Kapitel 39
Charlotte Scavenius’ Hände waren schwielig wie die eines Arbeiters, die Fingernägel dick und rissig. Auf der Silbermünze, die Josefine unter ihrem Kühlschrank gefunden hatte, waren keine Fingerabdrücke gewesen. Xander hatte sofort die Techniker darangesetzt, sie zu untersuchen. Josefine hatte ihrerseits vorgeschlagen, Charlotte Scavenius für eine Begutachtung der Münze heranzuziehen, da sie eine Zeit lang in der Königlichen Münz- und Medaillensammlung angestellt gewesen war und als große Expertin in diesem Bereich galt.
Die Münze schimmerte im Licht der Architektenlampe, deren Schirm die Kollegin zu sich gedreht hatte. Wegen des Gewichtes und des dunkel angelaufenen Metalls war Josefine sicher, dass es sich um Silber handelte.
Sie waren im Arbeitscontainer auf dem Assistens Kirkegård.
Charlottes Gesichtsausdruck war konzentriert und ernst.
»Wo hast du sie gefunden?«
»Unter meinem Kühlschrank«, antwortete Josefine.
»Hm, das ist schon sehr, sehr merkwürdig«, murmelte Charlotte. »Kunstvolle Silberarbeit, übrigens«, fuhr sie fort. »Ausgewogene Harmonie von Motiv und Inskription. Es tut mir leid, aber die wirst du wohl als in Dänemark gefundenen archäologischen Gegenstand abgeben müssen …«
»Meinetwegen, ich hatte nicht vor, sie zu behalten.«
»Ich habe schon einige solcher Münzen gesehen«, sagte Charlotte und setzte die Lesebrille ab. »Vor ungefähr zehn Jahren hat mich der Vorsitzende des Gemeindekirchenrats der Kirche Unserer Lieben Frau wegen eines beunruhigenden Fundes kontaktiert. Ich musste unterschreiben, dass ich nicht damit an die Öffentlichkeit gehe.«
»Womit?«
»Sie waren dabei, die Kirche für die Hochzeit des Kronprinzenpaares vorzubereiten … Es herrschte nahezu hysterische Vorfreude auf das große Ereignis. Alles stand kopf. Als die Fernsehteams und sonstigen Medien ihren Gerätefuhrpark aufbauten, stellte sich heraus, dass Thorvaldsens wunderschöner Taufengel neben dem Altar im Weg stand. Du weißt schon, der Engel mit der Muschelschale, die als Taufbecken genutzt wird. Ein paar Kamerafuzzies meinten, die Statue würde die Sicht blockieren. Ich vermute, dass das Königshaus außerdem befürchtete, die lange Schleppe der Braut könne mit dem Engel ins Gehege kommen. Der Gemeinderat hat widerspruchslos zugestimmt, die Figur zu verschieben. Beim Umsetzen hat dann einer der Arbeiter eine Münze gefunden. Und nicht irgendeine Münze, sondern eine Satansmünze. Genau wie diese hier. Unter die Statue geschoben. Es wurde spekuliert, ob derjenige, der die Münze dort deponiert hatte, möglicherweise die Taufe in dem Taufbecken ungültig machen oder eine Form von schwarzer Theologie ausführen wollte. Eine zweite und vielleicht naheliegendere Theorie war, dass jemand die bevorstehende königliche Hochzeit mit einem Fluch belegen wolle. Ich kann gut nachvollziehen, dass sie den Fund unter Verschluss gehalten haben. Stell dir nur mal vor, wie die Medien das ausgeschlachtet hätten.«
»Gehörig, kann ich mir denken«, räumte Josefine ein.
»Der Gemeinderatsvorsitzende war beunruhigt, weil es nicht das erste Mal war, dass in der Domkirche Münzen mit okkulten Gravuren gefunden worden waren. Bei einer Instandsetzung des Bodens 1995 wurde eine größere Anzahl Satansmünzen entdeckt, was vorsorglich unter den Teppich gekehrt wurde. Das Motiv auf den Münzen war ein Teufelskopf im Profil, mit Hörnern an der Stirn, eben genau so, wie man ihn sich traditionell vorstellt. Im Zusammenhang mit der Restaurierung alter Kirchen wurden überall im Land solche Münzen gefunden.«
»Weiß man, wer sie verteilt hat?«
Charlotte sah Josefine an.
