Kapitel 3

Die erste Novemberwoche verflog, während Martha nebenan ihren Ausverkauf durchzog. Linn tauchte mal mehr, mal weniger regelmäßig im Hygge Up auf, und ich verkniff mir eine erneute Moralpredigt. Ich kam mir eh schon viel zu oft vor wie die Meckertante vom Dienst, als die sie mich nur zu gern bezeichnete.

Kaum schloss Martha nebenan für immer ihre Türen, rückte eine Horde Typen an, die die letzten Sachen ausräumten und sämtliches Inventar gleich mit. Leider war nichts darunter, was sich für unseren Laden eignete.

Ich putzte gerade die vorderen Fenster von innen, als meine Cousine Aline durch die runde Torwölbung in den Hinterhof spazierte. Ihre roten, schulterlangen Haare schauten unter einer Strickmütze hervor. Kurz stutzte sie angesichts des Trubels nebenan, dann sprang sie in einem Satz die Stufen hoch, und die Türglocke bimmelte, als sie eintrat.

Sie schaute zunächst auf das Letterboard, das gleich im Eingangsbereich stand und auf das ich mindestens einmal in der Woche einen neuen Spruch steckte. Heute stand dort: Du kannst … Ende der Geschichte.

Häufig waren es Sprüche, die sich auf das Leben bezogen, manchmal ließen sie sich – mit einem Augenzwinkern – auch auf die Entscheidung für schöne Dinge aus dem Hygge Up anwenden. Sie sollten den Fokus auf die positiven Seiten des Lebens lenken, darauf, das Leben zu genießen.

»Hey Aline«, begrüßte ich meine Cousine, die aus Bochum stammte und die ich erst seit wenigen Wochen kannte. Ihre Mutter war vor knapp dreißig Jahren in einem Sommerurlaub vom Bruder meines Vaters schwanger geworden. Doch mein Onkel verunglückte, noch bevor Aline geboren wurde, und unsere Familie erfuhr nie etwas von ihrer Existenz. Eine wirklich tragische Geschichte. Aline musterte mich drei Sekunden – so lange brauchte sie meist, um Linn und mich zu unterscheiden.

»Moin Lara«, begrüßte sie mich dann zielsicher und wie eine echte Norddeutsche. Ich stieg lächelnd von dem Hocker und setzte mich stattdessen auf die Fensterbank, die ich eben leer geräumt hatte. Es wurde Zeit, den Laden vollständig weihnachtlich zu dekorieren, und dafür brauchte ich Platz. Bisher hatte ich nur ein paar Weihnachtssachen in eine Ecke gestellt. Die restliche Ware wartete seit Monaten im Lager darauf, ausgepackt zu werden.

»Hast du eigentlich schon mal überlegt, deine Sprüche auf ein Produkt drucken zu lassen und es dann zu verkaufen?«, fragte Aline und deutete zum Letterboard.

Daran hatte ich bisher noch nicht gedacht. »Geht das denn so einfach, wegen der Urheberrechte?«

»Da mache ich mich mal schlau. Ich glaube, wenn der Urheber länger als 70 Jahre tot ist, geht es. Außerdem könnten wir uns auch eigene ausdenken. Ich würde die Gestaltung übernehmen.«

Meine Mundwinkel bogen sich nach oben. Aline war Illustratorin und arbeitete gerade an ihrem ersten Kinder-Comic. Ihre Zeichnungen waren brillant.

»Einen habe ich schon, so bin ich damals auf den Namen gekommen. Hygge Up your Life. Weil das zu lang war, haben wir es gekürzt auf Hygge Up.«

»Oh, der Spruch ist super! Der wäre prima für euer Branding.«

Ich nickte. »Aber vielleicht schieben wir das aufs neue Jahr? Vor Weihnachten ist es hier recht stressig.«

»Klar, du hast ja auch noch den Abend mit den Adventskränzen geplant.«

Noch ein Vorschlag von Aline, den ich nur zu gern angenommen hatte. Am Freitag vor dem ersten Advent sollte im Hygge Up ein Adventskranzbinden stattfinden. Gemeinsam mit einer Floristin aus Flensburg.

