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Obwohl ihn die Untätigkeit rastlos machte, hatte Guy es nicht eilig damit, Pinkrose alles zu erklären. Er hatte vorgehabt, am Montagmorgen ins Athénée Palace zu gehen, schob es aber so lange auf, dass das Mittagessen bereits auf dem Tisch stand, und da beschloss er, noch bis zum Abend zu warten.

Als sie gerade essen wollten, läutete das Telefon. Es war Dobson, der ihnen mitteilte, dass Pinkrose in höchst alarmiertem Zustand in der Gesandtschaft aufgetaucht sei. Am Morgen habe Galpin ihn in der Hotelhalle angehalten und es für nötig erachtet, ihm von dem Überfall auf Inchcape zu erzählen. Pinkrose sei umgehend zu Inchcapes Wohnung gegangen, wo er von Pauli erfahren habe, sein Freund habe Rumänien verlassen. In Panik sei er zur Gesandtschaft geeilt und habe gefordert, dass augenblicklich ein Flugzeug gechartert werden müsse, um ihn nach Hause zu fliegen.

«Ja.»

«Und wozu diese Heimlichtuerei?» Dobson schlug einen leichten, beinahe amüsierten Ton an, aber die Schärfe darunter war unüberhörbar. Ohne auf Antwort zu warten, sprach er schnell weiter. «Nun, mein lieber Freund, der vornehme Lord fällt jetzt in Ihren Zuständigkeitsbereich. Er war über eine Stunde hier und hat unser aller Zeit verschwendet, lächerliche Forderungen hinsichtlich seiner Rückreise gestellt et cetera. Wir haben einfach nicht die Zeit, uns um so etwas zu kümmern. Seine Exzellenz hat ihm gesagt, er solle nach Persien oder Indien fliegen, aber er behauptet, kein Geld zu haben. Ich habe ihm nahegelegt, nach Athen zu gehen, wo er aus der Schusslinie ist und vermutlich verwandten Geistern begegnen wird. Jedenfalls haben wir ihm ein Ausreisevisum besorgt. Er ist frei, zu gehen, wohin er will. Seien Sie so gut und halten Sie ihn uns in der Zwischenzeit vom Leib. Versuchen Sie, ihm klarzumachen, dass die Aktivitäten der Gardistenbewegung entgegen seiner Überzeugung nicht, ich wiederhole, nicht, gegen ihn persönlich gerichtet sind.» Dobson schloss mit einem Lachen, legte dann unvermittelt auf.

Guy setzte sich an den Tisch und sagte: «Ich gehe direkt nach dem Mittagessen.»

Nach dem Mittagessen blieb er sitzen. Da sie wusste, wie unangenehm die bevorstehende Unterredung für ihn werden würde, machte Harriet keinen Versuch, ihn anzutreiben. Sie würde am folgenden Tag abreisen und ging ins Schlafzimmer, um die Kleidungsstücke auszusuchen, die sie mitnehmen wollte. Nach ein paar Minuten kam er ihr mit hängendem Kopf nach und sagte: «Vielleicht könntest du ja mit mir

«Na gut, aber ich muss zuerst mit Sasha sprechen.»

Sie hatte Sasha einen kleinen, billigen Koffer gekauft, in den die Kleidungsstücke passten, die Guy ihm abgetreten hatte. Er wollte einige seiner Zeichnungen mitnehmen, und da diese auf den Boden von Harriets Handkoffer gelegt werden mussten, ging sie in sein Zimmer. Sie fand ihn wie ein Kätzchen zusammengerollt auf dem Bett vor.

Da sie sich über die Dauerbeschallung durch die Mundharmonika beklagt hatte, spielt er sie nun, umklammert mit beiden Händen, beinahe tonlos.

Seine Habseligkeiten waren ordentlich auf dem Tisch ausgelegt. Die Zeichnungen lagen bereit, sodass sie sie einpacken konnte.

Sie fragte: «Was ist das für eine alberne Melodie, die du da spielst?»

Er löste seine Lippen von der Mundharmonika, um zu sagen: «‹Hey, hey, hey Ionesculi›. Das singt Despina immer.»

Sie versuchte streng zu klingen. «Du weißt bestimmt, wenn wir nach Athen kommen, wirst du ein ernsthaftes Studium anfangen müssen.»

Er lächelte sie über das Instrument hinweg an, dann setzte er es sich wieder an die Lippen.

 

Obwohl Guy und Harriet zur Siesta-Zeit im Hotel ankamen, waren die Halle und das Vestibül voller Menschen. Wie an dem Tag, an dem die Heeresmission eingetroffen war, konnten die Hotelangestellten nicht einmal der Hälfte der Menschen einen Sitzplatz anbieten, die für ihren Kaffee nach dem Mittagessen gekommen waren.

Prinzessin Teodorescu hatte das Hotel betreten. Wie andere aus ihrer Gesellschaftsschicht war sie in dem Vertrauen nach Bukarest zurückgekehrt, dass ihre deutschen Kontakte sie vor der Eisernen Garde schützen würden. Man munkelte, sie habe unter den jungen deutschen Offizieren bereits einen Liebhaber gefunden. Einige dieser Offiziere standen um sie herum, während sie fieberhaft redete, zuckende Bewegungen mit den Schultern machte und wild gestikulierte. Sie trug einen neuen Leopardenfellmantel. Gab es einen abstoßenderen Anblick, fragte Harriet sich, als den einer dummen, egoistischen, habgierigen Frau im Fell eines Tieres, das so viel ehrfurchtgebietender war als sie selbst?