»Ich glaube, sie hatten einen Sonderling im Verdacht, einen Münzsammler, meine ich mich zu erinnern. Den Namen habe ich vergessen. Bemerkenswert war die Menge der Münzen, fast vierhundert. Und sie wurden in verschiedenen Kirchen im ganzen Land gefunden. Darum ging man von mehreren Tätern aus – möglicherweise Mitglieder eines Kultes oder einer Freimaurerloge. Die Münzen waren jedenfalls sehr professionell und kunstvoll ausgeführt.«
»Aber was war das Motiv, die Münzen im ganzen Land zu verteilen?«
»Es ist eine historische Tradition, Münzen als Träger des Bösen einzusetzen. Man kann es Aberglauben nennen oder Hexerei. In früheren Zeiten glaubte man, mit Hilfe einer Münze das Böse heraufbeschwören zu können. Hatte man Geschwüre, strich man eine Münze über das entzündete Gewebe und sorgte dafür, dass der Mensch, dem man Böses wünschte, diese Münze bekam. Heute weiß man, dass Bakterien auf allen möglichen Oberflächen Krankheiten übertragen, aber dieses Wissen hatte man damals nicht. Darum glaubte man an Hexenwerk, wenn das Opfer an der gleichen Krankheit wie man selbst erkrankte.« Charlotte machte eine Pause. »Es kursierten damals einige an hochrangige Persönlichkeiten des kulturellen Betriebes adressierte Briefe, die sich auf die Satansmünzen bezogen, und soweit ich mich erinnere, haben die Zeitungen auch ein paar Leserbriefe gedruckt. Manche hielten es für einen bösartigen Scherz, andere waren ernsthaft aufgeschreckt.«
»Als Scherz würde ich das auch nicht gerade bezeichnen«, meinte Josefine.
»Na, wenn schon, dann zumindest von der gröberen Sorte«, stimmte Charlotte ihr zu. »Auffallend war, dass all diese deponierten Teufelsmünzen so gut versteckt waren, dass man sie unter normalen Umständen vermutlich niemals gefunden hätte. Und was ist heiliger als ein Taufbecken?«
Das war nicht nur böse, sondern geradezu abstoßend, dachte Josefine.
»Bis jetzt wurden, soweit mir bekannt, noch nie Münzen in Privatwohnungen entdeckt«, sagte Charlotte und sah Josefine an. »Was glaubst du, wie lange sie schon dort liegt?«
»Keine Ahnung«, sagte Josefine nachdenklich. »Als ich das letzte Mal bei einer Putzattacke den Kühlschrank von der Wand abgerückt habe, um den Boden darunter zu wischen, lag sie jedenfalls noch nicht da, das wäre mir aufgefallen.«
Bei dem Gedanken durchrieselte es sie kalt.
Josefine zuckte zusammen, als das Telefon auf ihrem Tisch klingelte. Sie erkannte die Nummer der Heimpflege der Kopenhagener Stadtverwaltung, und wie jedes Mal wurde sie nervös. Wenn ihrem Vater nur nichts passiert war. Ihr war gar nicht wohl, dass er allein in dem großen Haus lebte, obgleich er nach dem neuen Mantra des Selbstversorgungsprinzips durch die Heimpflege maximal versorgt war. Der Begriff Alltagsrehabilitation war offenbar ein weiteres neues Tier in der Offenbarung, und die Broschüre mit dem Titel Deine kompetenten Eltern zeigte Bilderbuchexemplare selbstständiger Eltern, die alle möglichen technischen Geräte bedienten, von der Mikrowelle bis zum Saugroboter.
Sie hoffte, dass es Whinston war, der anrief. Er kam von der Elfenbeinküste und hatte in den Jahren, seit er hier war, ein beeindruckendes Dänisch gelernt. Er las ihrem Vater gerne aus der Zeitung vor oder wechselte eine Glühbirne, auch wenn das streng genommen nicht zu den eng definierten Aufgaben eines Heimpflegers gehörte. Josefine hatte ihn außerdem im Verdacht, rezeptpflichtige Medikamente für ihren Vater zu besorgen, die der sich selbst ausstellte, was beide vehement abstritten. Interessanterweise waren alle Rezeptblöcke spurlos verschwunden. Ein paar Exemplare, die aus der Zeit ihres Vaters als praktizierender Arzt überlebt hatten, hatte sie konfisziert, trotzdem tauchten immer mal wieder Pillen auf, die definitiv nicht von seinen Ärzten verschrieben worden waren.
Whinston scherte sich nicht um die Registrierungstyrannei, die inzwischen auch in der Heimpflege Einzug gehalten hatte und die Aufgabenbereiche so eng kalkulierte, dass absolut keine Zeit mehr für soziales Miteinander blieb. Er arbeitete in einem Tempo, das besser in wärmere Breitengrade passte.
