Kapitel 47
Josefine fuhr in einem unangenehmen Dämmerzustand mit dem Leih-Fiat in die Werkstatt und hoffte, dass ihr Volvo fertig war und sie nicht warten musste.
Sie hatte Glück, aber die Rechnung war eine unschöne Überraschung. Immerhin stellte sie beim Starten des Motors fest, dass sie das Klopfen weggezaubert hatten, aber ansonsten war alles beim Alten.
Sie beschloss, zur Arbeit zu fahren, obwohl es sicher ratsam gewesen wäre, sich einen Tag krankschreiben zu lassen. Aber sie hatte keine Lust, allein in der Wohnung zu sein.
*
Am späten Nachmittag klopfte Xander an ihre Bürotür.
»Hi, Josefine«, sagte er. »Wie geht es dir?«
»Ganz okay. Ich sollte vielleicht besser zu Hause sein, aber nach dem, was passiert ist, habe ich kein gesteigertes Bedürfnis, allein zu sein …«
»Das kann ich sehr gut verstehen.«
Ihr Blick wanderte zerstreut durchs Zimmer, dann stand sie auf und öffnete das Fenster.
Ein kräftiger Luftzug fuhr in den Raum und zog ein paar Blatt Papier in einem aufsteigenden Wirbel nach oben, ehe sie wie trockenes Herbstlaub langsam wieder zu Boden trudelten. Josefine schob das Fenster hastig wieder zu, während Xander die Papiere aufsammelte, die sich als Ausschnitte aus der Gratiszeitung Metroexpress
erwiesen. Als er ganz nebenbei den Text unter zwei Fotos überflog, verharrte er plötzlich mitten in der Bewegung. Seine kräftigen Augenbrauen zogen sich um eine tiefe Furche auf der Stirn zusammen. Das Zeitungspapier war vergilbt. Das eine Foto zeigte Josefine in blauem Arbeitsoverall, Gummistiefeln und Warnweste. Rotwangig und blauäugig. Der Wind zerrte an ihrem Haar, das von der Sonne in Brand gesteckt war. Sie streckte keck den Daumen in die Luft.
»Wann ist das Foto gemacht worden?«, fragte er.
»Unmittelbar nach dem ersten Spatenstich der Räumungsarbeiten … Kopenhagens Technik- und Umweltbürgermeister war auch da«, antwortete Josefine und hob ein Blatt auf.
»Wer sind die anderen auf dem Foto?«, fragte Xander weiter und sah sich die Personen im Hintergrund genauer an.
»Also, das sind meine Kollegen … Angestellte aus dem Stadtmuseum und ihre Chefin, Charlotte Scavenius.«
Es entstand eine Pause.
»Und das ist Rita«, sagte sie und zeigte auf eine jüngere Frau mit einem strahlenden Lächeln.
Xander sah vor seinem inneren Auge Rita Magnussens Leiche vor sich, das durch den Tod und die grauenvollen Verletzungen bis zur Unkenntlichkeit entstellte Gesicht.
»Wozu brauchtest du die Kegel?« Xander zeigte auf ein anderes Foto, auf dem eine Person, die schräg von hinten zu sehen war, gerade ein paar neonorange Plastikkegel von der Ladefläche eines kleineren Lastwagens hob.
»Das ist Rita«, sagte Josefine.
Xander sah sie verdutzt an. Er hätte schwören können, dass das auf dem Foto Josefine war. Die beiden waren sich zum Verwechseln ähnlich, was Figur und Haare betraf. Und die Warnweste vervollständigte diesen Eindruck noch.
Xander sah, wie Josefine schluckte und blass wurde.
»Denkst du …« Sie brach den Satz ab. »Glaubst du, dass er es von Anfang an eigentlich auf mich abgesehen hatte?«
Xander wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich weiß es nicht, Josefine«, antwortete er ehrlich. »Aber du musst zugeben, dass ihr beide euch von hinten wirklich zum Verwechseln ähnelt … Die gleiche Größe und Haarfarbe …«
Sie starrte mit finsterem Blick auf das Foto.