Hadjimoscos war Teil der Gruppe. Er glitt auf seinen Kinderschuhen umher, und sein rundlicher kleiner Körper sah seltsam weich aus, wie mit Sägespänen gefüllt. Er ging von einem Offizier zum nächsten, vertiefte sich in ernsthafte Gespräche, hob entzückt sein flaches, weißes Tatarengesicht und legte ab und an seine kleine, weiße, wulstige Hand auf einen deutschen Unterarm. Ein stämmiger, plattfüßiger Mann, der sich bewegte wie ein Wanderfalke, gesellte sich zu ihnen: ein bekannter deutscher Finanzier, den man hergeholt hatte, damit er Rumäniens in Auflösung begriffener Wirtschaft mit seinem Rat zur Seite stand.

«Aber das Beste haben Sie noch gar nicht gesehen.»

«Seit wann sind die da?», fragte Guy starr.

«Das weiß keiner. Aber die zwei sind nicht die Einzigen. Es sind Dutzende. Haben Sie das von Wanda gehört?»

«Nein», antworteten die Pringles, die die Verpflichtung verspürten, allmählich Pinkrose aufzusuchen, sich jedoch nur zu gern aufhalten ließen.

«Ah!» Galpin hob theatralisch sein langes, griesgrämiges, unaufrichtiges Gesicht. «Sie haben sie rausgeworfen, die Mistkerle.»

Da hatten sie also eine weitere Person, die aus dem Kreis der Engländer verschwunden war.

Pinkrose rief, als Guy an seine Tür klopfte, mit hoher, erregter Stimme: «Entrez, entrez.»

Sie trafen ihn auf Knien an, er stopfte gerade seine Kleider in seine Reisetasche. Er trug einen geblümten Baumwoll-Kimono, wie ihn in Japan die jungen Frauen in den Teehäusern trugen. Sein Kopf fuhr herum, und als er die Pringles erblickte, schien ihre Dreistigkeit ihn zu erstaunen, aber er hatte nichts zu sagen und wandte sich wieder dem Packen zu.

Guy versuchte, Inchcapes Abreise zu erklären. «Er hofft, sehr bald wieder hier zu sein», sagte er.

Pinkrose schien nicht zuzuhören. Er rappelte sich auf, zog den Kimono aus und stopfte ihn zu den anderen Sachen. Er trug Hemd, Hose und mehrere Wollstrickjacken. Hastig schlüpfte er in sein Jackett und sagte: «Ich nehme den nächsten Zug zur Fähre nach Konstanza.» Er ging herum und sammelte letzte

Während er sich in Einzelheiten seiner Reise nach Bukarest erging und ihre Gefahren und Unannehmlichkeiten hervorhob, rammte er eine große Anzahl kleiner Fläschchen in ein tragbares Arzneiköfferchen.

«Und Sie, Pringle», sagte er und warf Guy einen bösen Blick zu, «Sie waren an der Sache beteiligt. Ich habe Sie mehr als einmal im Hotel gesehen. Sie haben sich entschieden, mich nicht wissen zu lassen, was vor sich ging. Ich musste es von einem Fremden erfahren.»

Nachdem Guy, der alles mit kläglichem Schuldbewusstsein über sich ergehen ließ, keinen Versuch unternahm, sich zu verteidigen, fiel Harriet Pinkrose ins Wort. «Professor Inchcape wollte Sie nicht beunruhigen. Er hat uns strikte Anweisung erteilt, Ihnen bis zu seiner Abreise nichts zu sagen.»

Pinkrose, der sich gerade diverse Schals um den Hals wickelte, sog Luft durch die Zähne ein, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Ein kleines, drohendes Lächeln lag auf seinen Lippen. Nach einigen Momenten sagte er: «Die Zentralverwaltung wird von alledem im Detail erfahren. Soll der Vorstand

Der Zug zur Fähre nach Konstanza ging um halb vier. Pinkrose blieb kaum noch Zeit, ihn zu erwischen. Dieser Umstand und die Tatsache, dass das Schwarze Meer um diese Jahreszeit einigen Seegang aufweisen konnte, ließ Guy seine Sprache wiederfinden. «Warum warten Sie nicht bis morgen? Meine Frau nimmt das Flugzeug nach Athen. Dobson fliegt ebenfalls …»

«Nein, nein», unterbrach Pinkrose ihn ungeduldig, «ich freue mich auf die Seereise. Sie wird mir guttun.» Er nahm seinen Mantel. Als Guy vortrat, um ihm hineinzuhelfen, wich er schwungvoll zurück und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Ein Hoteldiener kam herein, um das Gepäck zu holen. Pinkrose hatte ein Taxi bestellt, das nun auf ihn wartete.

Harriet sagte: «Auf Wiedersehen.» Pinkrose blickte zu ihr herüber, offensichtlich hielt er sie für unschuldig, und machte eine Bewegung auf sie zu, die, wenn man ihr Zeit gegeben hätte, in einen Handschlag hätte münden können – aber er konnte nicht warten. Ohne ein Wort an Guy ging er hinaus.

Allein im Zimmer hatten die Pringles das Gefühl, unbefugt dort zu sein. Harriet legte den Arm um Guys Taille. «Darling, wie kann ich morgen abreisen und dich hier zurücklassen?»