Leider war es nicht Whinston, der anrief, sondern Sonja, die die besondere Begabung besaß, Josefine ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Es gibt schon wieder keine Sicherungen mehr«, sagte sie. »Sie sollten wirklich mal einen Elektriker die Leitungen überprüfen lassen, fast jeden zweiten Tag fällt der Strom aus …«
»Okay, ich probiere, heute noch vorbeizukommen.«
»Es ist Aufgabe der Angehörigen, dafür zu sorgen, dass alles funktioniert«, belehrte Sonja sie. »Vergessen Sie nicht, dass dies unser Arbeitsplatz ist und wir nicht dafür zuständig sind, Sie darauf aufmerksam zu machen. Um solche Sachen müssen Sie sich schon selbst kümmern …«
»Das weiß ich sehr wohl«, parierte Josefine. »Ich gehe durchs Haus und schaue, ob noch irgendwo was fehlt.«
»Und dann wollte ich Ihnen noch sagen, dass Ihr Vater sich weiterhin weigert, die Mikrowelle zu benutzen. Wenn Sie das bitte noch mal mit ihm besprechen. Ich habe das Gefühl, dass er das mit dem Selbsthilfeprinzip noch nicht ganz verstanden hat. Wenn das nicht bald besser wird, muss ich eine Überprüfung veranlassen …«
»Werde ich. Wie geht es ihm heute?«
»Sehr gut. Ach übrigens, Sie sollten den großen blanken Schrank im Wohnzimmer umstellen …«
»Die Anrichte?«
»Ja, den großen blanken Schrank«, beharrte Sonja. »Da kommt man nur schwer mit dem Rollator vorbei … Überhaupt sollten wir mal einen Physiotherapeuten kommen lassen und schauen, was überhaupt noch im Wohnzimmer bleiben kann. Ich merke langsam meinen Rücken …«
Josefine schloss im Stillen Wetten ab, wann Sonjas Krankschreibung folgen würde. Sie konnte die Pflegerin zwar nicht sonderlich leiden, aber es war immer schwieriger mit Vertretungen, auch wenn sie ihr Bestes gaben. Josefines Vater wurde immer unruhig bei neuen Gesichtern.
»Ich werde es mir ansehen«, versprach Josefine und zwang sich zu einem »Danke für den Anruf, und dem Rücken gute Besserung, Sonja«.
»Ja, mal sehen …«
Josefine schleppte die Einkaufstüten über den langen zugewucherten Steinweg, der zum Haus ihres Vaters führte. Die Platten waren völlig windschief und ragten verräterisch hoch, doch sie kannte die tückischen Stellen und sah sich vor, nicht zu stolpern. Vor der Haustür holte sie ein paar Mal tief Luft, ehe sie aufschloss. Whinstons weiße Zähne strahlten ihr aus dem dunklen Eingangsflur entgegen. Er wollte gerade den Müll nach draußen bringen.
»Ihr Vater hat mich grad niederschmetternd im Schach geschlagen«, sagte er, als er sich an ihr vorbeischob.
»Sie werden es überleben«, sagte Josefine lächelnd und freute sich im Stillen, dass Whinston den Intellekt ihres Vaters erkannte, der durch die beginnende Demenz immer mehr Schlagseite bekam. Aber in Allgemeinwissen und Schach glänzte er nach wie vor.
»Er amüsiert sich königlich und lässt es sich gut gehen. Wir haben um Bier gespielt, und er ist inzwischen beim zweiten.«
Whinston sorgte für die Bierversorgung ihres Vaters und ignorierte die erhobenen Zeigefinger der anderen Pflegekräfte, weil er meinte, dass man sich jenseits der fünfundachtzig ruhig solche kleinen Freuden gönnen durfte.
»Er sagt, dass er sich auf einen roten Wahlsieg vorbereiten muss.«
»Typisch«, sagte Josefine und nahm die Tüten wieder auf. Sie befürchtete, dass ihr Vater einen Herzstillstand bekam, wenn die Sozialdemokraten gewannen, und dachte bei sich, dass Whinstons prophylaktische Kur vermutlich sehr viel wirksamer war als all die Medikamente, mit denen sie ihn vollstopften.
Josefine begrüßte ihren Vater, der sehr zufrieden mit seinem Sieg zu sein schien.
»Da hat er seine Lektion gehabt!«
Ihr Vater leerte die Flasche, Josefine brachte sie in die Küche und begann aufzuräumen. Sie stellte die Geschirrspülmaschine an, suchte die Sicherungen heraus, ging in den Flur und öffnete die Kellertür. Vorsichtig stieg sie die steile Treppe hinunter, deren dunkles Holz mit einer dünnen Staubschicht von den weiß gekalkten Wänden überzogen war. Die Stufen knackten protestierend unter ihrem Gewicht. Josefine passierte einen Vorratsraum mit Fliegengittern vor den Fenstern, alten leeren Weckgläsern und ein paar Konserven, lauter Sachen, die ohne Verlust entsorgt werden konnten. Aber ihr Vater weigerte sich, irgendetwas wegzuschmeißen. Sie hatte es längst aufgegeben, darüber mit ihm zu diskutieren.
