Kapitel 45
»Lebt sie?«, fragte Xander den Ermittlungsleiter der Polizei Vestegnen, der ihn mit den beunruhigenden Neuigkeiten über Josefine aus dem Schlaf geklingelt hatte.
»Ja, sie ist mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht worden. Vermutlich hat sie den Mörder überrascht. Ein Angestellter der Sicherheitsfirma, die für die Überwachung des Knochendepots zuständig ist, hat erzählt, dass spät am Abend der Alarm losgegangen sei. Da in letzter Zeit mehrere falsche Alarme eingegangen waren, haben sie den verantwortlichen Leiter des Knochendepots kontaktiert, um sich abzusichern, dass sie nicht vergeblich dorthin fuhren. Der Leiter bestätigte, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Der Diensthabende in der Alarmzentrale hatte trotzdem das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, und schickte einen Mann raus zu der Halle, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Als der Wachmann die Halle betrat, hörte er einen Schrei aus dem Lagerraum. Dort fand er den ermordeten Leiter des Knochendepots und die niedergeschlagene Josefine Jespersen. Wenn die Sicherheitsfirma nicht reagiert hätte … sähe es jetzt schwarz aus.«
»Sorgen Sie dafür, dass sie rund um die Uhr bewacht wird!«
Xander rieb sich mit der freien Hand übers Gesicht in dem Versuch, die gnadenlose Erschöpfung wegzuwischen.
Er nahm sich vor, Josefine so schnell wie möglich im Krankenhaus zu besuchen.
Auf der Fahrt holte ihn das frustrierende Gefühl der Ohnmacht gegenüber diesem brutalen Mörder ein, und er zweifelte keine Sekunde daran, dass die Person, die versucht hatte, Josefine zu töten, dieselbe gewesen war, die auch für die anderen Morde verantwortlich war.
Es gab unbehaglich viele Parallelen, allein schon aus der einleitenden Beschreibung des Fundortes. Dem Opfer war mehrfach mit einer stumpfen Waffe auf den Kopf geschlagen worden.
Darüber hinaus hatte der Kollege beschrieben, dass der Täter mit dem Blut des Opfers ein Kreuz an die Betonwand gemalt hatte.
Xander war entsetzlich müde, todmüde. Ihm fiel wieder ein, was Pater Dominic über die Zermürbungstaktik und den permanenten Kampf bis zur totalen Erschöpfung gesagt hatte, und er merkte, dass nicht mehr viel fehlte, bis er in dem Kräftemessen unterlag.
Er war in Rekordzeit im Krankenhaus. In den Korridoren war es still, ihm begegneten unterwegs nur wenige weiß gekleidete Gestalten.
Josefine schlief, als er das Krankenzimmer betrat.
»Hallo, Josefine«, sagte er leise.
Sie öffnete langsam die Augen. Ihr Blick war finster verschleiert.
»Hallo«, murmelte sie schwach und setzte sich im Bett auf.
»Alles okay mit dir?«
»Einigermaßen«, antwortete sie.
Er sah sie an, suchte nach sichtbaren Verletzungen.
»Was hast du denn so spät noch in der Lagerhalle zu suchen gehabt?«
»Ich habe eine SMS von Ejner bekommen, dass er mich noch mal sehen wollte. Ejner war mein Doktorvater. Er wollte mir vor der Konferenz heute noch was Interessantes zeigen … Ich sollte den einleitenden Vortrag über die Untersuchungsergebnisse der Knochenanalysen vom Assistens Kirkegård halten … Aber die Konferenz wird vermutlich abgesagt, jetzt, wo er … tot ist«, sagte sie leise.
»Hast du dich nicht gewundert, dass er dich mitten in der Nacht ins Knochendepot bestellt?«
»Nein, so ist er … ich meine, so war Ejner eben. Für ihn gab es nur seine Arbeit, und über die vergaß er oft die Zeit.«
Xander sortierte die Informationen und musste sich eingestehen, dass sie beide doch sehr unterschiedliche Leben lebten.
»Hatte Ejner Feinde?«
»Ejner? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Er war der friedliebendste Mensch, den man sich vorstellen kann.«
»Hast du den Mörder gesehen?«
»Ja und nein … Ich habe seine Anwesenheit gespürt und bin fast sicher, dass ich seine Augen gesehen habe. Er hatte so eine Sturmhaube auf, die das Gesicht bedeckt.«
Sie sah so verletzlich aus in dem Bett mit ihrem blassen Gesicht. Ihn überkam das Bedürfnis, ihr übers Haar zu streichen. Er hatte die unheilvolle Vorahnung, dass das Ganze noch lange nicht überstanden war.