«Du wirst mir eine Stelle besorgen», rief er ihr ins Gedächtnis.

Ihre Trübseligkeit hellte sich ein wenig auf, als sie auf den

«Pinkroses Zimmer, nehme ich an», sagte Guy, erzählte von dem Überfall auf Inchcape und dem, was er «die Flucht der Professoren» nannte.

David kicherte bei der Vorstellung von Pinkrose in dem japanischen Hausmantel in sich hinein. «Ich kenne mehr als einen, der für diesen Anblick viel Geld bezahlen würde», sagte er. «Der Einsiedler besitzt eines der prachtvollsten Häuser in Cambridge, aber niemand hat es je von innen gesehen. Das Traurige an alledem ist, dass Inchcape vermutlich sein einziger Freund ist.»

Als er vernahm, dass Clarence ebenfalls fort war, lächelte David nachsichtig. «Ich mochte den alten Clarence», sagte er

Als sie zusammen durch die Halle gingen, stockte David, als er die schwarzen Gestalten von der Gestapo zum ersten Mal sah. An Guy gewandt hob er eine Augenbraue, doch keiner von ihnen sagte etwas. Sie verließen das Hotel in dem Gefühl, dass es nichts zu tun gab, als auf das Ende zu warten. Sie wollten sich nicht trennen.

David musste sich in der Gesandtschaft melden und bat die Pringles, mit ihm zu kommen.

Als sie am Randstein standen und auf eine trăsură warteten, beobachteten sie eine gardistische Motorradkolonne in neuen Lederjacken und Fellkappen. Lärmend und zielgerichtet brausten sie vorbei, mit harten Gesichtern, als seien sie auf dem Weg zu einer Hinrichtung oder dem Verhör eines Verräters, doch nachdem sie den Platz mit Höchstgeschwindigkeit einmal umrundet und dabei Fußgänger und Autos an den Fahrbahnrand getrieben hatten, verschwanden sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

«Keine besonders nützliche Beschäftigung», sagte Harriet, «aber es macht bestimmt großen Spaß.»

Sie blieben in der trăsură sitzen, während David seine Rückkehr vermeldete, und Harriet hielt dabei fest Guys Hand. Um sie zu trösten, sagte er: «Hast du gehört, was David gesagt hat? Vielleicht komme ich hier schneller weg, als wir glauben.»

«Hm.» Harriet hegte die Befürchtung, dass er zu lange ausharren würde und dann vielleicht überhaupt nicht mehr abreisen könnte, aber sie hatte aufgehört, ihn anzuflehen. Sie wusste, dass er sich verpflichtet fühlte, seine Arbeit zu einem

Als sich David wieder zu ihnen gesellte, sagte er: «Ich muss mich mit jemandem treffen, aber noch nicht gleich. Wollen wir die Chaussée hinauffahren?»

Die Sonne stand tief am Himmel. Sie hatten das Verdeck der trăsură heruntergeklappt und spürten die schneidende kleine Brise im Gesicht, die in den kommenden Wochen zu dem Wind werden würde, der den Schnee mit sich brachte. Die Chaussée wirkte bereits winterlich. Die von der glühenden Sommerhitze vertrockneten Bäume waren vollkommen kahl. In den Gartenrestaurants war alles abgedeckt. Die Cafés hatten die Markisen und Sonnenschirme hereingeholt, manche hatten gleich ganz geschlossen. Der Oktober war da, und das Leben spielte sich wieder drinnen ab.

David sagte: «Es macht das Gerücht die Runde, Deutschland habe wichtige Pläne für Rumänien und dass es dadurch seinen Rang in der Welt zurückgewinnen wird.» Als er darauf in sich hineinkicherte, fragte Guy: «Und was hältst du davon?»

«Ich glaube, die Deutschen werden dieses Land ohne die geringsten Skrupel verschlingen. Sie fordern bereits Rekruten. In den Zeitungen steht davon natürlich kein Wort, aber ich höre, dass rumänische Bauern in Viehwaggons verladen und zur Ausbildung nach Deutschland verschickt werden. Die armen Kerle, sie gehen freiwillig, weil ihre Offiziere ihnen erzählen, sie würden für England kämpfen.»

Harriet fragte: «Denken die wirklich, die Deutschen seien Engländer?»

«Sie denken überhaupt nicht. Aber wenn es so weit ist, wird man ihnen sagen: ‹Das da ist der Feind. Kämpft!› Und sie werden kämpfen und sterben.»

David sagte: «Ich muss diesen Menschen im Golfclub treffen.»

«Im Golfclub!»

David lachte. «Es soll ein geheimes Treffen sein. Deswegen hat man sich für den Golfclub entschieden.»

«Ich war noch nie im Golfclub», sagte Harriet.

«Dann komm mit und schau ihn dir jetzt an. Möglicherweise ist es die letzte Gelegenheit.»

Der hinter einer Wand von immergrünen Pflanzen versteckte Club war in den Zwanzigern von englischen Geschäftsleuten gegründet worden, deren Geschäft hier florierte. Mit beachtlicher Kunstfertigkeit hatten sie aus dunklen Ziegeln, moosigen Rasenflächen und feuchten Wegen einen englischen Landsitz des späten neunzehnten Jahrhunderts reproduziert. Die Tür zum Clubhaus stand offen. Das Haus wirkte verlassen. Guy, Harriet und David gingen zum Salon durch, dessen zwei große, bodentiefe Fenster auf den Golfplatz hinausgingen, der sich auf der Rückseite des Hauses erstreckte. Die zahlreichen Sessel im Raum waren mit verblasstem Chintz bezogen. Auf kleinen Tischen stapelten sich zerfledderte Ausgaben englischer Zeitungen.