Josefine steuerte auf den antiquierten Stromkasten zu und legte die Sicherungen auf ein schmales Bord. Sie hatte fünf Packungen gekauft, damit es so schnell nicht wieder zu Engpässen kam. Eine der Pflegekräfte musste hier unten gewesen sein, weil auf dem Glas des Sicherungskastens kein Staub lag.
Es knirschte unter ihren Sohlen, als sie zurückging, und sie nahm sich vor, das nächste Mal ihren eigenen Miele-Staubsauger mitzubringen, um dem Dreck den Garaus zu machen. Der lahme Saugroboter würde sich daran nur verschlucken.
Als Nächstes nahm Josefine sich das Wohnzimmer vor und verrückte die Anrichte mit Mühe ein Stück.
Ungefähr eine Stunde später hörte sie die Haustür gehen. Eine Frau, die sie nicht kannte, betrat das Wohnzimmer. Sie stellte sich als Danielle vor. Sie war groß, schlank und gut aussehend, und Josefine wunderte sich über die hochhackigen, eleganten Stiefel. Das war also die Pflegerin mit den Katzenaugen und dem beachtlichen Hinterteil. Sie fühlte sich schnell überflüssig und saß kurz darauf in ihrem Auto, das nur widerstrebend und mit einem asthmatischen Röcheln ansprang.
*
Zu Hause angekommen ging sie direkt ins Bett und schlief auf der Stelle ein.
Irgendwann in der Nacht wurde sie vom Klingeln ihres Telefons geweckt. Ihr Herzschlag pochte im Hals, und er pochte noch heftiger, als sich herausstellte, dass die Polizei am Apparat war. Eine Frauenstimme erklärte ihr, dass im Haus ihres Vaters ein schlimmes Unglück geschehen wäre. Es dauerte weitere Sekunden, bis Josefine begriff, dass nicht ihrem Vater etwas passiert war, sondern der Abendpflege, die die Kellertreppe hinuntergestürzt und an den Folgen des Sturzes gestorben war.
Josefine massierte sich das Gesicht, um wach zu werden, und lag noch eine Weile auf dem Rücken, um sich zu sammeln, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie spürte das Knacken der Kellertreppe noch unter den Fußsohlen, und ihr war peinlich bewusst, wie schnell man dort ins Stolpern geraten konnte. Es brauchte nur einen winzigen unaufmerksamen Augenblick.
Sie zog sich etwas über, setzte sich in ihren Wagen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Ein rachitisches Husten ertönte und verebbte mit einem leisen Seufzer. Josefine schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad und ließ eine Fluchtirade los. Das Echo ging ins Leere.
An Hinweisen, dass das irgendwann passieren würde, hatte es nicht gemangelt, im Gegenteil. Die Schrottlaube war ein dahinsiechender Patient, das hatten sie ihr in der Werkstatt klipp und klar gesagt, trotz der immer wieder lebensverlängernden Reparaturen mit den proportional zum Alter des Autos steigenden Rechnungen. Ihr Volvo 740 Kombi von Mitte der Achtziger Jahre alterte ohne jeden Veteranen-Charme. Sie behielt ihn aus rein sentimentalen Gründen, weil er ihrem Vater gehört hatte.
Der Arzt ihres Vaters hatte schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass er über die starke Sehschwäche hinaus auch erste Anzeichen einer beginnenden Demenz zeige. Er musste sofort den Führerschein abgeben. Der Uhren-Test hatte ihn verraten, bei dem man eine genannte Uhrzeit mit Hilfe der Zeiger auf ein Ziffernblatt einzeichnen sollte. Das erinnerte ein bisschen an die Geschicklichkeitsaufgaben in der Grundschule. Josefine hatte lange an der Richtigkeit des Testes gezweifelt, da ihr Vater ein unübertreffliches Geschick zur Kompensation besaß. Wenn ihm ein Wort nicht einfiel, hatte er immer schnell ein Synonym parat, das er aus seinem unerschöpflichen Vokabular abfeuerte.
Josefine stieg wieder aus dem Wagen, knallte die Tür zu und ging Richtung Gammel Kongevej, wo sie ein Taxi nahm.
