Kapitel 58
Am nächsten Tag fügten Jørgen und Xander die letzten losen Fäden in dem Fall zusammen. Dem war eine Audienz bei seinem Chef vorausgegangen, der ihn über den grünen Klee gelobt hatte, wenn auch mit dem Dämpfer, dass die Aufklärung des Falles gerne etwas schneller hätte gehen können, worin Xander ihm bereitwillig zustimmte.
»Aber was genau war denn nun das Motiv für die Morde?«, fragte Jørgen.
»Der Mord an Rita Magnussen war ein Versehen, da sie eigentlich Josefine als Opfer ausersehen hatte«, antwortete Xander.
»Wegen der Grabräumungen?«
»Ja. Josefine ist in der Zeit als offizielle Leiterin des Räumungsprojektes häufiger in den Medien aufgetaucht, und Gabriella oder Danielle, wenn du so willst, hat sich bei ihrem Anblick in ihren Hass hineingesteigert und wollte sich an Josefine rächen, die in ihren Augen für die Exhumierung des Grabes ihres Bruders verantwortlich war. Josefine war sozusagen die Repräsentantin des gesamten Räumungsprojektes, auch wenn sie nur für einen Teilbereich zuständig war, nämlich die Katalogisierung und Untersuchung der Knochen. Ich habe ein Foto von Rita in einer der Zeitungen gesehen, und es ist unglaublich, wie die beiden sich aus bestimmten Blickwinkeln ähneln. Irgendwann stellte Danielle fest, dass sie die falsche Frau umgebracht hatte, und entwarf einen neuen Plan, Josefine zu töten. Sie entwendete ihre Wohnungsschlüssel, die Kopie, die Josefines Vater bei sich zu Hause hängen hatte. Danach deponierte sie eine Satansmünze in der Wohnung, die Josefine kurze Zeit später durch Zufall entdeckte.«
»Wieso hat Gabriella Josefine nicht einfach in ihrer Wohnung ermordet, als sie die Münze platziert hat? Warum hat sie gewartet?«
»Ich glaube, dass in ihrem Leben Rituale eine ganz wichtige Rolle gespielt haben. Es musste auf die für sie korrekte Weise geschehen … Typisch Serienmörder …«
»Schon ein schräger Zufall, dass sie ausgerechnet bei Josefines Vater Pflegerin war«, bemerkte Jørgen.
»Das war kein Zufall, sie hat sich zielgerichtet auf die Stelle beworben, um an Josefine ranzukommen. Ihr Hintergrund als Entwicklungshelferin wird sie für die Arbeit bei der Hauspflege qualifiziert haben.«
»Und was ist mit Luisa?«
»Sie war Vollwaise und geistig leicht zurückgeblieben, ich denke, Pater Dominic war ihr eine große Stütze. Möglicherweise glaubte Danielle, dass das hübsche naive Mädchen dem Priester den Kopf verdreht hatte. Sie hat die beiden häufiger privat zusammen gesehen und war vermutlich überzeugt davon, dass Luisa es darauf abgesehen hatte, Pater Dominic ins Verderben zu locken.«
»Glaubst du, dass er in Luisa verliebt war?«
»Keine Ahnung. Aber er ist ja auch nur ein Mensch, und wir Menschen sind nun mal von unseren … Trieben geleitet …«
»Das würde ich niemals schaffen«, sagte Jørgen todernst. »Also, im Zölibat zu leben, meine ich …«
»Nach dem Mord an Luisa tauchte die junge hübsche Belinda in der Sprechstunde des Paters auf«, fuhr Xander fort. »Es ist wahrscheinlich, dass Danielle als seine Haushälterin Belinda zusammen mit Pater Dominic gesehen hat. Oder vielleicht hat sie ihnen auch nachspioniert. Jedenfalls deutet nichts darauf hin, dass Belinda etwas von Danielles doppelter Identität wusste. Ein neuer Grund zur Eifersucht für Danielle und das Motiv, Belinda ebenfalls zu töten.«
»Aber wie hängt das alles mit dem Mord an der Psychiaterin zusammen?«