Durch die offenen Glastüren drang mit der Luft der Geruch von kalter, feuchter Erde herein. Von irgendwoher im oberen Stockwerk drang das Brr-Brr eines Telefons herunter, an das niemand ging.

Die Pringles fragten nicht, wen David hier treffen wollte,

Der eine Mann war Wheeler, ein hochrangiger Beamter der Gesandtschaft, den die Pringles von Gesellschaften her kannten. Der andere war ein Fremder, gutaussehend, mittelgroß und mittleren Alters. Er trug einen dunklen Mantel und eine Melone und hatte einen zusammengeklappten Regenschirm dabei.

Als sie David bemerkten, der sich selbstbewusst, aber, da er so viel jünger war als sie, mit einer gewissen Ehrerbietung näherte, blieben die beiden Männer stehen. Die drei begannen zusammen auf und ab zu gehen, spazierten langsam vierzig Meter in die eine Richtung, dann machten sie kehrt und gingen wieder zurück. Aus dem regengrünen Gras, das in dem Zwielicht leuchtete, stieg Nebel auf, verschleierte die Büsche in der Ferne und waberte um die Beine der dahinschlendernden Männer.

Harriet erinnerte sich an die Zeit, in der Frankreich gefallen war, als sie Tag für Tag mit anderen Engländern im Garten des Athénée Palace gesessen hatte, den sie seitdem nicht mehr betreten hatte. Nun befand sie sich in der nächsten angespannten Situation, im Golfclub, den sie nie zuvor besucht

Sie fragte: «Dachten die, dass es zu Hause so aussieht?»

Guy nahm einen Putter, den jemand in der Ecke hatte stehenlassen, und sagte: «Lass uns rausgehen.»

Sie spazierten zum ersten Green. In unaufdringlicher Entfernung zu den drei Konferierenden blieben sie stehen, und Guy begann mit einem imaginären Ball zu spielen. Für Harriet gab es nichts zu tun, als zuzusehen.

Die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grashüpfer. Die Sonne war untergegangen, und es begann zu dämmern, als die Pringles bemerkten, wie der Vorsitzende des Beratungsausschusses, David und Wheeler im Schlepptau, mit amüsierter Miene auf sie zukam. Ohne darauf zu warten, dass sie einander vorgestellt wurden, sprach er Guy mit der ungezwungenen Leutseligkeit eines Mannes an, der zur Bedeutsamkeit erzogen worden ist.

«Von da drüben sah es aus, als würden Sie hier Schlangen töten.»

Guy errötete leicht und lachte. «Nein, ich schlage nur die Zeit tot.»

«Aha», machte der Mann und nickte mitfühlend.

Harriet wurde vorgestellt. Der Mann, Sir Brian Love, stützte sich auf seinen Regenschirm, hielt sein glattes, gut rasiertes und wohlgenährt rosafarbenes Gesicht in die Luft und sog den feuchten Waldgeruch ein. «Sehr angenehm hier», sagte er und strahlte Wohlbehagen aus. Wheeler, ein dünner Mann, dessen dünner Schnurrbart zwischen faltigen Wangen herabhing, wartete und spielte an seinem Autoschlüssel herum.

Die drei jungen Leute warteten ebenfalls, dass sie entlassen würden, doch Sir Brian schien es mit der Rückreise nicht eilig zu haben. «Riecht nach England», sagte er. «In Kairo herrscht eine Bruthitze. Keine Spur von Herbst. Ich bezweifle, dass sie da einen Herbst haben.» Er lachte und sagte zu Wheeler: «Könnten wir nicht alle irgendwohin fahren und etwas trinken?»

Wheeler sah überrascht aus und entgegnete dann: «Dafür fehlt uns wirklich die Zeit, Sir Brian. Seine Exzellenz isst um sieben Uhr zu Abend, und da Sie heute Nacht noch zurückfliegen …»

Sir Brian nickte, zeigte aber keine Neigung, sich von der Stelle zu rühren. Er blickte zu den dunklen Fenstern des Clubs auf. «Hier ist ja nicht viel los», sagte er.

«Von den Mitgliedern ist praktisch niemand mehr da», antwortete Wheeler.

«Trotzdem ist es nach dem Mittleren Osten eine Wonne.»

«Waren Sie in letzter Zeit in England, Sir?», fragte Guy.

Während Wheeler sich mit gerunzelter Stirn darauf konzentrierte, den Wagenschlüssel vom Schlüsselring zu bekommen, sprach Sir Brian ohne Eile von dem neuen Kameradschaftsgefühl, das, wie er sagte, die Klassenschranken in England durchbrach und die Menschen zusammenschweißte. «Die Sekretärin nennt einen ‹Brian›, und der Fahrstuhlführer sagt: ‹Wir sitzen alle im selben Boot.› Das gefällt mir. Das gefällt mir sehr.» Beim Sprechen hatte er ein- oder zweimal einen neckischen Seitenblick zu Wheeler hinübergeschickt, was die anderen für ihn einnahm. Sie bekamen das Gefühl, er sei einer von ihnen und schlage sich entgegen der starren Vorurteile der Gesandtschaft auf ihre Seite.