»Übrigens sind schon alle Plätze weg! Das war wirklich eine grandiose Idee von dir.«

Aline zuckte ungerührt mit ihren schmalen Schultern, die in einem viel zu großen Hoodie von ihrem Freund Tom steckten. Ihre Jacke hatte sie auf einen Stuhl gelegt, die Mütze saß immer noch auf ihrem Kopf. »Bietet sich bei den vielen Tischen hier doch an. Soll ich dir am Tag vorher beim Umstellen helfen?«

»Das wäre fantastisch. Falls Linn …« Ich ließ das Ende des Satzes offen. Aline war neu in unserer Familie, und ich wollte ihre Sicht auf Linn möglichst nicht beeinflussen. Dennoch war meine Cousine mir schon das ein oder andere Mal helfend zur Hand gegangen, wenn meine werte Schwester Wichtigeres zu tun hatte, als sich um ihr eigenes Geschäft zu kümmern.

Aline trat zu mir ans Fenster und linste in den Hof. »Wird nebenan renoviert?«

»Es kommt ein neues Geschäft rein, ich weiß aber noch nicht, was für eines. Martha wollte nicht mit der Sprache rausrücken, angeblich hatte sie es vergessen.« Ich folgte Alines Blick hinaus, wo sich die Kisten stapelten. Zwar gab es einen Hintereingang, der mit dem Auto zugänglich war, dennoch transportierten die Typen einiges durch den Innenhof ab. Keine Ahnung, warum. Gut fand ich das nicht, schließlich sollten unsere Kunden sich nicht wie auf einer Entsorgungsstation fühlen. In dem Moment streiften meine Augen ein bekanntes Profil, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Hendrik Jacobi!

Was machte der denn hier? Hoffentlich kam er nicht ins Hygge Up. Sein dunkelblondes Haar trug er nach hinten gegelt, was es noch dunkler aussehen ließ. Im Nacken und seitlich waren sie so kurz rasiert, dass die Kopfhaut zu sehen war. Wie früher trug er dunkle Klamotten und schwarze Vans. Glücklicherweise ging er am Hygge Up vorbei, in Richtung Marthas Geschäft. Ob er wohl als Möbelpacker arbeitete?

Als hätte er meine Gedanken gehört, wendete er den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Seine Augen wirkten in dem fahlen Licht draußen schwarz, ein Piercing blitzte an einer Augenbraue auf. Zwei Sekunden lang starrte er mich an, ehe sein linker Mundwinkel nach oben zuckte. Er hob zwei Finger an die Schläfe und streckte seinen Arm dann leicht nach vorn, ähnlich wie bei einem Salut, nur geschmeidiger. Prompt fühlte ich mich von ihm verhöhnt. Doch obwohl er weiß Gott nicht mein Typ war, ließ sich seine Attraktivität nicht leugnen. Er sah auf eine lässige, ungewollte Art gut aus, wenngleich er in meinen Augen alles tat, um dem entgegenzuwirken. Angefangen von dem Tunnel in seinem Ohr bis hin zu den zahlreichen Tattoos. Als er vor neun Jahren mit Linn zusammen war, hatte er bereits eines gehabt, aber nun waren selbst seine Hände tätowiert, und durch eine Begegnung im letzten Sommer wusste ich, dass seine Arme genauso aussahen. Als Erwiderung auf seinen Gruß verzog ich nur schwach die Lippen und wandte mich dann rasch vom Fenster ab.

»Wer ist das?«, fragte Aline, die dicht neben mir stand.