Das Aufgebot an Einsatzfahrzeugen vor ihrem Elternhaus kam ihr irgendwie unwirklich vor. Der dunkelblaue Kastenwagen der Techniker hielt mit den Einsatzfahrzeugen der Polizei und einem Krankenwagen vor dem Gartentor. Josefine grüßte ein paar Techniker, die sie von früheren Fällen kannte, und ihr wurden ein Einwegoverall, Schuhüberzieher und Mundschutz ausgehändigt. Sie lief über den Steinplattenweg zum Eingang und betrat den Flur, wo kräftige Scheinwerfer aufgebaut worden waren.
Sie sprach kurz mit dem Einsatzleiter, der unmittelbar nach seiner Ankunft ihren Vater geweckt und ihn gefragt hatte, ob er etwas Verdächtiges gehört oder gesehen habe, aber glücklicherweise schien er das gesamte Spektakel verschlafen zu haben.
Josefine lief durch den Flur und klopfte an die Schlafzimmertür ihres Vaters. Es kam keine Antwort. Sie drückte die Klinke herunter und betrat das Schlafzimmer, in dem eine schwache Lampe brannte. Sie erkannte das charakteristische Profil ihres Vaters und rief leise seinen Namen, sah dann aber, dass sein Hörgerät auf dem Nachtschrank lag. Hoffentlich stimmte es, dass er nichts von dem Unfall mitbekommen hatte. Er sah friedlich aus, sein Atem ging gleichmäßig. Josefine überlegte kurz, ob sie ihn wecken sollte, schob den Gedanken aber beiseite und küsste ihn stattdessen vorsichtig auf die Wange, ehe sie das Zimmer wieder verließ und die Tür hinter sich schloss. Je näher sie der Kellertür kam, desto lauter wurden die Stimmen und greller das Licht. Als sie die Sägeblattstimme der Eiskönigin erkannte, spürte sie einen Stich der Irritation. Sie ertrug die selbstzufriedene Art der Kollegin einfach nicht, schon gar nicht im Heim ihres Vaters.
Die Eiskönigin begrüßte sie mit einem verbissenen Lächeln. Selbst um zwei Uhr nachts saß ihr Haar tadellos, und das Rouge betonte ihre Apfelwangen. Ihre Augen funkelten unter mascaraschweren Wimpern. Neben ihr stand ein junger Mann, den Josefine noch nie gesehen hatte, doch ihre Aufmerksamkeit wurde auf eine Person am Fuß der Treppe gelenkt.
»Bitte nur die Holzplatten betreten«, kam es ermahnend von der Eiskönigin .
Sie ging vorsichtig die Stufen hinunter zu der Stelle, an der die Verunglückte in unnatürlich verdrehter Haltung lag. Aus der Position des Kopfes ließ sich schließen, dass beim Aufprall auf den harten Kellerboden mehrere Halswirbel gebrochen und die Nervenverbindungen im Rückenmark durchtrennt worden waren. Ein schmales Rinnsal Blut hatte sich seinen Weg aus dem Ohr über die Wange gesucht, ansonsten sah die Frau beunruhigend lebendig aus, wie sie dort lag und an die Decke starrte. Der Glanz der Augen war noch nicht verloschen. Wahrscheinlich ist es gerade erst passiert, dachte Josefine. Das Namensschild an ihrer Brusttasche verriet, dass sie Alice hieß, gefolgt von einem Smiley, was in dieser Situation irgendwie unpassend wirkte. Josefine kannte die Pflegerin nicht, da es selten vorkam, dass sie ihren Vater so spät noch besuchte.
»Ein Mitbürger … der nächste Patient auf ihrer Liste hat in der Zentrale angerufen und gefragt, warum sie nicht komme. Als die sie telefonisch nicht erreichten, waren sie sicher, dass etwas nicht stimmte, und haben den Nachtnotdienst angerufen, die dann einen Pfleger zu William Jespersens Haus geschickt haben. Der Pfleger hat die Tote gefunden und sofort die Polizei verständigt.« Die Eiskönigin wischte sich mit dem Ärmel über die Wange und fuhr fort. »Das war zweifellos ein Unfall … kein Verdacht auf Fremdeinwirkung. Ein Wunder, dass es nicht schon eher passiert ist, die Treppe ist wirklich lebensgefährlich!«
Der Tonfall war anklagend.
»Haben Sie André schon kennengelernt?«
»Hi«, sagte Josefine.
»André ist mein neuer Postdoc«, sagte die Kollegin lächelnd. »Er soll mich entlasten, damit ich ein paar Artikel fertig schreiben kann. Er kommt aus dem Hôpital Raymond-Poincaré in Paris …«
André musterte sie uninteressiert, was Josefine auf ihre Schlaffrisur und ihre verquollenen Augen schob.
»Ich bin hier fast fertig. Henry ist krank, darum werde ich morgen früh die Obduktion im Institut übernehmen.«
»Da wäre ich gerne dabei«, sagte Josefine.