Wheeler, der nicht zuhörte, seufzte auf. Der Wagenschlüssel hatte sich vom Ring lösen lassen. Er sah ihn verblüfft an und nahm sich dann die schwierigere Aufgabe vor, ihn wieder draufzuzwängen.

«Nach dem Krieg werden wir eine neue Welt kennenlernen», sagte Sir Brian und lächelte die drei jungen Leute an, die ihn alle mit hingerissenen, wehmütigen Blicken ansahen. «Eine klassenlose Welt, möchte ich meinen.»

Harriet dachte darüber nach, wie seltsam es war, in diesem melancholischen Licht diesem wichtigen Menschen zu lauschen, der heute Nachmittag eingeflogen war und abends wieder wegfliegen würde – ein unwirklicher Besuch in einer Situation, die ihm unwirklich vorkommen musste. Und doch, wirklich oder nicht, die anderen Männer würden zurückbleiben und dem Risiko ausgesetzt sein, dass man sie verhaftete, folterte und umbrachte.

Es klang abschließend, er stand aufrecht da, bereit zum Aufbruch.

David trat vor. «Meiner Ansicht nach», sagte er, «hätte man etwas machen können.»

«Tatsächlich!» Der Vorsitzende hielt überrascht inne.

«Wir haben dieses Land vor Monaten durch die idiotische Entscheidung verloren, Carol um jeden Preis zu unterstützen. Die besseren Elemente hier haben sich geweigert, einer solchen Regierung zu dienen. Maniu und die anderen Liberalen hätten sich auf unsere Seite geschlagen, aber wir konnten mit ihnen nichts anfangen. Wir haben dafür gesorgt, dass eine Bande von Schurken an der Macht bleibt. Kein Wunder, dass das Land gespalten wurde.»

«O.» Sir Brian blieb unverbindlich, ein unparteiischer Mann, der bereit war, sich beide Seiten anzuhören. «Und wie schätzen Sie die Situation ein?»

Wheeler rieb sich entnervt über die Stirn.

Mit Bestimmtheit und nun ohne jede Befangenheit antwortete David: «Ein vereintes Rumänien – das heißt, ein Rumänien, das die Loyalität all seiner Minderheiten gewonnen hätte, indem es sie fair behandelt hätte – hätte sich den ungarischen Forderungen widersetzen können. Vielleicht hätte es sich sogar Russland widersetzen können. Wäre es stabil geblieben, hätten sich Jugoslawien und Griechenland mit ihm verbündet, vielleicht auch Bulgarien. Eine Balkan-Entente! Was vielleicht nicht viel, aber besser als nichts gewesen wäre. In einem stabilen Land mit vernünftiger Innenpolitik wäre die Eiserne Garde

Sir Brian hatte beide Hände auf den Griff seines Schirms gelegt, stand aufrecht da, den Kopf gesenkt.

Wheeler räusperte sich und bereitete sich darauf vor, diese Einschätzung einzukassieren, aber David ließ sich nicht einkassieren. «Und», beharrte er, «da sind die Bauern, eine eindrucksvolle Streitmacht, wenn wir uns dazu durchgerungen hätten, sie zu organisieren. Man hätte sie dazu ausbilden können, bei jedem Hinweis auf eine Unterwanderung durch die Deutschen einen Aufstand anzuzetteln. Und ich kann Ihnen sagen, die Deutschen legen keinen Wert auf Ärger an dieser Front. Sie würde nicht versuchen, ein widerspenstiges Rumänien niederzuhalten. Jetzt sieht es so aus, dass das Land in Stücke zerfallen ist, die Eiserne Garde die Macht ergriffen und die Deutschen eingeladen hat, nach Belieben hereinzuspazieren. Kurz gesagt, unsere Strategie hat dem Feind in die Hände gespielt.»

Sir Brians Kopf ruckte hoch. Lebhaft fragte er: «Und jetzt ist es also zu spät?»

«Allerdings», bestätigte David.

Der Vorsitzende warf Wheeler einen Blick zu, der nicht mehr neckisch war. Er hatte nach dem Stand der Dinge gefragt, aber so genau hatte er es dann doch nicht wissen wollen. Wheeler verlor ebenfalls die Geduld. «Ich glaube wirklich …», setzte er an.

«Meine Güte, ja, wir müssen.» Sir Brians Hand schoss vor und schüttelte Davids, Guys, Harriets Hand. «Das war alles sehr interessant. Sehr interessant, in der Tat!» Zwar war sein Charme nicht beeinträchtigt, doch irgendetwas stimmte daran nicht. Er ging voran, um das Haus, die anderen folgten ihm.

Es war beinahe dunkel. Weiterhin war kein Anzeichen von Licht oder Leben im Haus zu erkennen, aber durch die noch offen stehende Vordertür erspähte Harriet das Aufblitzen des weißen Jacketts eines Bediensteten, dessen Schlüssel in seiner Hand klimperten. Er wartete darauf abzuschließen, sobald sie, die letzten Briten, davonfuhren.

