gedanken in die Vergangenheit wanderten. Zu dem Chlorgeruch in der Klinik. Diesem schwindelerregenden Gefühl der Ohnmacht und Schuld. Zu den ausweichenden Blicken. Der Tod hatte Einzug gehalten, das war in die Gesichter der Klinikangestellten gemeißelt gewesen, auch wenn sie ihr Bestes getan hatten, das zu verbergen. All das Leid für nichts.
Josefine atmete tief ein und versuchte, sich zu sammeln. Die leeren Augenhöhlen des Schädels starrten sie an, und es durchrieselte sie kalt. Sie deckte die Knochen mit Luftpolsterfolie ab.
Die Neonröhre begann wieder zu sirren und zu blinken wie ein Morsealphabet. Es war ein flirrender Laut, ein bisschen wie ein Insekt. Kurz danach ging das Licht ganz aus.
Die Dunkelheit, die sie umhüllte, war so massiv, dass sie sich für einen Augenblick blind fühlte.
Josefine fröstelte und hoffte inständig, dass die elektronischen Schlösser nicht blockierten, wie sie es schon einmal erlebt hatte. Sie fühlte kein gesteigertes Bedürfnis, die Nacht in einem dunklen, engen Labor ohne Fenster zu verbringen.
Josefine bewegte sich vorsichtig auf die Stelle zu, wo sie die Tür vermutete. Sie legte die Hand auf die Klinke und spürte eine nahezu körperliche Erleichterung, als die Tür sich öffnen ließ, obgleich der dunkle Korridor auch nicht viel erhebender war. Langsam und mit steifen Schritten ging sie auf die wenigen Lichtflecken zu, die die Fenster von der Straßenbeleuchtung durchließen.
Am Ende des Korridors blieb sie stehen. Sie befand sich vor Henrys großem Eckbüro und erkannte ihre eigene Silhouette in der Glasfassade, ehe sie im grünen Schein einer Notausgangslampe auf den Aufzug zusteuerte. Sie drückte den Knopf und hörte, wie sich der Fahrstuhl irgendwo unter ihr in Bewegung setzte. Dann war der Stromausfall offensichtlich lokal begrenzt, dachte sie.
Gleich darauf glitten die Türen geräuschlos auf, und sie trat in die Kabine, geblendet von dem grellen Licht. Die Türen brauchten eine halbe Ewigkeit, bis sie zugingen, und dann dauerte es noch eine Weile, bis der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte. Nach unten. Sie hatte versehentlich K für Keller gedrückt. Fluchend tippte sie mehrmals auf E, aber die Abwärtsfahrt in die Kellerregionen ging unverdrossen weiter.
Ein kurzer Ruck verkündete das Erreichen der Endstation. Die Türen glitten erneut auf. Sie drückte energisch die E-Taste und wartete, dass es wieder nach oben ging.
Aus dem schummerigen Halbdunkel im Keller stieg ihr der beißende Geruch nach Desinfektionsmitteln in die Nase. Gegenüber vom Fahrstuhl war ein Kühlraum, in dem die Leichen verwahrt wurden – eine Art Warteraum zwischen Obduktion und Friedhof, kaltes Niemandsland auf dem Weg ins Nichts. Die Bezeichnung »Gottes Apothekerschrank« stammte noch aus den Zeiten, als die Leichen in separaten Kühlboxen lagen, die aussahen wie überdimensionale Stahlschubladen. Inzwischen wurden die Toten nach einem umfassenden Umbau auf Bahren in einem großen Kühlraum geparkt.
Nach einer neuerlich gefühlten halben Ewigkeit glitten die Türen zu, gerade als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Sie öffnete die Türen wieder, und die Dunkelheit sickerte in die Kabine wie schwarze kalte Luft.
Jetzt hörte sie die Stimme ganz deutlich ihren Namen rufen.
»Josefine …«
»Arne, bist du das?«, rief sie und trat einen Schritt aus dem Fahrstuhl heraus.