Die Eiskönigin musterte sie kühl von oben bis unten.
»Okay, in Ordnung … Schaden kann es nicht«, stellte sie fest. »Wir beginnen um neun null null.«
Sie war berüchtigt für ihre Wutanfälle, wenn ihre Mitarbeiter auch nur eine Minute zu spät kamen. Als ob die Toten es eilig hätten.
Die Eiskönigin begann, ihre Sachen zusammenzupacken, und auch die Techniker schienen alles gesichert zu haben, was sie brauchten.
*
Josefine hatte Kopfschmerzen vor Müdigkeit, als sie am nächsten Tag bei der Arbeit aufschlug. Vorher hatte sie noch bei der Werkstatt angerufen und veranlasst, dass die Rostlaube abgeholt und ihr ein weißer Fiat mit schwarzem Verdeck als Leihwagen gebracht wurde. Das sportliche Auto duftete erfrischend neu und reagierte prompt auf jede noch so kleine Bewegung des Lenkrads, was ihr das Spiel in der Lenkung ihres eigenen Wagens im Rückblick erschreckend vor Augen führte. Sie zog kurz in Erwägung, den benzinfressenden Volvo zu verschrotten und in ein wendiges wirtschaftliches Mikroauto zu investieren, in dem sie mit einem Liter mindestens doppelt so weit kam.
Auf dem Weg zur Arbeit war sie noch bei ihrem Vater vorbeigefahren, um sich zu versichern, dass es ihm gut ging. Der Vorfall schien ihn nicht zu berühren, und sie dachte im Stillen, dass es seltene Momente gab, in denen Demenz von Vorteil sein konnte.
Sie zog sich um und begab sich in den Sektionssaal in dem Bewusstsein, dass sie zu spät war.
Die Eiskönigin sah selbst mit der unkleidsamen Schutzmaske, die die untere Gesichtshälfte bedeckte, und der Papierhaube, die sie zu ihrem Vorteil drapiert hatte, aus wie frisch aus dem Schönheitssalon. Auch ihrem Assistenten war nicht anzusehen, dass er die halbe Nacht auf den Beinen gewesen war, und Josefine musste erkennen, dass das Leben manche Menschen offenbar härter in Mitleidenschaft zog als andere.
»Ich dachte, ich hätte unmissverständlich gesagt, dass wir Punkt neun Uhr anfangen?«
Josefine nickte und begrüßte eine Polizistin, die in einer Ecke des Raumes stand und interessiert zusah, wie der französische Postdoc der Eiskönigin folgte wie ein Schatten.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren, immerhin ging es hier um die Tote und nicht ihre eigenen Befindlichkeiten.
»Wo sind die Bilder aus dem Scan?«, fragte sie.
»Es wurden keine Bilder gemacht«, antwortete die Eiskönigin .
»Wieso nicht?«, erdreistete Josefine sich zu fragen. »Normalerweise werden doch …«
Die Temperatur im Raum sank merklich.
»Weil ich entschieden habe, dass das nicht notwendig ist … Es handelt sich um einen traurigen Unfall im häuslichen Umfeld …«
Josefine starrte auf ihre weißen Clogs, auf denen mit Edding ihre Initialen standen.
Die Eiskönigin durchbohrte sie mit einem selbstzufriedenen Blick. Die Balance war wiederhergestellt.
Josefine spürte Andrés musternden Blick auf sich. Auch wenn sie ihn nicht kannte, hatte sie das starke Gefühl, dass zwischen ihm und der Eiskönigin ein geheimes Bündnis bestand.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Tote und fotografierte mental alles, was ihr auffiel. Die Leiche war entkleidet, die Haut weiß und bläulich marmoriert. Die übliche Nackenstütze hob ihren Kopf von der polierten Stahlunterlage.
Die Eiskönigin nickte den Anwesenden zu, dass sie beginnen konnten, und von einer Sekunde auf die andere herrschte rege Betriebsamkeit in dem Sektionssaal. Ein Techniker stieg auf eine Leiter und fotografierte die Leiche von oben, während Jordan schweigend, und ohne eine Miene zu verziehen, der Eiskönigin zur Hand ging. Seine Bewegungen waren ruhig und routiniert wie im Energiesparmodus. Er fing Josefines Blick ein und blinzelte kurz, was niemand sonst zu bemerken schien. Sie empfand es als physischen Trost, an diesem kalten Ort des Todes einen Verbündeten zu haben. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie etwas Wichtiges übersahen.