Während Wheeler ihm die Wagentür öffnete, blickte sich Sir Brian zu den drei jungen Menschen um und berührte mit dem Griff des Regenschirms seine Hutkrempe, bevor er einstieg. Er lächelte nicht. Wheeler sagte kein Wort, sondern schlug wütend die Wagentür zu, stieg selbst ein und fuhr los. Guy sah zu, wie sich die roten Rücklichter entfernten, und sagte: «Wir sitzen alle im selben Boot? Dieser Mistkerl

David blieb nachsichtig. «Das ist einfach die Doppelzüngigkeit, die seine Stellung mit sich bringt. Und Wheeler ist ein Trottel erster Güte. Er hat einmal zu mir gesagt: ‹Wenn es mit der Diplomatie so einfach wäre, wie es Außenstehenden erscheinen mag, mein lieber Boyd, würden wir überhaupt keine Kriege führen.›»

Man hatte sie wegen ihrer Jugend missachtet, und so bogen sich die drei auf der Rückfahrt in die Stadt vor Lachen, während der Wind über die dunklen, verlassenen grădinăs kalt heranwehte. Sie waren froh, als sie die beleuchteten Straßen erreichten.

Als sie auf den Platz einbogen, blickte Harriet zu dem großen, hell erleuchteten Schaufenster an der Ecke des Boulevard Brăteanu hinüber und sah, dass es leer war. Der Hispano, der dort seit zwei Monaten gestanden hatte wie ein Standbild, war nicht mehr da. Guy wies die trăsură an, vor dem

David fragte, wo sie essen würden. Harriet wollte ihr Abschiedsessen gerne bei Cina oder Capşa einnehmen, und sie entschieden, zu Capşa zu fahren.

Die wichtigsten Restaurants waren, wenn sie für die Wintermonate wieder in die Innenräume umzogen, stets renoviert und versprühten das Flair einer neuen Saison mit den ihr eigenen Aufregungen. Als sie, durchgefroren von der Fahrt in der offenen trăsură, eintraten, waren sie geblendet von dem roten Plüsch und dem Gold und den riesigen Kristallkronleuchtern des Capşa.

Das Essen war nun nicht mehr nur karg, oft war es auch schlecht, denn die Lebensmittelknappheit hatte zum Hamstern und das Hamstern zum Niedergang geführt. Doch das Capşa, das hoch in der Gunst der Deutschen stand, hatte sich einen gewissen Standard bewahrt. Die besten Fleischstücke wurden natürlich für hochrangige Deutsche und ihre Gäste zurückgelegt, aber auf der offenen Speisekarte standen normalerweise Hühnchen oder Kaninchen, auch Hasen, wenn es die Saison dafür war, und selbst eine Art von Kaviar. Im Laufe des Abends würde es hier voll werden, aber jetzt gab es eine ganze Reihe freier Tische.

An der Tür saßen in Begleitung zweier junger Offiziere der Heeresmission Prinzessin Mimi und Prinzessin Lulie. Beim Anblick der Engländer blieben ihre Gesichter ausdruckslos.

Auf Rumänisch bat David um einen Tisch. Der Oberkellner entgegnete auf Deutsch: «Es tut mir leid. Wir haben keine freien Tische.»

David wandte auf Englisch ein: «Aber die Hälfte der Tische ist nicht besetzt.»

Der andere entgegnete aus alter Gewohnheit in derselben Sprache: «Sie sind alle reserviert. Heutzutage braucht man eine Reservierung.»

David öffnete den Mund, um dagegenzuhalten, doch Harriet sagte: «Das Essen hier ist ohnehin abscheulich. Gehen wir ins Cina.» Mit dem Stolz der Geschlagenen wandte sie sich um, und als sie an den Prinzessinnen vorbeiging, fing sie den Blick eines der jungen Deutschen auf, der sie mit mitleidiger Belustigung betrachtete.

«Na gut, dann eben ins Cina», sagte David, als sie wieder auf dem Gehweg standen.

«Nein», entgegnete Harriet, den Tränen nahe. «Man wird uns bloß wieder abweisen. Lasst uns irgendwohin gehen, wo man uns nicht kennt.»

Sie entschieden sich für das Polişinel, ein Restaurant, das seit den Tagen der Bojaren existierte und einmal sehr in Mode gewesen war. Guy und David hatten dort oft gegessen, als Guy noch Junggeselle gewesen war. Sie trieben eine neue trăsură auf und fuhren hinunter in die Dâmboviţa.

Das Polişinel war zu einer Zeit erbaut worden, als es noch Land in Hülle und Fülle gegeben hatte, und hatte einen großen Gastgarten. Sie betraten den Hauptraum, der von ein paar

Ein alter Kellner machte viel Wirbel um sie, setzte sie an einen Fenstertisch mit Blick auf den Garten und eilte dann davon, um weitere Lampen zu holen. Er brachte ihnen eine große, schmutzige Speisekarte, die mit violetter Tinte von Hand geschrieben war, und flüsterte: «Friptură, ja?» Es war kein fleischloser Tag, aber er tat so, als lege er ihnen einen verbotenen Genuss ans Herz, und die drei stimmten dankbar zu.

Der Inhaber schrie erneut etwas, und ein heruntergekommenes Zigeunerorchester trat ein, das beim Anblick der Gäste beschwingt in die Saiten griff.

«Ach du lieber Gott!», sagte David. «Die denken, wir sind reich.»

«Das sind wir auch, nach ihren Maßstäben», sagte Guy.