»Hendrik, ein Ex von Linn. Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen, aber in diesem Jahr ist es schon das zweite Mal. Ganz ehrlich – ich könnte auf ein drittes verzichten.«

Aline gluckste. »Na ja, die Chancen stehen wahrscheinlich gut, dass dein Wunsch in Erfüllung geht, immerhin ist schon November. Obwohl er doch nett anzusehen ist.«

»Findest du?«, gab ich mich betont gleichgültig, obwohl ich sehr wohl wusste, was sie meinte.

»Definitiv«, beteuerte Aline.

»Nicht mein Typ«, erwiderte ich knapp und wandte dem Fenster demonstrativ wieder den Rücken zu. »Außerdem war er mir schon früher unsympathisch«, fügte ich hinzu. Auch wenn das nur die halbe Wahrheit war.

»Vielleicht hat er ja den Laden nebenan gemietet.«

»Der?« Ich lachte auf. »Das bezweifele ich.«

»Wieso? Auch unsympathische Leute eröffnen Geschäfte.«

»Sicher, aber als ich in der Ausbildung zur Krankenschwester steckte und Linn nach einer Ehrenrunde ihr Abi in der Tasche hatte und anfing zu studieren, tat der … nichts. Ich glaube, er jobbte auf Minijob-Basis irgendwo am Strand, aber sonst – niente

»Cool, du hast mal als Krankenschwester gearbeitet?«

Ich nickte. »Die Ausbildung habe ich drüben an der Westküste gemacht, anschließend habe ich in Flensburg am DIAK O -Krankenhaus gearbeitet, aber nach ein paar Jahren machte es mir immer weniger Spaß, und nun bin ich hier.« Mit einer ausschweifenden Geste umfasste ich die Räumlichkeiten des Hygge Up. »Dadurch kenne ich übrigens auch Nora, wir sind zeitgleich Krankenschwestern geworden.« Seit Aline Ende des Sommers hergekommen war und meine Freundin Nora beim Surfen kennengelernt hatte, verstanden die beiden sich blendend, was mich ungemein freute, da sie mir beide am Herzen lagen.

»Ah, verstehe!«, sagte Aline. »Wolltest du das schon immer werden?«

Ich überlegte kurz. »Ich und meine Eltern dachten wohl, mir liegt es, mich um andere zu kümmern, und es würde mir Freude machen zu helfen.«

»Aber so war es nicht?«

»Doch, schon, aber letztlich bin ich zu sensibel für den Job, mich haben die Schicksale einfach nicht mehr losgelassen. Und die Tatsache, dass ich so bin – also die vermeintliche Kümmerin in der Familie – manchmal weiß ich nicht, ob das wirklich an meinem Charakter liegt oder ob mir nur einfach keine Wahl blieb mit Linn als Schwester.«

»Wie meinst du das?«

»Ich war als Kind eher der schüchterne Zwilling und Linn der extrovertierte, und sie war viel mutiger als ich. Egal, ob es darum ging, wer sich in der Reitstunde auf das größere Pony traute oder wer im Schwimmbad vom höheren Turm sprang. Aber ihr Mut brachte sie auch öfter in Schwierigkeiten, und wenn wir losgingen, hieß es oft: ›Lara, schaust du bitte auf deine Schwester?‹ Linn zog mich manchmal damit auf, dass ich die Vernünftige sein muss, weil ich die Erstgeborene bin. Meine Eltern haben es sicherlich nur so dahingesagt und nie ernsthaft von mir verlangt, auf sie aufzupassen, aber …«

»Es hat dich veranlasst, genau das zu tun«, beendete Aline den Satz für mich, und ich nickte. »Ein bisschen.«

»Aber umso besser, dass du nun den richtigen Job gefunden hast.« Sie deutete zum Hof. »Vielleicht hat der Typ ja auch noch beruflich umgeschwenkt, von nichts zu … irgendwas anderem.« Meine Cousine grinste frech. Als Antwort verzog ich vielsagend das Gesicht. Und ja, ich mochte beruflich angekommen sein, doch hatte ich heute noch das Gefühl, mich um Linn kümmern zu müssen. Es war halt nicht so leicht, aus seiner Rolle auszubrechen.

