Kapitel 4

Der Montagvormittag war wie in den meisten Wochen recht ruhig, daher hielt in der Regel nur eine von uns die Stellung im Hygge Up. Draußen wurde es heute gar nicht richtig hell, und ich seufzte innerlich, wenn ich an die langen Wintermonate dachte, die nun vor uns lagen. Aline und Tom fuhren über Weihnachten nach Portugal, und ich war ein wenig neidisch auf die Sonnenstunden, die sie dort erwarteten. Seit wir den Laden kurz vor der Pandemie eröffnet hatten, hatte ich so gut wie keinen Urlaub gehabt, bis auf die Zeit der Lockdowns, aber das war keine Zeit der Entspannung gewesen, sondern eher geprägt von Sorge, ob wir es schaffen würden, das Hygge Up zu halten. Zumindest auf den Adventsmarkt freute ich mich. Und vielleicht konnte ich mir dann im Januar ein verlängertes Wellnesswochenende gönnen.

Die Tür flog auf, und Snørre raste mit feuchten Pfötchen auf mich zu, sein rotes, lockiges Fell war vom Wind völlig zerzaust. Hinter ihm stapfte Linn ins Geschäft und knallte die Tür so laut zu, dass ich zusammenzuckte. Was war ihr denn über die Leber gelaufen? Zum Glück war gerade niemand im Laden. Ohne mich anzusehen, verschwand sie im Lager. Snørre und ich sahen ihr verdutzt hinterher.

»Was ist denn mit deinem Frauchen los?«, fragte ich den kleinen Pudel, der daraufhin mit dem Schwanz wedelte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er gern Seen in unserer Wohnung hinterließ und meine Schuhe ansabberte, hätte man meinen können, er sei ein Stofftier, so süß war er. Irgendwie konnte ich schon verstehen, dass Linn sich in ihn verguckt hatte. Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, wandte Snørre sich ab und legte sich vor die Tür, wo er anfing, an der Ecke des Schmutzfängers zu knabbern.

»Snørre, nein!«, rief ich, doch er zuckte nicht mal mit einem Ohr. Linn kam wieder nach vorn, und ich deutete zu Snørre. Statt ihm zu sagen, er solle das Knabbern sein lassen, nahm sie ihn hoch und ließ sich von ihm durchs Gesicht lecken.

»Alles okay?«, fragte ich, woraufhin sie schnaubte. Snørre legte angesichts des Geräuschs seinen Kopf schief.

»Nein, ist es nicht! Du hättest mir ruhig sagen können, dass Hendrik Jacobi drüben den Laden gemietet hat!«

Erstaunt weitete ich die Augen. »Der hat den Laden gemietet?« Ich schluckte. Alle möglichen Szenarien spulten sich sofort in meinem Kopfkino ab. Keine davon passte in unsere hyggelige Hinterhofgemeinschaft. Ich bezweifelte, dass Hendrik ein Geschäft eröffnen würde, das auch nur eine Prise des dänischen Lebensgefühls »hygge« verströmte.

»Hallo?«, sagte meine Schwester ungeduldig und schnippte mit ihren Fingern vor meinem Gesicht.

Ich schüttelte die Gedanken ab und sah sie an. »Erstens wusste ich nicht, dass Hendrik einer der Mieter ist. Ich dachte, er sei ein Möbelpacker oder Entrümpler. Zweitens hast du mir überhaupt nicht zugehört, als ich mit dir über Marthas Geschäftsaufgabe reden wollte. Und drittens – was kümmert dich das?« Letzteres erstaunte mich tatsächlich am meisten, denn normalerweise hatte meine Schwester nur selten ein Problem mit ihren Verflossenen.

Snørre zappelte in Linns Arm, und sie ließ ihn runter. Der Kleine trottete los und rollte sich dann auf einem Stuhl in der Ausstellung zusammen. Zum Glück haarten Pudel nicht.

»Hättest du erwähnt, dass es sich um Hendrik handelt, hätte ich zugehört!«

»Aber ich wusste es doch nicht! Warum regt dich das so auf?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hast du vergessen, wie er damals war?«

»Nein, aber …«

»Lara, er hat unter anderem echt fiese Dinge über dich gesagt und …«

Regte sie sich jetzt aus Loyalität mir gegenüber so auf? Sie blickte mich aus ihren blassblauen Augen an, die meinen so ähnlich waren, doch ich konnte wie so oft nicht deuten, was sie dachte. Bis wir auf die weiterführende Schule gewechselt waren, wusste ich immer, was in ihr vorging, und wir konnten wortlos kommunizieren. Aber von da an war uns das nach und nach verloren gegangen, und manchmal vermisste ich dieses stumme Verstehen. »… außerdem war er mit mir auch nur für den Spaß zusammen, obwohl er eigentlich was von einer anderen wollte.«

Das hörte ich zum ersten Mal. Linn hatte mir damals nach der Trennung nur erzählt, was Hendrik über mich – das nervige Anhängsel – vom Stapel gelassen hatte.

»Okay, das war ziemlich arschig von ihm.«

Sie wich meinem Blick aus. »Soll typisch für ihn sein. Ich habe seitdem Sachen gehört, die erspare ich dir lieber, aber du solltest dich von ihm fernhalten. Er ist einfach kein guter Kerl!«

Ich lachte verwundert auf. »Danke für den Hinweis, aber ich hatte nicht vor, mich mit ihm anzufreunden. Was mich hingegen brennend interessiert: Was für einen Laden eröffnet er denn?« Eindringlich sah ich Linn an.