David drehte seinen Stuhl, sodass er den unablässig lächelnden Musikanten den Rücken zuwandte, und gab sich Mühe, über das Getöse hinweg zu sprechen. «Da gibt es diese Geschichte, die gerade die Runde macht. Horia Sima und seine Burschen sind bei der Heiligen Synode vorstellig geworden und haben gefordert, dass Codreanu heiliggesprochen wird. Der Präses sagte: ‹Mein Sohn, es dauert zweihundert Jahre, jemanden heiligzusprechen. Wenn diese verstrichen sind, kannst du gern wiederkommen.›»

David schien die Musik gar nicht mehr zu bemerken. Er und Guy sprachen über Russland. Keiner von ihnen hatte das

Die Tatsache, dass er ihnen so viel von seinen Reisen durch Rumänien erzählte, war ein klares Zeichen dafür, dass ihr Leben hier zu Ende war und seine Reisen Vergangenheit waren.

«Konnte man über den Fluss nach Russland?», fragte Harriet.

«Nein, es gab kein Boot und keine Brücke, keine Möglichkeit, den Fluss zu überqueren. Es gab nur das Wasser, grau vor Kälte und von dem bitterkalten Wind aufgewühlt, und hinter dem Wasser grenzenlose, mit Schneeflächen bedeckte Weiten gelblicher Erde, die sich in die Endlosigkeit erstreckten.»

Harriet erzählte ihnen von dem jüdischen Grenzdorf, das Sasha ihr beschrieben hatte. Sie fragte: «Waren alle Bessarabier so bettelarm?»

«Vielleicht nicht bettelarm», entgegnete David, «aber arm waren sie. Deshalb haben die meisten von ihnen natürlich die Russen willkommen geheißen. Rumänien hat nie begriffen, dass man regiert, indem man die Leute von sich überzeugt, anstatt Gewalt anzuwenden. Rumänien hat es verdient, seine Minderheiten zu verlieren. Nicht dass es seine eigenen Leute viel besser behandeln würde. Die Bauern hat man immer schon ausgebeutet. Wieso sollten sie arbeiten wollen, wenn man ihnen alles, was sie produzieren, wegnimmt? Sie sind immer schon von allen ausgenommen worden, von

Guy lächelte wehmütig bei dieser Aussicht. «Wird dieser Tag jemals kommen?», fragte er.

«Vielleicht früher, als du denkst. Die Rumänen glauben, dass sie mit deutscher Unterstützung Bessarabien zurückbekommen können. Falls sie das versuchen, könnte das Ergebnis sein, dass Russland Rumänien besetzt und vielleicht gleich ganz Osteuropa.»

Ein Blumenmädchen trat an den Tisch und entnahm ihrem Korb kleine Sträußchen aus Ringelblumen und Pompon-Dahlien, die sie auf den Tisch legte, um dann in respektvollem Abstand zu warten, ob die Essensgäste kaufen wollten oder nicht. Guy gab ihr den geringen Betrag, um den sie gebeten hatte, aber sie wirkte überrascht. Sie hatte nur anfangen wollen zu handeln.

Mit dem bitteren, durchdringenden Geruch der Ringelblumen in der Nase blickte Harriet in den Garten hinaus, der gekiest und mit zahlreichen Statuen vollgestellt war. Es gab mehrere alte Bäume, die bis auf die Höhe der umliegenden Gebäude gewachsen waren und gebeugt im Wind rauschten. Dem Garten gegenüber lagen die einst berühmten salons particuliers, in denen alle Fenster erleuchtet waren. Bei einigen waren die Vorhänge zugezogen, als seien die Zimmer in Benutzung. In anderen Fenstern waren die Vorhänge mit

Als Guy bemerkte, dass sie dem Gespräch nicht folgte, sagte er: «Sie misst vorübergehenden Ereignissen keine Bedeutung bei.»

Harriet lachte. «Man muss sie nur vergehen lassen, dann verlieren sie ihre Bedeutung.»

«Du könntest mit ihnen vergehen», sagte David mit einem düsteren Lächeln.

Das Essen wurde nur schleppend serviert. Man hatte ihnen Suppe gebracht. Gute zwanzig Minuten vergingen, bis der Kellner Messer und Gabeln hinlegte, dann kam endlich die friptură.

«Zu seinen Glanzzeiten hat dieses Restaurant die besten Steaks Europas aufgetischt», sagte David.

«Was haben wir da jetzt bekommen, was meint ihr?», fragte Guy.

David kicherte. «Offenbar hat irgendeine trăsură jetzt kein Pferd mehr.»

Die Männer erinnerten sich an den Frühling und den Frühsommer des vorangegangenen Jahres, als sie oft ins Polişinel gekommen waren und über den Krieg gesprochen hatten,

«Womit sollen wir sie jetzt bezahlen?», fragte Guy und zog einen Tausend-Lei-Schein heraus.

Harriet und David sahen ihn an, entgeistert über so viel Extravaganz, aber er überreichte das Geld. «Für vergangene Freuden», sagte er.

Als sie vor der Wohnung der Pringles ankamen, war es kurz nach elf Uhr, und David ließ sich überreden, auf ein letztes Getränk mit hineinzukommen. Die Eingangshalle lag im Dunkeln. Der Pförtner war schon lange zum Militär eingezogen und nie ersetzt worden. Sie stellten fest, dass der Aufzug nicht funktionierte.

Irgendwas an dem Haus kam Harriet merkwürdig vor – vielleicht die Tatsache, dass kein Geräusch zu hören war. Rumänen blieben lange wach. Normalerweise hörte man im Treppenhaus bis in die frühen Morgenstunden Stimmen und Musik. Jetzt waren weder Stimmen noch Musik zu vernehmen. Die drei stiegen von einem dunklen Treppenabsatz zum nächsten und hörten nichts als ihre eigenen Schritte. Aus dem achten Stock fiel ein schräger Lichtschein herunter.

