Kapitel 51
Xander versuchte, einen Gedankensplitter zu fassen zu kriegen, eine Ahnung, die er nicht einordnen konnte, als er Josefines Nummer wählte. Vielleicht lag es an dem sonoren Brummen wie ein weit entferntes Nebelhorn, das den hohen Fiepton in seinem Ohr abgelöst und ihn die ganze Nacht wach gehalten hatte.
Er hatte Josefine ans Herz gelegt, ihr Handy immer eingeschaltet und in Reichweite zu haben, damit die Polizei sie jederzeit bei potenzieller Gefahr erreichen konnte. Er wurde direkt auf die Mailbox weitergeleitet und starrte an die rissige Decke. Xander beendete die Verbindung und rief als Nächstes den für Zeugenschutzprogramme und Observationen zuständigen Kontakt beim PET an.
»Hi, Samuel, tut mir leid, dich so spät noch zu stören, aber könntest du versuchen, den Kollegen zu erreichen, der für die Überwachung von Josefine Jespersen abgestellt ist?«
»Ist was passiert?«
Xander überlegte krampfhaft, was er antworten sollte, weil er ja wohl kaum sagen konnte, dass sein nächtlicher Anruf einem unguten Bauchgefühl geschuldet war, dass was passiert sein könnte.
»Ich kann sie nicht erreichen.«
»Hast du in Erwägung gezogen, dass sie möglicherweise schläft, wie wir es auch tun sollten?«
Xander hörte Samuel gähnen.
»Versuch einfach, ihn zu erreichen«, sagte er scharf. »Und gib mir Bescheid, wenn ihr eine Verbindung hergestellt habt.«
Xander beendete das Gespräch, trat auf seinen Miniaturbalkon hinaus und steckte sich eine Zigarette an. Die innere Unruhe ließ nicht nach, im Gegenteil, sie wuchs noch.
Als das Handy klingelte, drückte er die Kippe in der Blumenerde aus und ging zurück in die Wohnung.
»Ja?«
»Der Kollege ist auch nicht zu erreichen«, teilte Samuel mit.
»Habt ihr es über Funk versucht?«
»Ja, aber er antwortet nicht. Seine letzte Positionsangabe ist Knuthenborgvej 13 in Valby. Soll ich jemanden zu der Adresse schicken?«
»Ja, tu das. Ich fahre selbst auch raus.«
Er zog sich an, schnappte sich seine Jacke vom Garderobenhaken und stürmte mit einer bangen Vorahnung aus der Wohnung.
*
»Guten Abend, Danielle.« Josefine lächelte. »Machen Sie jetzt auch Nachtschichten?«
»Hallo, Josefine … Nein, nicht fest, ich springe nur für jemanden ein … Wir tauschen manchmal.« Sie räusperte sich. »Schrecklich, das mit Alice …«
Ihre Augen wurden feucht.
Josefine nickte.
»Dann sehe ich mal nach Ihrem Vater …«
Josefine sah Danielles eleganter Erscheinung hinterher, als sie auf den Flur ging. Heute trug sie statt der hochhackigen Stiefel bequeme weiße Sneaker, die im dunklen Flur leuchteten.
Josefine starrte zerstreut vor sich hin, als eine Reihe Bilder an ihrem inneren Auge vorbeizogen und ein Gedanke in ihrem Bewusstsein Form annahm. In dem Augenblick verabschiedete sich der Strom mit einem leisen Klicken, und es wurde dunkel. Nur das Licht von der Straße strömte durch die Lamellenschlitze und malte ein scharfes Streifenmuster auf den Boden.
Josefine hörte ein Poltern irgendwo im Haus, gefolgt von schnellen Schritten und knallenden Türen.
In ihrem Gehirn gab es ebenfalls einen Kurzschluss, es verweigerte seinen Dienst wie eine Blockade infolge des erschreckenden Gedankenpuzzles. Plötzlich stand es ihr glasklar vor Augen, was sie die ganze Zeit an der Bildsequenz aus der Bahnunterführung gestört hatte. Etwas, worauf sie schon viel eher hätte kommen müssen. Sie war die ganze Zeit davon ausgegangen, in dem Film der Überwachungskamera einen Mann zu sehen. Oder genauer: Alle waren sie davon ausgegangen. Aber in diesem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass die Überwachungskamera eine Frau gefilmt hatte. In diesem Punkt war die biometrische Theorie vollkommen eindeutig, nämlich dass es einen entscheidenden Unterschied in der Gangart zwischen Männern und Frauen gab, und zwar in der Länge der Pendelschwünge der Arme und Beine beim Gehen, der bei Frauen wesentlich kürzer war als bei Männern. Darauf hätte sie als Expertin längst reagieren müssen.
