Kapitel 50
Josefine starrte ihr Spiegelbild an. Die Beule an der Stirn changierte auf einer Farbskala zwischen Violett und Gelbgrün. Ihr war klar, dass sie um Haaresbreite dem Tod entronnen war, aber das Ganze kam ihr absurd unwirklich vor, als wäre sie nur Zuschauerin dieses makabren Schauspiels. Sie strich sich die Haare etwas in die Stirn und ging hinüber zum Fenster, durch das sie hinter ihrer Rostlaube den unauffälligen zivilen Ford der Polizei parken sah. Sie überlegte kurz, ob wieder der gut aussehende Mann mit dem kurzgeschorenen Haar Dienst hatte.
Josefine beschloss, sich an einen Korrekturdurchlauf ihres Artikels über die Volksgesundheit zu machen und eventuell das Fazit ein letztes Mal zu überarbeiten. Sie versuchte, nicht an den Mord an ihrem alten Doktorvater zu denken oder an die Tatsache, dass ihr offensichtlich jemand nach dem Leben trachtete, trotzdem begann ihr Herz zu pochen. Sie legte den Bericht weg und ging in die Küche. Dort öffnete sie eine Flasche Wein und schenkte sich ein Glas ein. Es half niemandem weiter, wenn sie zuließ, dass die Angst die Oberhand gewann.
Es war ihr gerade gelungen, sich auf die Überarbeitung des Berichtes zu konzentrieren, als das Telefon klingelte. Sie zuckte erschrocken zusammen.
»Josefine.«
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte die Stimme, die sie als Whinstons identifizierte.
»Hallo, Whinston, kein Problem … Ist etwas mit meinem Vater?«
»Nein, er sitzt in seinem Sessel und genießt sein Gutenachtbier. Ich dachte nur, ich frag mal, ob Sie vielleicht einen Elektriker beauftragen könnten, weil der Strom immer wieder ausfällt. Bei dem Versuch, das Problem unten im Keller zu beheben, habe ich einen gewischt gekriegt … Außerdem riecht es nach verbranntem Plastik …«
»Natürlich, ich kümmere mich darum. Aber Sie versuchen sich besser nicht mehr an weiteren Reparaturen.«
»Sie haben wohl recht, aber ich hab kein gutes Gefühl, ihn in diesem instabilen Zustand allein zu lassen. Es passiert jedes Mal, wenn ich die verdammte Mikrowelle einschalte, darum hab ich das Essen im Ofen aufgewärmt …«
»Ich lass mir was einfallen, Whinston«, versprach Josefine und hoffte, dass sie so spät noch jemanden fand, der zu ihrem Vater rausfuhr.
Sie suchte im Netz nach Elektrikern und fand schließlich einen, der mit Rund-um-die-Uhr-Service warb. Er versprach, so schnell wie möglich zu kommen.
Kurz darauf machte Josefine sich auf den Weg nach Valby, um den Elektriker ins Haus zu lassen. Sie gähnte und sah im Rückspiegel die Scheinwerfer des Dienstwagens der Polizei. Der Fahrer war nicht so attraktiv wie sein Vorgänger und wirkte ein bisschen grimmig, aber vermutlich gehörte ihre Überwachung auch nicht gerade zu den aufregendsten Polizeiaufgaben, dachte sie. Sie atmete erleichtert auf, als sie das Haus ihres Vaters sah, in dem Whinston alle Lichter eingeschaltet hatte, als könnte er damit den drohenden Stromausfall verhindern. Sie schloss auf, wünschte ihrem Vater eine gute Nacht, der schon im Bett lag und döste, löschte ein paar Lichter und setzte sich ins Wohnzimmer, um auf den Elektriker zu warten.
Die Wartezeit zog sich über anderthalb Stunden hin. Um den Ernst der Lage zu unterstreichen, flackerte zwischendurch immer wieder das Licht, setzte aus und sprang nach dem Bruchteil einer Sekunde wieder an.
Der Elektriker war ein blasser korpulenter Mann in dunkler Arbeitsmontur mit dem passenden Logo der Firma: einer großen Smiley-Glühbirne.
Es war fast Mitternacht, und Josefine war erschöpft. Sie saß auf dem Sofa und fuhr mit dem Finger über die Tastatur ihres Handys, um eingegangene Nachrichten zu checken, als der Akku sich verabschiedete. Verdammt, dachte sie und ärgerte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihr Ladekabel mitzunehmen. Sie stand auf und ging zum Fenster, gähnte und schob die beigefarbenen Lamellen der Jalousien so weit auseinander, dass sie hinausschauen konnte. Sie sah ihre Silhouette in der dunklen Scheibe.
Bis auf das gedämpfte Rumoren des Elektrikers im Keller auf der Suche nach dem Fehler im System war es still im Haus. Nach einem Blick auf die Uhr verabschiedete sie sich von der Hoffnung auf eine erholsame Nachtruhe. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, das mit dem Strom in Angriff genommen zu haben. Das nagte schon lange an ihrem Gewissen.
Sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, Schritte auf dem Flur. Josefine konnte sich nicht so recht damit anfreunden, dass die Pflegekräfte Schlüssel zum Haus hatten. Das war, als gehörte es nicht mehr ihrem Vater. Aber wahrscheinlich ließ sich das nicht anders regeln. Sie sah überrascht hoch, als sie Danielles elegante Silhouette sah.