Kapitel 49
Xander saß in seinem Büro und ließ die Gedanken zum ersten Tag der Ermittlungen zurückschweifen. Seine Theorie, dass der Mörder ursprünglich Josefine zu seinem Opfer erkoren hatte, untermauerte seine Hypothese, dass die Ermittlungen bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt ernsthaft in die falsche Richtung gelaufen waren.
Das Telefonklingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Elisabeth von der Polizei Vestegnen.
»Die Techniker haben das Handy des Opfers untersucht«, leitete Elisabeth das Gespräch ein. »Es konnten Fingerabdrücke auf der Tastatur gesichert werden, die nicht Ejners sind, aber es gibt keine Übereinstimmung mit einem der Profile in der Datenbank. Ich habe allerdings mit Kenneth gesprochen, und der meinte, sie wären identisch mit dem Abdruck auf der Wand im Lager, in der Taastruper Bahnunterführung und zu guter Letzt mit dem aus dem Sprechzimmer der Psychiatriepraxis …«
Xander wurde schwindelig, als er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah. Er erläuterte Elisabeth seine Theorie, dass der Täter beim ersten Mord möglicherweise Rita mit Josefine verwechselt und darum Josefine mit einer SMS von Ejners Handy spätabends in eine Falle gelockt hatte.
»Warum nicht? Hört sich durchaus logisch an«, sagte Elisabeth nachdenklich.
Xander spürte seinen Pulsschlag am Hals. Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass er recht hatte, was bedeutete, dass der Mörder Josefine raus nach Avedøre gefolgt war.
Er stand auf und schaute lange aus dem Fenster, durch das weit entfernt das DONG-Kraftwerk zu sehen war. Sein Blick wanderte zu dem Regal an der hinteren Bürowand, in dem seine Polizeimütze mit dem breiten Schirm lag, daneben ein paar Fotos von ihm in Uniform.
Er rieb sich die Augen, die vor Müdigkeit juckten, als irgendwo in seinem Kopf eine Alarmglocke leise zu klingeln begann, und er hatte das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben.
Die Sonne verschwand kurz hinter einer Wolke, und der Schatten tauchte den Raum in graues Licht.
Nach dem Mord an Rita Magnussen auf dem Assistens Kirkegård hatte er in dem Wohnkomplex am Jagtvej genau gegenüber vom Friedhof Befragungen vorgenommen, in deren Verlauf er unter anderem mit einem notorischen Säufer und einer Frau gesprochen hatte, die beide aufgrund der Ereignisse sehr aufgewühlt gewesen waren. Es war weniger das gewesen, was die Frau gesagt hatte, sondern etwas in der Wohnung, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein Foto an der Wand.
Die Müdigkeit war wie weggeblasen, als er sein Büro verließ und sich in sein Auto setzte.
Er fuhr schnell, viel zu schnell, hatte aber mit einem Mal das Gefühl, dass Eile angesagt war. Kurz darauf erreichte er den Jagtvej und ergatterte einen Parkplatz in einer der kleineren Seitenstraßen. Er klingelte und musste eine Weile warten, ehe er sein Anliegen vortragen konnte und eingelassen wurde.
Die Frau öffnete die Tür und sah ihn an. Ihre hellen Augen waren von farblosen Wimpern umrahmt.
Er glaubte, Wachsamkeit in ihrem Blick zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
»Kommen Sie rein.«
»Danke. Es gäbe, wie eben erwähnt, noch ein paar einzelne Dinge zu klären …«
Xander folgte ihr ins Wohnzimmer. Sie stellte sich mit verschränkten Armen in eine Ecke.
»Mögen Sie eine Tasse Tee? Bei der Kälte muss man sich an etwas wärmen …«
»Ja danke, das täte jetzt gut …«
Die Frau verschwand. Er hörte, wie der Wasserhahn aufgedreht wurde, und gleich darauf Geschirrklappern.
Er sah sich unterdessen ein paar Buchrücken in einem der Regale an. Eins der Bücher stand ein bisschen hervor. Vorsichtig zog er es heraus. Es war ein altes preisreduziertes Buch, das nur zur Hälfte gelesen war, da die restlichen Seiten noch nicht aufgeschnitten waren. Er klappte es auf, und das Licht fiel auf die vergilbten Seiten:
Dybest i mig ligger Ganz tief in mir ruht
dødens sorte vand: das schwarze Wasser des Todes:
det spejler dig Es spiegelt dich
i mine pupiller: in meinen Pupillen:
se hér dit eget liv Sieh darin dein eigenes Leben
og bær mit navn und trage meinen Namen
inderst i knoglernes im Innern der stummen
tavse tusindår. Tausendjahre der Knochen
Michael Strunge: Knoglerne (Die Knochen)
, 1986
Xander hob den Blick. Er hatte die Frau nicht zurück ins Wohnzimmer kommen hören.
»Bitte schön«, sagte sie und reichte ihm einen Becher. »Nehmen Sie was in den Tee?«
»Nein, alles gut.« Er stellte umständlich das Buch zurück an seinen Platz. »Ein schönes Gedicht.«
Sein Blick wanderte durch den Raum auf der Suche nach dem Bild, das bei seinem letzten Besuch seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. An der hinteren Wand wurde er fündig.
»Darf ich Sie fragen, wann das Foto aufgenommen wurde?«, sagte er.
Ihre Augen blitzten kurz auf, oder bildete er sich das nur ein?
»Puh, das ist schon einige Jahre her … Das Foto wurde in Kenia gemacht. Ich habe damals für eine Entwicklungshilfeorganisation gearbeitet.«
»Darf ich es mir genauer anschauen?«
Sie nahm das Bild von der Wand und gab es Xander.
Er stellte den Becher ab.
»Könnte ich es ein paar Tage leihen? Ich verspreche, gut darauf aufzupassen …«
»Warum?«
»Ich würde ein Detail auf dem Bild gerne genauer auf Relevanz für unsere Ermittlungen untersuchen.«
Sie schien protestieren zu wollen, schwieg dann aber. Am Ende nickte sie kurz.
Xander setzte sich ins Auto und ließ das Bild noch einmal auf sich wirken. Die schräg hereinfallende Wintersonne machte ein paar perfekte Fingerabdruckovale sichtbar. Er konzentrierte sich auf eine dunkle Gestalt im Hintergrund des Bildausschnittes, deren Gesicht zum Teil von einem großen Baum verdeckt war. Ein großer Mann mit Vollbart. Schließlich legte er das Foto auf den Beifahrersitz und machte sich auf den Weg nach Teglholmen.