Die Person im Tunnel, von der sie jetzt wusste, dass es sich um eine Frau handelte, hatte einen charakteristisch maskulinen, hackenbetonten Gang, fast wie Marschieren. Und obgleich keiner seine Gangart ganz ablegen konnte, veränderte sie sich fundamental durch unterschiedliches Schuhwerk wie zum Beispiel Holzschuhe. Am frappierendsten war der Unterschied bei hochhackigen Schuhen, in denen der Kontaktpunkt der Fußsohle mit der Unterlage und damit die gesamte Körperbalance von der Ferse unter den Fußballen nach vorn verschoben wurde, was den charakteristischen Hüftschwung auslöste, den das andere Geschlecht so aufreizend fand.
Danielles Gangart durch den dunklen Flur in den hellen Sneaker war identisch mit den Schrittfolgen, mit deren Sichtbarmachung in der Bildsequenz aus der Überwachungskamera zuerst sie und dann noch Arne so viel Zeit verbracht hatten.
Das mit dem Schuhwerk hatte sie nicht berücksichtigt, und die hochhackigen Stiefel hatten ihren Gang so verändert, dass Josefine den marschartigen Gehstil nicht wiedererkannt hatte. Sie konnte sich Danielle nur schwer als kaltblütige, rücksichtslose Mörderin vorstellen. Trotzdem flüsterte eine innere Stimme, dass genau das der Fall war.
Es durchrieselte Josefine eiskalt bei der entscheidenden Frage, die durch ihren Kopf wirbelte. Warum? Das würde sie später herausfinden müssen, jetzt musste sie ihren Vater beschützen. Sie lief über den Flur zu seinem Schlafzimmer, drückte die Klinke herunter und schob die Tür auf. Die Luft war gesättigt von dem konzentrierten Duft ihres Vaters mit einem Hauch Verfall, der mit fortschreitendem Alter immer intensiver wurde.
»Papa?«, flüsterte sie.
Sie bekam keine Antwort. Überhaupt war es ganz still im Haus.
Sie trat ans Bett, strich mit der Hand über die Decke bis zum Gesicht. Seine Bartstoppeln fühlten sich wie Sandpapier unter ihrer Handfläche an. Josefine hielt die Luft an und lauschte auf seine Atemzüge. Nach einer langen Pause holte er rasselnd Luft, und sein Brustkasten hob sich. Sie atmete erleichtert auf, aber die Erleichterung wurde gleich von einer schwarzen Angstwelle weggespült bei dem Gedanken, dass sich eine Serienmörderin in ihrem Haus aufhielt. Sie musste umgehend den Polizisten vor dem Haus alarmieren.
Josefine ging aus dem Schlafzimmer auf den schmalen Flur. Sie kannte jeden Winkel des Hauses und bewegte sich rasch durch das Erdgeschoss. Als sie den Eingangsbereich betrat, spürte sie, dass sie nicht allein war. Im nächsten Augenblick explodierte ein weißer Schmerz in ihrem Hinterkopf.
Lautlos sackte sie in sich zusammen.
*
Josefine wimmerte und merkte den Geschmack von Blut im Mund. Ihr Kopf war bleischwer, und der Puls trommelte taktfest gegen den Schmerz. Sie stellte fest, dass ihre Hände mit einschnürenden Bändern vor dem Körper gefesselt waren. Bis auf einen flackernden Lichtstreifen, der durch eine angelehnte Tür fiel, war es dunkel. Eine Kerze, dachte sie. Nach und nach dämmerte ihr, dass sie sich im Keller befand. Sie erkannte den Geruch von Schimmel und Waschmittel wieder. Und dann war da noch ein scharfer, in der Nase stechender Geruch: chemisch, entzündlich. Sie lag der Länge nach auf dem Boden, und beim Versuch, sich aufzurichten, krümmte sie sich in einem Übelkeitsschub zusammen und erbrach sich mehrmals hintereinander, bis ihr Magen ganz leer war. Die Gedanken flatterten durch ihr Bewusstsein, sie konnte sie nicht fassen, aber irgendwann erinnerte sie sich, dass sie in der dunklen Diele niedergeschlagen worden war.
Es war totenstill im Keller.