*
Um acht Uhr abends saß Josefine noch immer in ihrem Büro, um ihrem Bericht über die Volksgesundheit vor dem Hintergrund der Analysen des Knochenmaterials vom Assistens Kirkegård den Feinschliff zu geben. Ihr Handy piepste, und sie zuckte zusammen. Es war Jordan, der ihr nur kurz den Tipp geben wollte, in ihr Postfach zu schauen. Sie klickte eine ungelesene Mail an, an die die Scanbilder der zu Tode gestürzten Pflegerin angehängt waren. Josefine lächelte über die Tatsache, dass in der Rechtsmedizin zum Glück nicht alle gleich autoritätshörig waren.
Josefine wurde wieder ernst, als sie ein Foto des Schädels scharf stellte. Es zeigte mit beunruhigender Präzision den potenziellen Albtraum jedes Rechtsmediziners, etwas Entscheidendes übersehen zu haben, das den Wortlaut des Obduktionsberichtes in einem ganz wesentlichen Punkt verändern konnte: ob es sich nämlich um einen tragischen Unfall … oder um Mord handelte. Die Eiskönigin hatte in diesem entscheidenden Punkt offenbar falsch entschieden.
Josefines Ahnung, dass etwas nicht stimmte, hatte sich also als richtig erwiesen. Es durchrieselte sie kalt.
Henry klang heiser. Eine Halsentzündung fesselte ihn ans Bett.
»Bist du wirklich sicher, Josefine? Ich meine … Die Hutkrempenregelung ist umstritten. Was sagt Maria?«
Josefine fasste einen spontanen Entschluss.
»Sie weiß nichts davon. Ich habe nach der Obduktion veranlasst, dass Alice Hansen gescannt wird.«
»Aber warum denn nur?«
»Weil ich das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmt.«
»Hm«, sagte Henry und hustete. »Schick mir die Fotos, damit ich sie mir ansehen kann.«
Josefine beendete das Gespräch und beschloss, nichts zu unternehmen, bevor sie Henrys Meinung zu den Fotos gehört hatte.
Sie fuhr den Computer runter und verließ das Büro.
*
Am nächsten Morgen kam ihr der Rezeptionsbereich des Institutes besonders trostlos vor. Die braunen Kacheln saugten auch noch das wenige Tageslicht auf, das durch die graue Wolkendecke drang.
Josefine drückte auf den Fahrstuhlknopf und wartete. Wie üblich dauerte es eine Ewigkeit, bis die Türen aufglitten. Sie sah sich Jordan gegenüber, dessen Haut in dem hellgrünen Kittel besonders dunkel wirkte. Er lächelte sie wortlos an und fuhr sich mit einer vielsagenden Geste mit seinem enormen Zeigefinger über die Gurgel.
»We’re fucked!«, sagte er. »Sie ist total ausgerastet. Ich an deiner Stelle würde einen Krankentag nehmen.«
»Ich habe Henry gesagt, dass das Scanning auf meinem Mist gewachsen ist. Du hast nur Befehle ausgeführt.«
Jordan nickte zustimmend.
»Ich schmeiße heute Nachmittag eine Runde Bier, kommst du vorbei?«
»Wenn ich den Tag überlebe«, seufzte Josefine.
Jordan legte seine schwere Hand auf ihre Schulter und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln.
»Du bist ein Fighter«, sagte er. »Aber die Frau ist verdammt noch mal scary, wenn sie wütend ist …«
Sie atmete tief ein, ehe sie ihren Dienstausweis durch das Lesegerät zog und ihren Code eingab.
*
Josefine öffnete zögernd die elektronische Einladung, gesendet von André Villaine mit knallroter Flagge, als ginge es um Leben und Tod, und sie hoffte inständig, dass Henry sich von seinem Krankenlager zur Arbeit geschleppt hatte. Sie hatte kein gesteigertes Bedürfnis auf eine Face-to-Face-Begegnung mit der Eiskönigin , wenn die so geladen war.
Mit schweren Schritten schlurfte sie durch den Flur und klopfte. Der elegante Franzose öffnete die Tür ohne den geringsten Anflug eines Lächelns. An einem ellipsenförmigen Tisch, an dem auch Maria thronte, saß ein leichenblasser Henry. Josefine versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, aber er wirkte komplett neutral.
»Was zum Teufel geht hier vor?«, platzte die Eiskönigin heraus.
»Ich hatte das Gefühl, dass wir etwas übersehen haben«, antwortete Josefine und setzte sich auf einen Fritz-Hansen-Ameisen-Stuhl.