»Erzähl mal, wie läuft die Arbeit an dem Comic?«, wechselte ich das Thema.

»Super! Ich kann immer noch nicht glauben, dass die Agentur innerhalb von nur wenigen Wochen einen Verlag gefunden hat. Die Lektorin macht einen netten Eindruck. Anfang des Jahres fahre ich für zwei Tage nach München, und wir besprechen noch ein paar Feinheiten an der Geschichte.«

»Das klingt aufregend. Ich hoffe, ich darf eine deiner Testleserinnen sein.«

Alines Augen leuchteten auf. »Wenn du magst, gern. Auch wenn du natürlich nicht ganz zur Zielgruppe gehörst.« Sie zwinkerte.

Am Sonntagvormittag erledigte ich zunächst die Buchhaltung für Oktober. Seit unser Steuerbüro uns vorgeschlagen hatte, die Buchführung online zu erledigen, hatten wir eine viel genauere und aktuellere Übersicht über das laufende Geschäftsjahr. Nach Abschluss eines jeden Monats lud ich alle Belege hoch und heftete sie an den entsprechenden Umsatz. Dann brauchte das Steuerbüro die Einnahmen und Ausgaben nur noch auf die entsprechenden Konten zu verbuchen. Wenige Tage später erhielten wir die Auswertung für den Monat und die kumulierten Werte für das ganze Jahr.

Schon früh in meiner Jugend hatte ich verkündet, dass ich später einmal keinen Job haben wollte, bei dem ich den ganzen Tag am Schreibtisch hocken musste. Neben der Freiheit, alles selbst zu entscheiden, war das einer der Punkte am Hygge Up, die ich besonders liebte – die Vielfältigkeit. Ja, ich saß am Sonntag am Schreibtisch, aber an fast allen anderen Tagen konnte ich kreativ sein, begegnete Menschen oder fuhr zu den Brocantemärkten. Manchmal waren wir auch handwerklich tätig, bei kleineren Reparaturen der Möbel, oder wenn wir im Laden etwas ändern wollten. Insofern war ich Linn sehr dankbar, dass sie mich bei dieser Entscheidung mitgezogen hatte – wie gesagt, sie war die Mutigere.

Als der Papierkram, wie mein Opa ihn immer nannte, erledigt war, fuhr ich hinaus nach Holnis, wo ich mich mit Nora treffen wollte. Bereits als ich mein kleines Auto – das ich im Alltag fuhr, den Sprinter brauchten wir nur für die Transporte – auf dem Parkplatz abstellte und ausstieg, fiel ein Teil der anstrengenden Woche von mir ab. Ich liebte die kleine Halbinsel am oberen Ende der Flensburger Förde. Der Seewind vertrieb hier zuverlässig Kummer und Sorgen. Seit Nora mit dem Bruder des Besitzers von einem der hiesigen Campingplätze zusammen war, schaffte ich es wieder öfter herzukommen, und genoss es jedes Mal. Ich nannte es gern meinen Zwei-Stunden-Urlaub.

Ich hatte den Parkplatz nahe der Surfschule gewählt, der an das Gelände des Campingplatzes grenzte. Von dort stieg ich durch einen Durchgang in der Hecke, und dahinter offenbarte sich der Strand, der zu dieser Jahreszeit wie leer gefegt war. Nur zwei Reiterinnen mit ihren Ponys standen am Ufer und versuchten ihre Vierbeiner dazu zu bewegen, sich mit den Hufen in die kalten Wellen zu trauen. Eines der Pferde schnaubte mit gesenktem Kopf, und seine Mähne flatterte im Wind.

Deswegen liebte ich Holnis, hier durfte noch jeder den Strand nutzen. Natürlich gab es auch Abschnitte mit Vorschriften: neben dem überwachten Badestrand war das ein FK K -Abschnitt und ein Hundestrand. Doch ansonsten stand der Strand jedem offen. Und so kam es, dass man sogar im Sommer manchmal ein Pony durchs Wasser traben sah, während dahinter jemand surfte und ein Hund im Sand einem Ball nachjagte.