Harriet sagte: «Das kommt aus unserer Wohnung. Unsere Tür steht offen.»

Guy hörte ihren Schritt auf der Treppe und flüsterte: «Warte.» Er versetzte der Wohnzimmertür einen Stoß, sodass sie ganz aufschwang. Nichts bewegte sich dahinter.

David sagte: «Man muss sich nicht lange fragen, was hier passiert ist.»

Guy kam heraus und berichtete Harriet: «Wir sind durchsucht worden.»

«Und Sasha und Despina? Wo können sie sein?»

«Sie verstecken sich bestimmt irgendwo.»

Sie gingen durch die Wohnung und stiegen dabei über ein Durcheinander aus Papieren, Büchern, Kleidern und zerbrochenem Glas. Schubladen waren geleert, Betten abgezogen, Bücher aus den Regalen gezerrt, Bilder zertrümmert, Teppiche vom Boden gerissen worden. Sie begriffen, dass all das nicht in blinder Zerstörungswut erfolgt, sondern eine Suchaktion mit System gewesen war. Die Unordnung und die zu Bruch gegangen Gegenstände waren nur zufällige Folgen. Aber wonach hatten sie gesucht? Nach etwas, das man in einer Schublade oder einer Matratze verstecken konnte – also nicht nach Sasha. Aber vielleicht war Sasha das, was sie gefunden hatten.

Jedenfalls gab es von ihm keine Spur. Sein Zimmer war genauso wie der Rest der Wohnung verwüstet.

Harriet warf einen Blick in Despinas Zimmer. Es war leer. Ihre Habseligkeiten waren verschwunden.

Sie traten hinaus auf die Feuerleiter. In dem schmalen Innenhof auf der Rückseite des Hauses, zu dem die Küche hinausging, herrschte sonst selbst um diese Uhrzeit lautstarkes Treiben. Heute Abend waren alle Türen bis auf ihre geschlossen. Es brannten keine Lampen. Die Küchen schienen verlassen zu sein.

Harriet stieg die Leiter zum Dach hinauf. Die Türen der Dienstbotenhütten waren geschlossen. Harriet zog die Tür zu derjenigen auf, in der Sasha gewohnt hatte. Es befand sich nichts darin. Sie rief: «Sasha! Despina!» Niemand antwortete.

Zusammen kehrten sie in Sashas Zimmer zurück. Die Bettdecken lagen auf dem Boden, und als Harriet sie wieder auf das Bett schichtete, fiel die Mundharmonika heraus. Sie reichte sie Guy als Beweis dafür, dass man ihn mitgenommen hatte, und zwar gewaltsam. Unter den Decken befand sich auch der gefälschte Pass, halb durchgerissen – anscheinend voller Hohn.

Die Haustiere ihrer Kindheit fielen Harriet ein, deren Tode ihr das Herz gebrochen hatten, und sie sagte: «Sie werden ihn natürlich ermorden.»

«Nein», sagte Guy. «Wieso sollten sie! Ich gehe morgen zur Gesandtschaft. Man wird Nachforschungen anstellen. Mach dir keine Sorgen. Wir lassen das nicht auf sich beruhen.»

Harriet schüttelte den Kopf, sie war nicht in der Lage zu sprechen. Sie wusste, dass es nichts gab, was man tun konnte.

David sagte: «Ich denke, wir sollten hier nicht bleiben. Sie kommen wahrscheinlich zurück.»

Er stand auf dem Treppenabsatz Wache, während Harriet hastig ihren Koffer packte. Guy stopfte wahllos ein paar Hemden und Unterwäsche in seinen Rucksack, ging dann ins Wohnzimmer und begann, seine Bücher aufzuheben. Auf einigen war herumgetrampelt worden, ihre Rücken waren gebrochen, und die Seiten wiesen Stiefelabdrücke auf. Er erkannte die Brutalität, gegen die er stets Stellung bezogen hatte, und sagte sich: «Die Bestie ist eingedrungen.» Er war dankbar, dass Harriet am nächsten Tag abreisen würde. Jetzt konnte alles passieren.

Es gelang ihm, zwei Dutzend Bücher in den Rucksack zu stecken und sechs weitere in seine Taschen. Das letzte klemmte er sich unter den Arm. Es enthielt Shakespeares Sonette.

Bevor sie die Wohnung verließen, schlossen sie die Tür zum Innenhof und löschten das Licht. Sie hatten keine Zeit aufzuräumen. Sie ließen alles so liegen, wie sie es vorgefunden hatten. Als sie auf die Straße traten, hatten sie das Gefühl, entkommen zu sein.

«Ich war ziemlich nervös da drin», sagte David.

«Mein Gott», entgegnete Guy, «ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst.»

Harriet schwieg, bis sie den großen Platz erreicht hatten, dann sagte sie: «Ich kann morgen nicht abreisen. Jetzt gibt es keinen Grund mehr.»

«O doch, du musst gehen», erwiderte Guy. «Du musst mir

In Davids Hotelzimmer gab es zwei Betten. Harriet fühlte sich von dem Schrecken plötzlich völlig ausgelaugt, warf sich auf eines davon und war Sekunden später eingeschlafen. Die Männer waren zu aufgeschreckt, um zu schlafen. Sie saßen den größten Teil der Nacht zusammen, redeten, tranken und spielten Schach.