»Ein Gefühl?«, wiederholte die Eiskönigin höhnisch. »Come on! Wenn ich klipp und klar sage, dass kein Scanning notwendig ist, finde ich es ehrlich gesagt sehr befremdlich, dass Sie eins anordnen. Dazu haben Sie im Übrigen überhaupt keine Befugnis, nur die Pathologen dürfen ein Scanning beauftragen. Außerdem stellt die Treppe eine dezidierte Lebensgefahr dar und …«
»Hast du dir die Fotos angesehen?«, unterbrach Henry sie und schob eine braune Umlaufmappe zu Maria hinüber, die sie zögernd aufschlug. Darin lagen die Fotos, die Josefine Henry geschickt hatte. Sie erkannte sie an der charakteristischen Fraktur an der Oberseite des Schädels. »Ich muss dich wohl nicht an Hutkrempenregel erinnern, Maria …?«
»Henry, verdammt, die ist total antiquiert … Die neueste Forschung spricht ihr jegliche Signifikanz ab … Außerdem hat André Artikel zu dem Thema verfasst, die in Springer Science publiziert wurden, eine sehr interessante Studie auf einer soliden empirischen Grundlage …«
Henry spielte auf eine sehr simple Regel aus der forensischen Diagnostik an, die besagte, dass bei Schädelverletzungen unterhalb einer gedachten Hutkrempenlinie eher von einem Sturz ausgegangen werden konnte, oberhalb dieser imaginären Linie von Schlägen durch Fremdeinwirkung und somit davon, dass sich möglicherweise ein Mörder auf freiem Fuß befand. Die Hutkrempenregel war eine wichtige Entscheidungshilfe, musste aber immer in Bezug auf die Anzahl und Schwere der Verletzungen betrachtet werden, das Gewicht des Toten, die Körpergröße, weitere Verletzungen oder Brüche und die Menge an Alkohol oder Drogen im Blut. Stürze aus niedrigen Höhen waren eine trügerische Angelegenheit, und die wenigsten Rechtsmediziner waren sich ihrer Sache ganz sicher, wenn sie es mit einer Leiche am Fuß einer Treppe zu tun hatten.
»Ich glaube, Josefine hat recht«, sagte Henry, hustete und schnäuzte sich.
Die Eiskönigin wurde blass.
»Ich würde gerne einen Blick auf die Tote werfen und mir den Bericht noch einmal ansehen, wenn er fertig ist.«
Josefine jubelte innerlich, was sie sich wohlweislich nicht anmerken ließ.
Die Eiskönigin wollte protestieren, sagte dann aber nur:
»Selbstverständlich … wenn du darauf bestehst.«
Die Luft im Raum sackte unter den Nullpunkt, und selbst der sonnengebräunte Franzose wurde ein bisschen blass um die Nase.
Weniger als eine Stunde später waren sie im Sektionssaal versammelt. Jordan hob zu keinem Zeitpunkt den Blick, und Josefine vermutete, dass die Eiskönigin ihn mindestens so einschüchterte wie Arne. Die Totenstarre war auf ihrem Höhepunkt, die Arme waren steif und schwer zu mobilisieren. Es lagen mehrere Brüche infolge des schweren Sturzes vor. Die Fotos vom Schädel waren mit blauen Magneten am Whiteboard befestigt.
Henry untersuchte den Unterarm der Frau. Kurz darauf fixierte er die Eiskönigin mit dem Blick.
»Meiner Meinung nach ist das hier eine Abwehrverletzung. Stimmst du mir zu?«
Sie nickte kaum sichtbar.
»Und was sagst du zu der Schädelfraktur?«
Die Frage war an Josefine gerichtet, die sich räusperte, ehe sie antwortete.
»Hier ist deutlich der Schädelbruch zu erkennen«, sagte sie und kreiste mit dem Finger durch die Luft. »Es handelt sich um eine Impressionsfraktur an einer verdächtigen Stelle, wenn wir uns eine Hutkrempe vorstellen. Ein runder, stumpfer Gegenstand hat den Schädelknochen nach innen gedrückt. Die Fissuren fächern sich vom Zentrum auf wie Fahrradspeichen.«
»Josefine hat recht«, sagte Henry. »Ich schreibe ein neues Fazit für den Bericht.«
Die Eiskönigin riss sich den Mundschutz in einer hitzigen Geste vom Gesicht. Sie hatte sich so fest auf die perfekten fülligen Lippen gebissen, dass ihre Zähne Abdrücke hinterlassen hatten.
»Benachrichtige die Polizei von unserem Verdacht und schick ihnen den korrigierten Obduktionsbericht«, sagte Henry an Josefine gewandt. »Es tut mir übrigens sehr leid, dass das bei deinem Vater passiert ist … sehr unangenehm … Ich bin mir sicher, dass die Polizei den Fall aufklären wird …«
Josefine erstarrte. Der Siegesrausch hatte für einen Augenblick von der Tatsache abgelenkt, dass sich ein Mörder im Haus ihres Vaters befunden hatte.