»Sie haben gefragt, ob ich entlassen werden will, aber dazu bin ich noch nicht ganz bereit …«
»Ich denke, das Beste wird sein, wenn du ein wenig zu schlafen versuchst, damit du morgen wieder fit bist. Darfst du Auto fahren?«
»Ja. Sie sagen, eine Gehirnerschütterung hätte ich nicht«, sagte sie tonlos.
»Josefine … Das in deiner Küche tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist …«
»Das … Ich bin es, mit der was nicht stimmt«, sagte sie mit einem verbitterten Zug um den Mund.
»Wie meinst du das?«
Sie antwortete nicht, starrte an die Wand.
»Kann ich irgendwas für dich tun? Was auch immer …?«
»Ja«, sagte sie und sah ihm tief in die Augen. »Sorg dafür, dass nicht noch mehr Morde geschehen …«
Ihr Blick begann zu flackern, sie sank zurück aufs Kissen und schloss die Augen.
Er verließ leise den Raum.
*
Xander fröstelte, als er das riesige Fabrikgebäude betrat. Er hatte einen blauen Einwegschutzanzug übergezogen und kämpfte mit dem Mundschutz. Die Gummis kniffen hinter den Ohren, und überhaupt schien alles für Zwerge entworfen worden zu sein.
Es war kühl in der Halle, aber vielleicht lag es auch an der allmählich chronisch werdenden Müdigkeit und an der Frustration, in dem Fall hinterherzuhinken, dass ihm so kalt war. Er begrüßte die Ermittlungsleiterin, eine große, grimmig dreinschauende Frau, die komplett anders wirkte, wenn sie lächelte. Sie war Ende fünfzig und nach Xanders Geschmack viel, viel zu dünn.
»Hallo, Xander«, sagte sie und gab ihm die Hand. Ihr Händedruck war trocken und rau und passte zu ihrem burschikosen Auftreten.
»Hallo, Elisabeth.«
»Der Rechtsmediziner benennt stumpfe Gewalt gegen den Schädel als Todesursache. Das Opfer ist dort drüben«, sagte sie mit professioneller Miene.
Sie passierten mehrere Regalreihen. Die Atmosphäre war die einer gewöhnlichen Lagerhalle, bis die Ermittlungsleiterin Xander erklärte, was die Pappkartons eigentlich enthielten.
Ein auf dem Boden sitzender Mensch bildete ein Relief vor der hellen Betonwand wie ein Teil einer makabren Ausstellung. Die sternförmige Fraktur über der Stirn des Opfers zog Xanders Aufmerksamkeit auf sich. Das Blut war aus der Wunde am Körper des alten Mannes heruntergelaufen und hatte einen dunkelroten See auf dem Boden gebildet.
»Wann ist das euren Berechnungen nach ungefähr passiert?«
»Schätzungsweise gegen 23 Uhr«, sagte Elisabeth.
Xander sah sich die Leiche genauer an. Die Augen waren barmherzigerweise geschlossen.
»Das hier musst du dir ansehen«, fuhr Elisabeth fort und ging vor ihm zu der hinteren Wand. Xander starrte auf das primitiv ausgeführte Kreuz mit dem inzwischen allzu bekannten tief hängenden Querbalken. Das rotbraune getrocknete Blut bildete einen grellen Kontrast zu den eidottergelben Regalen. Ein ihm unbekannter Techniker war dabei, in einem verwischten Fleck Spuren zu sichern. Er hatte die Augenbrauen tief konzentriert hochgezogen.
»Brauchbare Fingerabdrücke?«, fragte Elisabeth hoffnungsvoll.
Der Techniker, der aussah, als würde er noch die Schulbank drücken, nickte mit rosigen Wangen.
»Ja, wie aus dem Lehrbuch«, antwortete er eifrig.
»Schick es durchs Identifizierungssystem«, sagte Elisabeth mit einem anerkennenden Lächeln. »Und wenn ihr ein Match habt, geht eine Kopie an Alexander Damgaard.«
Xander wühlte in seinen Taschen nach einer Visitenkarte und fand schließlich eine, die er dem Techniker reichte.
»Gerne so schnell wie möglich«, murmelte er leise.
Der junge Mann nickte.
»Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Nein, ich glaube nicht. Es gibt keine Überwachungskameras hier drinnen … Gottes blindes Auge …«
Xander fröstelte bei dem brutal zutreffenden Ausdruck.
»Doch, da ist noch was. Wir haben das hier gefunden.« Sie hielt zwei Beweisbeutel ins Licht.
In einem lag eine verspiegelte Sonnenbrille mit regenbogenfarbenen Gläsern. Ein Glas war aus dem Gestell gerutscht. Den Inhalt des zweiten Beutels hätte er vorhersehen können: eine kleine Plastikflasche, in der vermutlich Kopenhagener Leitungswasser gewesen war.