Da entdeckte sie in dem spärlichen Licht den Umriss eines Menschen vor der Wand. Mit Mühe richtete sie sich auf und erkannte ein zur Unkenntlichkeit verzerrtes Gesicht. Die Augäpfel drückten aus den Höhlen. Die Zungenspitze ragte zwischen den Lippen hervor, und die Haut war auf die typische Art aufgedunsen wie bei erdrosselten Menschen. Das runde Firmenlogo auf dem T-Shirt des Elektrikers starrte sie wie ein blindes Auge an, als sie auf allen vieren zu ihm kroch. Eine weiße Schnur hatte sich in die Haut um den Hals geschnitten. Mit linkischen Bewegungen versuchte Josefine, die Schnur zu lösen, die sich als ein Stück Wäscheleine erwies, aber der Knoten gab nicht nach. Sie erspähte eine alte Werkzeugkiste, in der eine verrostete Kneifzange lag. Nach mehreren Anläufen gelang es ihr, die Schnur durchzukneifen. Sie suchte hektisch nach ihrem Handy, bis ihr einfiel, dass es entladen oben im Wohnzimmer lag. Das Geräusch ihres eigenen Herzschlags füllte ihr Bewusstsein, als sie sich auf die Füße kämpfte und in Richtung des flackernden Lichtschimmers taumelte.
Langsam näherte sie sich dem Waschkeller, aus dem das Licht kam, stieß die Tür weit auf und sah eine flackernde Kerze in einem Kerzenständer auf dem Bügeltisch. Die gelbe Flamme spiegelte sich in etwas im hintersten Winkel des Raumes. Zwei leuchtende schwebende Flecken über den Konturen einer alten Wäschemangel. Ihr Gehirn erstarrte zu Eis. Das sah aus wie ein Augenpaar.
»Josefine
…«, sagte eine aus der Dunkelheit wachsende Stimme.
Das Augenpaar kam langsam näher im Schein der flackernden Flamme und erinnerte Josefine an … eine Katze. Katzenaugen. Mit einem fluoreszierenden, glühenden Kern. Die Beschreibung ihres Vaters war äußerst treffend.
»Josefine?«
Sie standen jetzt dicht voreinander. Danielle war entschieden größer als Josefine. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Salto, und Adrenalinpfeile schossen durch ihren Körper.
*
Xander fuhr, so schnell es auf der schmalen Straße durch das Villenviertel mit den unausweichlichen Bodenschwellen möglich war. Er fluchte bei jedem Ächzen der Stoßdämpfer und wurde auf den letzten Metern noch einmal ordentlich durchgerüttelt, ehe er endlich den zivilen Einsatzwagen sah.
Xander fuhr neben den Wagen und erkannte das Profil seines Kollegen. Es irritierte ihn, dass alles in bester Ordnung schien und der Kollege einfach eingeschlafen war.
Er parkte vor dem Dienstwagen, stieg aus und sah zu dem Haus, in dem Josefines Vater lebte und wo sie sich in diesem Augenblick angeblich aufhielt. Die dunklen Fenster glänzten schwarz in der Straßenbeleuchtung, und die Unruhe, die ihn nicht losließ, meldete sich in erneuter Stärke. Xander ging zurück zum Wagen des Kollegen und schlug hart mit der flachen Hand gegen die Seitenscheibe. Er starrte den Kollegen verwundert an, der regungslos in der gleichen Position wie vorher dasaß.
Der Beamte schlief einen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen würde. Xander riss die Fahrertür auf und legte behutsam die Hände um den Kopf des Kollegen. Das Gesicht wirkte wundersam unberührt von der grauenvollen Zerstörung eines effektiven, geübten Mörders. Xanders Hände zitterten, als er den Kopf in seine Ausgangsposition zurückgleiten ließ. Blut und Hirnmasse lagen wie Tortenglasur auf dem Beifahrersitz. Er drückte die Fahrertür leise zu und telefonierte mit gedämpfter Stimme.
Bevor Xander über den zugewucherten Plattenweg auf das Haus zuging, zog er seine Dienstwaffe und entsicherte sie. Er stieg vorsichtig die eisglatten Stufen hoch und stellte fest, dass die Tür offen war. Er suchte nach einem Lichtschalter in dem dunklen Eingangsbereich, aber der Strom schien ausgefallen zu sein. Mit Hilfe der Handytaschenlampe bewegte er sich langsam ins Innere des Hauses, wobei er immer wieder Josefines Namen rief.
*
Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge wie auf einem klassischen Gemälde. Gerade Nase, leicht schräg stehende Augen und einen sinnlichen Mund. Die Andeutung eines Lächelns zuckte in ihrem Mundwinkel, aber es war ein kaltes Lächeln.
»Sie haben den Elektriker getötet … und die anderen.« Josefine schnappte hicksend nach Luft. »Warum mussten sie sterben?«
»Vergiss es«, fauchte Danielle. »Es geht nur um dich!«
Die Stimme klang fundamental anders, viel tiefer, gestrandet in tonalem Niemandsland zwischen Mann und Frau, wie ein androgyner Countertenor.
