Kapitel 2

Schon im Treppenhaus des Altbaus hörte ich die Musik aus unserer Wohnung im dritten Stock dröhnen. Wut sammelte sich Stufe um Stufe in meinem Magen. Mit meinen kalten Fingern zog ich den Schlüssel hervor, und sobald ich die Tür geöffnet hatte, umhüllte mich der Sound von Communions – einer dänischen Band, der zugegebenermaßen nicht schlecht klang. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen und den Mantel an die Garderobe gehängt hatte, steuerte ich geradewegs auf das Wohnzimmer zu. Doch bevor ich die Hand nach der Klinke ausstrecken konnte, trat ich in etwas Kaltes, Feuchtes. Angewidert hob ich den Fuß. Ein dunkler Fleck hatte sich an der Unterseite meiner Socke gebildet. »Ihh!«, rief ich aus, doch ich wurde von der Musik übertönt. Suchend schaute ich mich um und entdeckte die kleine Pfütze, die wohl von Snørre, dem Hundewelpen meiner Schwester, stammte. Ich seufzte. Ich hatte zwar keine Ahnung von Hunden, aber ich fand, dass ziemlich häufig was danebenging, und dafür gab ich nicht dem Welpen die Schuld. Wie hieß es so schön? Seine Eltern konnte man sich nicht aussuchen. Das galt wohl ebenso für sein Frauchen. Ich wusste schon, warum ich alles darangesetzt hatte, ihr den Hund auszureden, als sie davon anfing. Trotzdem war der kleine Zwergpudel vor knapp vier Wochen bei uns eingezogen.

Ich drehte um und steckte beide Strümpfe in den Wäschekorb im Bad. Noch wütender als zuvor stieß ich die Tür zum Wohnzimmer auf, wo Linn mit einer Freundin auf unserer Polstergarnitur hockte und sich unterhielt. Es war mir ein Rätsel, wie sie sich bei der Lautstärke verstanden. Snørre beschäftigte sich derweil selbst, indem er auf einem meiner liebsten Flip-Flops herumkaute. Als er mich sah, begann seine Rute von links nach rechts zu schlagen, und er ließ von meinem Zehentreter ab. Meine Schwester bemerkte mich erst, als ich die Lautstärke drastisch runterdrehte.

»Lara!« Sie grinste und schien nicht den Hauch eines schlechten Gewissens zu haben. Manchmal fragte ich mich, ob sie ernsthaft so sorglos durchs Leben flatterte oder ob das einfach nur ihre Masche war. Das war ein fieser Gedanke, sie war mein Zwilling, ich liebte sie, und dennoch …

»Du hast das Treffen verpasst«, sprach ich zunächst das Offensichtliche aus.

»Ich weiß, aber Jule ist aus Kopenhagen zu Besuch, und du hast doch eh alles im Griff.«

»Hej!« Jule winkte in meine Richtung.

Ich schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, ehe ich mich wieder an Linn wendete.

»Können wir kurz in der Küche reden?«

»Worüber denn?« Sie runzelte ihre Stirn. »Kann das nicht bis morgen warten?«

»Linn, bitte!«

»Na schön.« Sie schwang ihre Beine von der Sessellehne und folgte mir. Im Flur wich ich der Pipi-Pfütze aus, warnte meine Schwester aber nicht.

»Ah! Was …? Snørre!«, rief sie prompt.

Ich konnte mir nur schwer das Grinsen verkneifen. »So ein Pech. Vielleicht solltest du regelmäßiger mit ihm rausgehen«, schlug ich unschuldig vor.

Genervt zerrte Linn sich eine Socke von den Füßen und schleuderte sie achtlos ins Bad, bevor sie zu mir in die Küche kam.

»Willst du nicht die Pfütze wegwischen?«

»Gleich!«, fuhr sie mich an. »Was willst du denn so Dringendes mit mir bereden?«

»Linn, es geht so nicht weiter. Du bist heute einfach nicht im Laden aufgetaucht und bei der Versammlung auch nicht.«

»Und wo ist das Problem? Es ist doch unser Laden. Als Inhaberin kann ich mir diese Freiheit wohl mal nehmen.«

Humorlos lachte ich auf. »Das Problem ist nur, du nimmst dir alle Freiheiten, und ich kann sehen, wo ich bleibe.«

»Immer die Spielverderberin – mache dich doch mal locker! Du führst dich ständig auf, als wärst du 18 Jahre älter und nicht nur 18 Minuten.« Sie schaute mich mit einem abfälligen Blick an, der mir einen Stich versetzte. Es war nicht immer so gewesen zwischen Linn und mir. Ich seufzte.