»Der Priester hat gesagt, er hätte Isabellas Namen und die Praxisnummer auf einem Block notiert, der offen herumlag. Danielle kann den Zettel also ohne Weiteres gesehen haben. Sie beschloss, Belinda zu töten, wusste aber nicht, wie sie an das Mädchen rankommen sollte. Darum ging sie zu der Psychiaterin, was voraussetzte, dass sie ein paar psychische Symptome vortäuschte, um eine Überweisung zu bekommen. Möglicherweise hat die Psychiaterin begriffen, welche Gefahr von Danielle ausging, und hat sie zur Rede gestellt oder auf irgendeine Weise zu erpressen versucht. Und Danielle hat ihrerseits gemerkt, dass die Psychiaterin ihr Spiel durchschaut hatte, und beschloss, sie umzubringen, bevor sie ihren Bluff auffliegen ließ. Aus ein paar Mails von Belindas Computer, die die Techniker gesichert haben, geht hervor, dass Belinda und Danielle am selben Tag ihre Termine bei der Ärztin hatten. Darüber haben sie auch herausgefunden, dass Belinda auf ein paar satanischen Webseiten unterwegs war mit pornographischen Fotos nackter Frauen, die es in einer Art satanischem Weiheritual mit Männern in Kapuzenumhängen treiben. Völlig krank. Nach Aussage der Techniker hat Gabriella Belinda in eine Falle gelockt. Über ein gefaktes Facebook-Profil hat sie ein Date in Taastrup arrangiert, wo sie Belinda umgebracht hat.«
Jørgen starrte mit leerem Blick durch den Raum.
»Aber warum ändert sie ihre Signatur? Ich meine … Sie hat das Kreuz nicht in alle Opfer geritzt … Und Serienmörder sind doch Gewohnheitstiere …«
»Darüber habe ich auch nachgedacht«, antwortete Xander. »Ich denke, sie hat eine Art Transformation durchgemacht, und vielleicht ging es ihr am Ende darum, der Welt zu zeigen, dass sie in der Lage war, ihren Opfern das Böse auszutreiben, was weiß ich. Sie scheint ihre Signatur zu einer Art makabrem Manifest verfeinert zu haben, als sie begann, mit dem Blut der Opfer Kreuze zu malen.«
»Aber der Mord an der Altenpflegerin Alice Hansen fällt fundamental aus der Reihe.«
»Ja, und dafür sehe ich nur eine Erklärung«, sagte Xander. »Sie hat eine konkrete und massive Bedrohung für Danielle dargestellt und musste darum aus dem Weg geräumt werden. Ich kann nur raten, aber vielleicht hat sie Danielle ja auf frischer Tat ertappt, wie sie sich im Haus von Josefines Vater am Stromkasten zu schaffen gemacht hat.«
»Aber wie zum Teufel hat sie das mit dem Strom so hingekriegt?«
»Ihr Vater war Elektriker, vielleicht hat er ihr die grundlegenden Dinge beigebracht«, antwortete Xander.
»Ich verstehe immer noch nicht, wie sie es an dem Wachposten vorbei in Josefines Wohnung geschafft hat … Immerhin stand Josefine unter Polizeischutz, und Danielles Steckbrief lag in allen Polizeistationen aus.«
Jørgen rieb sich das Kinn.
»Ein Zeuge sagte aus, dass es in der Nähe von Josefines Wohnung einen Unfall gegeben hatte. Vermutlich hat Danielle den Wohnungskomplex observiert und auf eine Gelegenheit gewartet, unbemerkt an unserem Kollegen vorbeizukommen. Sie hatte zwar die Schlüssel für die Haus- und die Wohnungstür, hätte aber vermutlich mit dem Motorradhelm und dem dunklen Visier Aufmerksamkeit und Verdacht geweckt. Also hat sie den Unfall genutzt, als die Aufmerksamkeit des Polizeibeamten abgelenkt war, um ungesehen ins Haus zu kommen.«
Jørgen nickte langsam.
Es entstand eine Pause.
»Hast du Kenneth gefragt, ob er das Bild vergrößern kann?«
Jørgen reichte ihm einen braunen Umschlag.