»Was soll das heißen?«, fragte Josefine und versuchte, dem Blick ihres Gegenübers auszuweichen, der sich in ihr Inneres zu brennen schien.
»Auf dem Assistens Kirkegård … Du hast den Grabfrieden gestört … So etwas hat Konsequenzen
«, flüsterte die Frau.
Tausend Gedanken wuselten Josefine wie eine Wolke Nachtschwärmer im Kopf herum. Sie dachte an das, was der Totengräber Svend über die versäumten Gebete für die Verstorbenen gesagt hatte. Sie hatten die Skelette behandelt wie ein Stück Ware. Der Respekt vor den irdischen Überresten musste im Namen der Metro-AG und der Wissenschaft weichen.
»Du hast dem Bösen das Tor geöffnet«, fuhr Danielle fort. »Und du … du hast die Order gegeben, seine Grabstelle zu verlegen. Dabei wurde die schwarze Säule zerstört … Und dann hast du noch seine Knochen ausgegraben … Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
Josefine erinnerte sich an die zerbrochene Säule und daran, dass der Junge in dem Grab das gleiche Alter wie ihr eigener Bruder gehabt hatte. Die Inschrift war einfach und sehr schön gewesen und hatte sie persönlich berührt.
Sie registrierte eine schnelle Bewegung und fühlte etwas Kaltes auf der Wange. Und sie erkannte die kleine, harmlos aussehende Plastikflasche mit dem Weihwasser in Danielles Hand.
Josefine dachte fieberhaft nach. Ihr einziger Vorteil war, dass sie das Haus kannte wie ihre Westentasche.
Die Dunkelheit war ihr Schutz. Sie lief zu dem Bügeltisch, um die Kerze zu löschen, aber Danielle hatte diesen Schachzug vorhergesehen und gab ihr einen kräftigen Stoß von hinten. Josefine stürzte gegen den Tisch, so dass die Kerze herunterfiel. Eine Ewigkeitssekunde rollte sie auf dem Boden hin und her, und ein Geräusch ertönte, wie wenn man mit der flachen Hand auf ein gespanntes Laken schlägt. Eine Flamme züngelte hoch und verbreitete sich schnell wie ein Lauffeuer. Josefine reagierte blitzschnell, drehte sich um und rannte in Richtung Tür. Der Raum wurde von einem unheilverkündenden blauen Schimmer erleuchtet, als wäre das Feuer erst noch im Werden.
Mit einem lauten Knall schlug sie die Kellertür hinter sich zu und rannte durch den Gang zur Treppe, so schnell wie möglich die engen, offenen Stufen hinauf. Auf halber Strecke rutschte ihr der Fuß weg und verkeilte sich zwischen zwei Stufen. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, als sie hinter sich Schritte hörte und ein Licht sah. Mit rasanter Geschwindigkeit breitete sich das Feuer aus. Ihr schoss durch den Kopf, dass der Boden vermutlich mit Brandbeschleuniger getränkt war. Sie drehte den Kopf zur Seite und erblickte im Schein der Flammen die Karikatur eines menschlichen Körpers, der die Hülle für ein glühendes Konzentrat des Bösen zu sein schien.
Mit letzter Kraft zerrte Josefine an ihrem Unterschenkel, ihre Nägel brachen, bewegen konnte sie das verletzte Bein nicht. Die Schmerzen waren brutal.
Als am oberen Ende der Treppe die Kellertür aufgerissen wurde, erkannte Josefine Xanders Stimme, die ihren Namen rief. Dann hörte sie ein Zischen wie von einem Feuer, das Sauerstoff ansaugt, um umso stärker aufzulodern. Und genau das geschah. Plötzlich fiel ein Schuss, und alle Geräusche verschwanden, als würde ein Stecker gezogen.
Xander schrie laut, als er sah, dass die Frau einen Hammer über den Kopf schwang und auf Josefine zustürmte. Er visierte den Kopf der Frau an, drückte ab und hörte ein metallisches Scheppern auf hartem Untergrund. Seine Augen brannten und begannen, von dem Rauch zu tränen, der aus dem Keller quoll. Erst jetzt registrierte er die Hitzewelle des Feuers, bewegte sich die Treppe hinunter, packte Josefine unter den Armen und zog sie mühsam die Stufen hoch. Sie torkelten durch den dunklen Flur, erreichten schließlich die Haustür, die er offen gelassen hatte, und spürten die kalte Nachtluft im Gesicht.