Kapitel 57
Josefines Schnittwunden, die in der Notaufnahme versorgt worden waren, hatten sich als oberflächlich erwiesen. Jetzt kamen die heftigen Nachwirkungen des Schocks, obgleich ihr klar war, wie glimpflich sie davongekommen war. Die Augen, die sie aus dem Spiegel ansahen, waren verändert, fremd irgendwie. Groß und dunkel. Sie hatten ihr angeboten, ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben, aber sie wollte lieber nach Hause.
Kurz nach ihrer Rückkehr aus der Klinik stand Xander mit einem Blumenstrauß vor ihrer Tür.
»Was hat der Priester gesagt?«, wollte sie wissen.
»Dass er es hätte merken müssen. Allein ihr Name war schon ein Wink mit dem Zaunpfahl, die feminine Form von Gabriel, dem Erzengel, der sozusagen dem Inner Circle der um Gott versammelten Engel angehört. Thronengel hat er ihn genannt. Es ist vermutlich ein Zeichen ihres wachsenden Wahnsinns, dass sie sich von Danielle auf Gabriella umbenannt hat.«
»Sie hat sich selbst als Engel gesehen?«
»Ja.«
»Als Racheengel?«
»Dazu hat der Priester nichts gesagt, er hat sich da wie gewohnt etwas kompliziert ausgedrückt … dass sie zum Beispiel ihre Opfer mit dem Weihwasser reinwaschen wollte. Da sie ihrer Meinung nach vom Bösen besessen waren. Sie wollte ihnen den Teufel austreiben. Doch dann hat die dunkle Seite in ihr die Oberhand gewonnen und die gute verdrängt, und irgendwann hat sie dem Drang nachgegeben zu töten … So ist sie selber zum Bösen geworden … eine Teufelin. Weil sie gegen das fünfte der zehn Gebote verstoßen hat. Du sollst nicht töten
…«
»Ist das nicht völlig schnuppe?«, fragte Josefine.
»Was meinst du?«
»Ob es der Teufel oder eine dunkle Schattenseite in einem ist?«
»Ja … vielleicht«, sagte Xander nachdenklich.
Josefine schluckte.
»Du weißt schon, dass das hier mich gerettet hat?«
Sie hielt ihm das Kruzifix mit der zerrissenen Kette hin.
»Danielle hat gesagt, ich solle es abnehmen, aber ich habe mich geweigert. Das hat mir ein paar wertvolle Sekunden verschafft, sonst …«
Sie brach ab und senkte den Blick.
»Aha«, sagte Xander.
Josefine sah ihn fragend an.
»Das beweist, dass sie tatsächlich besessen war, weil sie das Kruzifix nicht berühren konnte«, fasste Xander zusammen.
»Ich glaube, sie war einzig und allein von Rachegedanken zerfressen«, sagte Josefine. »Rache, weil ich den Grabfrieden gestört und die Grabstelle ihres Bruders geschändet habe. Das hat sie jedenfalls geglaubt. Meinst du nicht auch, dass der Priester längst Lunte gerochen hätte, wenn die Haushälterin direkt vor seiner Nase wahrhaft vom Teufel besessen gewesen wäre?«
Xander grinste.
»Du könntest eine strahlende Karriere bei der Polizei hinlegen.«
Sie lächelte.
»Hältst du mich eigentlich für einen Nerd?«
»Nein …«
»Du lügst.«
Josefines glasklarer Blick nagelte ihn an den Boden, aber darunter ahnte er ihre Verletzlichkeit.
»Du bist ein nettes Mädchen«, murmelte er. »Und nur ein ganz klein bisschen nerdig … aber auf eine sexy Art«, stammelte er und atmete erleichtert auf, als sie lächelte. Er musste wirklich üben, sich mit Frauen zu unterhalten, besonders mit denen, die er interessant fand. Sonst käme er nie zu Potte und würde irgendwann mutterseelenallein ins Grab gehen.
»Glaubst du an den Teufel?«, fragte sie.
»Ich glaube auf jeden Fall an das Böse, so viel ist sicher.«