Xander zog ein Foto aus dem Umschlag und betrachtete den vergrößerten Ausschnitt des Afrikabildes, das er von Danielle ausgeliehen hatte. Besonders interessierte ihn die dunkle Gestalt im Hintergrund. Kein Zweifel. Das war Pater Dominic. An seinen Augen war er zu erkennen. Das letzte Mal hatte Xander den Priester wegen des Vollbartes auf den ersten Blick nicht erkannt.
»Ein gut aussehender Mann«, kommentierte Jørgen. »Vielleicht war Danielle ja in ihn verliebt …«
»Ja, nicht auszuschließen. Aber gleichzeitig hat sie wohl auch gehofft, dass Pater Dominic ihre Seele retten kann. Vielleicht hatte sie Angst davor, was Gott am Jüngsten Tag zu ihren Verbrechen sagen würde? Sie hat ihn im Rahmen ihrer Arbeit für die Entwicklungshilfeorganisation kennengelernt«, sagte Xander.
»Hinsichtlich der Fingerabdrücke, die du Danielle abgeluchst hast, hattest du übrigens recht … Oder sollen wir sie Gabriella nennen?«
Xander lächelte verhalten. Okay, es war sicher nicht ganz korrekt von ihm gewesen, Danielle dazu zu bringen, das Foto selber von der Wand zu nehmen, ohne sie über ihre Rechte aufzuklären, aber im Hinblick auf den Ernst der Lage hatte er sich gezwungen gesehen, dem Ganzen etwas auf die Sprünge zu helfen. Immerhin hatte dieser Vorstoß eine Übereinstimmung zwischen den Fingerabdrücken in der Praxis, in der Unterführung und auf dem Bilderrahmen ergeben. Und mit den Fingerabdrücken im Knochendepot in Avedøre.
»Pater Dominic behauptet übrigens steif und fest, Belinda sei ein klassischer Fall gewesen«, sagte Xander.
»Für was?«
»Für echte Besessenheit durch den Teufel. Weil sie die Augen so verdreht hat, dass nur noch das Weiße zu sehen war, und weil sie extrem stark auf seine christlichen Rituale reagiert hat. Als er ihre Haut mit ein paar Tropfen Weihwasser bespritzt hat, ist sie zusammengezuckt, als wäre es Säure. Und als er begonnen hat, lateinisch zu beten, ist sie ausgerastet …«
»Das hört sich ziemlich spooky an.«
»Ja.«
»Aber der Doktorvater war nicht besessen, oder?«
»Nein. Aber als Leiter des Knochendepots gehörte er aus Danielles Sicht wohl auf alle Fälle zu den bösen Schurken. Er sammelte Skelette von Friedhöfen und bewahrte sie in einer gewöhnlichen Fabrikhalle auf. Von ihrer Warte aus betrachtet dürfte das ein noch teuflischeres Vergehen gewesen sein als das, was auf dem Assistens Kirkegård vor sich ging, wo die Skelette zumindest an anderer Stelle wieder in geweihter Erde begraben wurden. Aber ihr Hauptanliegen war, Josefine in eine Falle zu locken. Dabei kam er ihr als Leiter des Skelettlagers vielleicht als besonders attraktives Opfer vor …«
»Der Pater hat übrigens gesagt, dass er für uns beten wird«, sagte Xander.
»Schön, dann können wir ja nachts wieder ruhig schlafen«, sagte Jørgen und lächelte.
»Er befürchtet, dass das hier erst der Anfang ist.«
»Der Anfang von was?«
»Das habe ich nicht ganz verstanden, aber natürlich irgendwas mit dem Teufel. Er hat irgendwas Lateinisches zitiert, was er mir übersetzen musste … was über Satan, der weichen solle oder so ähnlich. Und etwas mit einem Heiligen Kreuz, das ein Licht sein soll …«
»Ernsthaft?«
Xander nickte.
»Mal ehrlich, Xander, du hörst dich an wie der heilige Franziskus. Verdammt, sag nicht, dass du bekehrt worden bist. Das verkrafte ich nicht!«
»Nein, natürlich nicht«, versicherte Xander ihm.