Ich erblickte Nora, die in eine dicke Jacke gemummelt auf einer Bank saß und aufs heute raue Meer hinausschaute, wo in der Ferne, außerhalb der Bucht, zwei Kiter über die Wellen preschten. Im Gehen fischte ich meine Handschuhe aus der Jackentasche und zog den Schal etwas fester um den Hals. Der kalte Ostwind hatte es in sich und schaffte es, durch die kleinste Ritze bis auf die Haut vorzudringen. Eine Möwe segelte über meinen Kopf hinweg und kämpfte mit dem seitlichen Wind.

»Hey«, begrüßte ich Nora, als ich mich neben sie auf die Bank plumpsen ließ.

»Ah, da bist du ja!« Sie lächelte mich an.

»Ist das Bent?« Ich deutete auf die Ostsee hinaus.

»Ja, mit Sören.«

»Bei dem Wetter, brrr! Nicht mal die Ponys trauen sich ins Wasser.«

»Glaube mir, nur noch ihre Gesichter sind nicht von Neopren bedeckt, und sie haben trotzdem geflucht, als sie ins Wasser gegangen sind. Aber die kalte Jahreszeit bietet nun mal den besten Wind, behauptet Bent.«

»Und nur die Harten kommen in den Garten.«

Nora kicherte. »Sollen wir ein Stück laufen? Mir wird langsam kalt vom Rumsitzen.«

»Liebend gern.« Ich erhob mich wieder und rieb meine Hände aneinander – ich hätte die dickeren Handschuhe nehmen sollen. »Wenn es doch nur bald den ersten Frost geben würde, das ist angenehmer als dieses nasskalte Novemberwetter und dazu noch mit Ostwind … grauenhaft.«

»Zum Glück empfindest du das auch so. Ich hatte schon befürchtet, euch Nordlichtern macht dieses Wetter nichts aus.«

Nora war erst zu Beginn des letzten Sommers hergekommen, eigentlich nur für ein paar Wochen, um eine Beziehungspause mit ihrem damaligen Freund auszusitzen, doch dann hatte sie ihr Herz verloren. An die Flensburger Förde und an Bent. Seit Ende des Sommers arbeitete sie nun auf der Intensivstation in der Flensburger Klinik.

»Wie läuft es bei der Arbeit?«, erkundigte ich mich.

»Gut, wir haben keinen einzigen Corona-Patienten mehr, und langsam läuft alles wieder wie vor der Pandemie.«

»Also viel zu tun.«

Sie lachte. »Genau, viel zu tun und immer zu wenig Personal. Das ist wohl in jeder Klinik so. Und bei dir? Steckst du schon in den Vorbereitungen für das Weihnachtsgeschäft?«

»Im Laden schreit dich das Thema Weihnachten seit dieser Woche förmlich an, und in drei Wochen startet unser kleiner Adventsmarkt. In der letzten Woche hatten wir ein Treffen, um nochmal zu checken, ob wir an alles gedacht haben, aber so weit kamen wir gar nicht. Stattdessen hat Martha aus dem Krimskramsladen nebenan die Bombe platzen lassen, dass sie ihr Geschäft aufgibt und an zwei Typen vermietet hat. Die reißen nun alles raus. Ich hoffe, bis zum Adventsmarkt sind sie damit fertig.«

»Oh, dann hat sie diesmal also ernst gemacht? Ich erinnere mich, dass Ilse so was schon andeutete, als wir im Sommer einen Kuchen bei ihr geholt haben. Und hatte sie da nicht sogar ein Inserat online gestellt?«

Ich nickte. »Das hatte sie allerdings zwischenzeitlich wieder rausgenommen. Deswegen kam es nun doch überraschend. Aber ich verstehe sie ja …«

»Und was für ein Geschäft kommt jetzt dort rein?«

Wir liefen in Richtung Naturschutzgebiet über den schmalen Schotterweg, von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über die Förde bis nach Dänemark. Ich ließ meinen Blick schweifen, versuchte, das ungute Bauchgefühl wegzuschieben, das mich bei dieser Frage überkam.