Was er um diese Zeit im Keller machte, war ihr schleierhaft, aber ihr war ja gerade erst demonstriert worden, dass nachts in der Rechtsmedizin Dinge vor sich gingen, die kein Tageslicht vertrugen. Josefine tastete nach einem Lichtschalter und wurde nach einer Weile fündig. Sie drückte alle, ohne dass sich etwas tat. Sie setzte sich in die Richtung in Bewegung, aus der die Stimme ihrer Meinung nach gekommen war.
Das schrille Quietschen ihrer Gummistiefelsohlen auf dem Linoleum hallte durch den langen Gang. Sie hatte den Blick auf den Boden gerichtet, wo auf dem glänzenden Belag normalerweise deutlich gelbe Streifen zu erkennen waren, die in der Dunkelheit aber nur graue Schatten ihrer selbst waren.
Josefine befand sich nun im Herzen des »Maschinenraums des Todes«. Ihr schoss durch den Kopf, dass, wenn ihr jetzt etwas zustoßen sollte, Henry garantiert herausfinden würde, was passiert war.
Das war ein beruhigender Trost in der Finsternis und die Erkenntnis, wie viel Henry ihr eigentlich bedeutete. Er war so viel mehr als ein verdammt guter Chef, fast eine Art Vaterfigur.
Sie selbst wurde immer mehr zur Mutter für ihren Vater.
Sie zuckte zusammen, als sie am Ende des Ganges eine große, reglos dastehende Gestalt sah.
»Arne, verflucht noch mal, du kannst mich doch nicht so zu Tode erschrecken …«
Es kam keine Antwort. Der Gedanke, dass das womöglich gar nicht Arne war, veranlasste sie stehen zu bleiben. In dem Moment ertönte dicht hinter ihr eine Stimme. Sie fuhr herum.
»Josefine?«
Sie erkannte den Hünen Jordan. Das Weiße seiner Augen blitzte kurz auf, bevor er eine Taschenlampe anknipste, deren Lichtkegel sich durch das dunkle Universum schnitt.
»Was um alles in der Welt machst du so spät hier unten?«
Ihre Stimme zitterte leicht und wurde von den gekachelten Wänden zurückgeworfen.
»Ich bin bei der Arbeit … versuche rauszufinden, was hier passiert ist. Scheint ein Kurzschluss irgendwo zu sein, weil nur stellenweise der Strom ausgefallen ist. Auf dem Klinikparkplatz brennt Licht, und der Fahrstuhl funktioniert. Hoffen wir mal, dass wir den Fehler schnell finden und es zu keiner Kettenreaktion kommt …«
In dem Augenblick brach ein ohrenbetäubender Alarm los.
»Das kommt aus dem Kühlraum«, stellte er fest.
»Wie kommst du darauf?«
»Der Alarm geht los, sobald die Temperatur über drei Grad ansteigt. Ich habe schon ein paar Techniker bestellt, aber viel zu spät. Das wird ein Vermögen kosten. In unserem System steckt gerade echt der Wurm drin.«
»Ich glaube, ich habe gerade Arne gesehen …«
»Das kann nicht sein.«
»Doch, am Ende des Ganges …«
»Bist du sicher?«
Sie nickte, bekam aber Zweifel. Die Dunkelheit war wirklich kompakt wie eine Wand.
»Arne hat Urlaub genommen. Er wollte auf einen Flohmarkt nach Jütland. Du weißt ja, dass er ständig auf der Suche nach ausgefallenen Ersatzteilen für seine vermaledeiten Lampen ist.«
»Aber … ich habe jemanden am Ende des Ganges gesehen …«
»Das will ich nicht hoffen«, sagte Jordan. »Weil es in dem Fall nur eine der Leichen aus dem Kühlraum sein kann …«
Er lachte. Josefine schluckte.
»Liebe Josefine, du arbeitest definitiv zu viel. Sieh zu, dass du nach Hause und ins Bett kommst.«
»Wahrscheinlich hast du recht …«
Mit einem festen Griff um die Schultern schob er sie zurück in den Fahrstuhl und drückte den Knopf ins Erdgeschoss. Bevor die Türen zuglitten, sagte er noch:
»Ich drehe noch eine Runde, sicherheitshalber. Schlaf gut, Schatz.«