»Wir sind doch keine Teenies mehr, wir haben Verantwortung.«

»Schon klar. Aber ich habe jetzt halt auch Snørre, in der Welpenzeit braucht er viel Aufmerksamkeit.«

Ich ersparte es mir, sie daran zu erinnern, dass sie mir versprochen hatte, der Hund würde ihre Arbeit im Laden nicht beeinträchtigen. Stattdessen sagte ich nur: »Na ja, was machst du schon mit ihm – regelmäßig rausgehen zumindest nicht.«

»Du bist so entsetzlich selbstgerecht! Das stimmt doch überhaupt nicht! Nur weil einmal was danebengeht. Wahrscheinlich würdest du mir am liebsten einen Stundenplan schreiben, damit ich ja alles so erledige, wie es dir in den Kram passt.«

Überrascht von ihrem Ausbruch lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und betrachtete sie. Wie konnten sich zwei Menschen so ähnlich sehen und dennoch unterschiedlich wie Feuer und Wasser sein? »Mensch, Linn, das Hygge Up, das war doch unser gemeinsamer Traum! Martha hat heute verkündet, dass sie in einer Woche schließt und dass sie bereits einen Nachmieter hat. Zwei Männer mit irgendeinem kreativen Konzept. Ich hätte es gut gefunden, wenn du da gewesen wärst, und im Laden hätte ich dich heute auch gebraucht!«

»Du mich? Das wäre ja mal was ganz Neues. Du brauchst mich doch nur, um auf mir herumzuhacken und um dich auf meine Kosten zu profilieren.«

»Wie bitte?«

»Stimmt doch! Und weißt du was? Das ist mir zu blöd. Schon länger.«

Eine Weile sagte niemand etwas, und die Stille legte sich schwer über uns. Ich suchte nach den passenden Worten, um dieses Gespräch in konstruktive Bahnen zu lenken, doch dann ergriff meine Schwester wieder das Wort. »Jule geht über den Winter nach Gran Canaria, um dort in einem Hotel zu arbeiten. Sie hat mir angeboten mitzukommen, die suchen noch mehr Leute.«

Ein undefinierbarer Laut entwich mir. »Das geht wohl schlecht, schließlich hast du hier einen Laden, zumindest zur Hälfte.«

»Dann hör doch mal auf, dich so aufzuführen, als gehöre er dir allein! Und auch wenn du mir am liebsten jeden Handgriff vorschreiben würdest – ich bin nicht deine Angestellte«, giftete Linn und machte dann das, was sie nur allzu gut konnte. Sie stand auf und ließ mich stehen beziehungsweise sitzen. »Jule, komm wir gehen mit Snørre raus!«, hörte ich sie im Flur rufen.

Wenig später fiel die Wohnungstür ins Schloss. Ratlos blieb ich einige Minuten sitzen, ehe ich aufstand und im Flur die Pfütze beseitigte. Lara war schon mal eine Zeit lang auf den Kanaren gewesen. Davor war unser Verhältnis angespannt, aber als sie zurückkam, wirkte sie zunächst verändert. Mehr mit sich selbst im Reinen. Und als mir meine damalige Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt wurde, schlug sie vor, dass wir uns zusammen etwas suchen. Kleine Wohnungen waren begehrt in einer Studentenstadt wie Flensburg, die Auswahl war bei mehr Zimmern deutlich größer gewesen. Zu der Zeit arbeitete Linn in einem Callcenter und verdiente ganz gut. Glücklich waren wir allerdings beide nicht in unseren Jobs. Als ich überlegte, nicht länger als Krankenschwester zu arbeiten, kam Linn mit der Idee von einem eigenen Laden an, und schnell entwickelte sich daraus der Plan für das Hygge Up.

Im Herbst 2019 eröffneten wir. Es war unser Baby, unsere Zukunft. Dachte ich zumindest. Doch die Realität hatte mich schnell eingeholt. Menschen änderten sich nicht, hatte meine Freundin Hanna damals zu mir gesagt. Doch ich hatte ihre Bedenken in Bezug auf die Zuverlässigkeit meiner Schwester ignoriert, hatte mir alles so schön vorgestellt. Und während der Pandemie lief es – trotz der finanziellen Sorgen – mit Linn auch noch ganz gut. Heute fragte ich mich manchmal, ob sie in der Zeit, als alles geschlossen war, einfach nur nichts Besseres vorgehabt hatte. Oder ob sie jetzt einfach alles – jedes Konzert, Festival und jede noch so kleine Feier – nachholte, was in dieser Zeit ausgefallen war. Auf jeden Fall ging es mit unserer Zusammenarbeit seit gut einem Jahr stetig bergab. Und sie hatte sogar recht! Manchmal führte ich mich auf wie eine besserwisserische Kuh, aber was sollte ich denn machen, wenn sie von allein keinerlei Verantwortung übernahm? Eine Träne rollte mir über die Wange, als ich die Papiertücher in den Müll warf. Ärgerlich wischte ich sie weg und machte mir einen Tee, mit dem ich mich anschließend in den Lesesessel in meinem Schlafzimmer kuschelte. Ich nahm das Buch von dem kleinen Beistelltisch und tauchte ab in die Welt der Hauptfigur, schlüpfte in ihr Leben und ließ für eine Weile meine Sorgen in der Wirklichkeit zurück.