»Tja, das kann ich dir noch nicht sagen.«

»Oh!«

»Ja, oh.« Ich seufzte.

»Ach, das wird bestimmt ein toller Laden, der viele neue Kunden in euren schnuckeligen Hinterhof zieht.«

»Hoffen wir es.«

»Ich komme auf jeden Fall nächste Woche mal vorbei, ich brauche dringend Weihnachtsdeko. Ich habe übrigens auch Neuigkeiten. Aber gute!«

Ich löste meinen Blick vom dänischen Ufer in der Ferne und schaute sie an. »Bent hat dir einen Antrag gemacht!«, platzte es aus mir heraus.

Nora lachte laut auf. »Nein! Quatsch, du liest zu viele Liebesromane. Wir kennen uns doch erst wenige Monate!«

»Noralein, wenn es passt, dann passt es. Ich bin mir sicher, du wirst diesen Typen heiraten. Aber ich bin dir dankbar, dass du noch etwas wartest. Der Wirbel um eine Hochzeit reicht mir.« Im Juni nächsten Jahres würde meine Freundin Hanna heiraten. Ich war neben ihrer Schulfreundin Mia ihre Trauzeugin und erstaunt darüber, was jetzt schon alles zu tun war: Location suchen, Einladungskarten auswählen, Menü festlegen, Ablaufplan auf die Beine stellen … Die Familien der beiden lebten über die ganze Bundesrepublik verteilt, daher hatten Hanna und Chris entschieden, alle für eine komplette Woche an die Ostsee einzuladen. Und bald stand die Brautkleidsuche auf dem Programm. Weil Mia auch nicht hier lebte und Chris häufig auf Geschäftsreise war, hatte ich Hanna bereits bei der einen oder anderen Entscheidung geholfen. »Also, was sind es dann für Neuigkeiten, wenn es kein Antrag ist?«, kehrte ich gedanklich zu Nora zurück.

»Bent hat sein Haus zurückgekauft!« Meine Freundin strahlte übers ganze Gesicht, als hätte sie im Lotto gewonnen.

»Wow! Das ist toll. Es bedeutet Bent viel, oder?«

»Und wie! Ehrlich gesagt waren wir fast überrascht, dass der Eigentümer – nachdem er sich endlich entschieden hatte zu verkaufen – gar nicht groß verhandelt, sondern das erste Angebot angenommen hat.«

»Und zieht ihr zusammen dort ein?«

Noras Freund Bent hatte vor ungefähr zwei Jahren sein Haus auf Holnis verkauft, um mit seiner Ex nach Berlin zu gehen, die ihn dort dann relativ schnell abservierte. Seitdem versuchte er, das Haus, das einst seinem Opa gehört hatte, zurückzubekommen.

»Der Plan ist, dass wir erst mal renovieren, und ja … dann ziehen wir wohl zusammen. Der zwischenzeitliche Besitzer hatte zwar ursprünglich große Renovierungspläne, aber seine Frau war nicht so begeistert und wollte lieber ein Haus am Mittelmeer, deshalb hat der Typ es so, wie es war, vermietet.«

»Ich freue mich riesig für euch!«

Das Glück strahlte förmlich aus Noras Augen. Es musste schön sein, endlich den Richtigen gefunden zu haben. Meistens war ich zufrieden mit meinem Leben – auch ohne Mann. Schließlich hatte ich eine Arbeit, die ich liebte und die mich erfüllte. Dazu eine tolle Familie, Freunde und Freundinnen. Dass da noch ein Puzzleteil fehlte, fiel mir ehrlich gesagt nur in Augenblicken wie diesen auf. Aber die Sehnsucht danach verflog glücklicherweise meist schnell wieder.