»Josefine … das ist sehr wichtig«, sagte er eindringlich. »Fällt dir irgendjemand ein, dem daran gelegen sein könnte … dir Schaden zuzufügen?«
Josefine schien mit den Gedanken weit weg.
»Nein«, sagte sie nach einer Weile. »Wer sollte so etwas wollen?«
Xander versuchte, das nervöse Kribbeln zu überspielen, das sich wie Gift in seinem Körper ausbreitete. Das massive Medieninteresse hatte die Geschichte in Windeseile gestreut wie eine Epidemie, und es gab kaum ein Medium, das sich nicht sein Stück vom Kuchen gesichert hatte. Ritas Foto von der Homepage des Stadtmuseums war im kleinsten Käseblatt abgedruckt worden. Und bestimmt spielte die Münze, die Josefine in ihrer Wohnung gefunden hatte, eine Rolle. Genauso wenig, wie es vermutlich ein Zufall war, dass Josefine eine Nachricht von Ejner bekommen hatte, vom Mörder geschrieben, mit der er sie in eine clever ausgedachte Falle gelockt hatte. Die Gedanken schwirrten wie dunkle Schattenfetzen durch sein Bewusstsein, und er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass Josefine das eigentlich angepeilte Opfer war. Der Mord an Rita musste ein Versehen gewesen sein, was bedeutete, dass Ejner als Lockvogel hatte herhalten müssen, damit Josefine draußen in dem einsamen Knochendepot in die Falle des Mörders tappte.
»Hör zu, Josefine. Bitte sei extrem vorsichtig und achte darauf, ob dir irgendjemand folgt oder dir irgendetwas merkwürdig vorkommt. Es ist nur eine Theorie, und ich will dir keine Angst machen … Aber nach dem, was in Avedøre passiert ist, will ich kein weiteres Risiko eingehen … Josefine … ich …«
»Was?«
»Ich will auf keinen Fall, dass dir etwas zustößt. Und ich sorge dafür, dass du Polizeischutz bekommst, bis das Ganze überstanden ist.«
*
Josefine fühlte sich völlig unwirklich, als sie ihre Wohnung betrat und durch alle Zimmer ging, um zu schauen, ob alles noch so war wie beim Verlassen. Sie versuchte, sich mit der Tatsache zu beruhigen, dass sie von der Polizei bewacht wurde. Außerdem war es ja nur eine Theorie von Xander, für die es noch keinen Beweis gab. Trotzdem drängten sich immer wieder die Teufelsmünze und Pater Dominics ernster, besorgter Gesichtsausdruck in ihr Bewusstsein. Die Vorstellung, dass ihr jemand Böses wollte, war mit einem Mal gar nicht mehr so abwegig.
Sie ging früh ins Bett und wälzte sich lange hin und her, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Die Gedanken mahlten in ihrem Kopf. Xander hatte recht, dass sie und Rita sich im Körperbau und mit den mittelblonden lockigen Haaren extrem geähnelt hatten. Trotzdem war es so unwirklich, dass der Mörder eigentlich sie als Opfer ausersehen hatte … Die Dunkelheit vervielfachte ihre Zweifel. War sie schuld an Ejners Tod? Hatte er als Lockvogel für sie fungiert? Sie ging in Gedanken alle Personen durch, die ihr Böses wünschen könnten, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine dabei war, die sie töten wollte.
Josefine schüttelte den Kopf über sich und ihre kruden Gedanken. Ihr fiel ein, dass sie das Kruzifix in die Nachttischschublade gelegt hatte, und sie knipste das Licht an und nahm es heraus. Fühlte sie sich jetzt sicherer mit dem Kreuz in der Hand? Vielleicht. Trotzdem kam sie sich ein bisschen idiotisch vor, wie sie dort auf dem Bett lag und krampfhaft das Holzkreuz umklammerte.
Am nächsten Morgen wachte sie mit dem Kreuz in der Hand auf. Josefine lächelte und legte es zurück in die Schublade, ehe sie in die Küche ging, um einen Kaffee aufzusetzen. Ausgeschlafen war sie nicht, aber sie fühlte sich auf alle Fälle sehr viel entspannter als in der Nacht.