»Keine Ahnung! Interessiert mich auch nicht«, brummte sie.

»Was? Aber das ist doch wichtig für unser Geschäft! Für den ganzen Hof!«

»Werden wir wohl früh genug erfahren.«

Demonstrativ verdrehte ich die Augen. »Dann gehe ich jetzt rüber und frage.« Ich umrundete den Kassentresen, doch Linn hielt mich am Arm fest.

»Lass doch, gib dich nicht mit dem ab!«

Überrascht musterte ich sie. Was war denn nur mit ihr los? Normalerweise war ich die besorgte Schwester, die versuchte, sie zumindest von allzu großen Dummheiten abzuhalten, während sie nach dem Motto lebte: Leben und leben lassen. Wobei ihr das eigene »leben« besonders wichtig war. Solange ihr keiner etwas vorschrieb, war ihr auch egal, was andere taten.

»Ich gehe doch nur rüber und frage, was sie vorhaben. Ich will das wissen!« Entschlossen schüttelte ich Linns Hand ab. Kurz wirkte es so, als wolle sie noch mehr sagen, doch dann rief sie: »Snørre, nein!«

Ich schaute zu dem Hund, der gerade dabei war, ein Häufchen zu machen – mitten in den Laden!

»Oh, Linn! Mach das weg und dann lüfte kräftig!«

Eilig verließ ich das Hygge Up, bevor mir der Gestank in die Nase steigen konnte. Draußen rieb ich mir über die Oberarme, die trotz meines dicken Strickpullis fröstelten. Mir standen ein paar Kisten im Weg, durch die ich mich hindurchschlängeln musste – die letzten Überbleibsel aus dem Krimskramsladen. Kurz darauf blieb ich staunend im Eingangsbereich stehen. Die Räume waren fast gänzlich leer geräumt, und ein Handwerker, der gerade die Fußleisten abriss, fragte mich, ob ich wegen der Spenden da wäre.

»Welche Spenden?«, fragte ich verdutzt.

»Na, für den Sozialladen.«

»Ach so, nein. Ich suche eigentlich Hendrik Jacobi oder den zweiten Inhaber.«

»Die findest du mit dem Zimmermann hinten im Büro, einfach durch die Tür und dann links.«

»Ah, danke.«

Der bärtige Mann nickte und hakte dann den Kuhfuß hinter die nächste Fußleiste. Als ich weiter in Richtung des Bereichs ging, den Martha als Lager genutzt hatte, hörte ich schon Stimmen und folgte ihnen. Hendrik und zwei weitere Männer beugten sich über einen großen Plan, den sie auf Marthas altem Tisch ausgebreitet hatten. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie Linn, Martha und ich dort einen Kaffee getrunken hatten, kurz bevor das Hygge Up eröffnete. Noch ehe ich mich bemerkbar machen konnte, blickte einer der Männer auf. Das Gespräch verstummte, und die anderen zwei hoben ebenfalls ihre Köpfe.

Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte sich Hendriks Blick, doch beim nächsten Herzschlag öffnete sich seine Miene wieder. Irritiert über diese wechselhafte Reaktion räusperte ich mich erst mal.

»Ich glaube, ich habe ein Déjà-vu«, sagte der Mann, der als Erstes aufgeblickt hatte. Er war etwas älter als Hendrik, schätzungsweise Ende dreißig bis Anfang vierzig. Er hatte so viele Piercings und Tattoos, dass meine Augen spontan eine Reizüberflutung erlitten. Seine langen Haare trug er in einem unordentlichen Knoten – Man Bun nannte man es wohl. Hendrik stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

»Hallo«, sagte ich steif. »Ich bin Lara Martens. Mir und meiner Schwester gehört der Laden nebenan, und wir würden gern wissen, was für ein Geschäft ihr hier eröffnet.«

»Gibt es noch mehr von euch?«, witzelte der Typ, der sich von Hendriks Ellenbogenstoß unbeeindruckt zeigte.

»Lara«, sagte Hendrik. Er wirkte überrumpelt. »Linn war gerade schon da.«

»Ach ja?«, fragte ich irritiert. Davon hatte sie gar nichts erwähnt, obwohl – irgendwoher musste sie ja erfahren haben, dass Hendrik einer der Mieter war. Aber warum hatte sie dann nicht gleich gefragt, was hier eröffnet wurde? »Nun ja, dann seid ihr wohl nicht dazu gekommen, darüber zu reden, was für eine Art Geschäft ihr hier plant.«

»So kann man es auch ausdrücken«, grunzte der Kerl, der bisher noch gar nichts gesagt hatte.

»Ich bin übrigens Sven«, stellte sich nun der Typ mit dem Man Bun vor.

Mit einem schwachen Lächeln nickte ich ihm zu.

»Ich dachte, der Laden gehört dir allein«, bemerkte Hendrik, meine Frage ignorierend.

Ich legte die Stirn in Falten. Was spielte das für eine Rolle? Es ging hier doch um seinen Laden! »Äh, nee, uns zusammen. Euer Geschäft – also, was wird das?«, fragte ich, um nicht länger diesem unangenehmen Gespräch ausgesetzt zu sein.

»Ein Tattoo-Studio«, sagte Hendrik und schaute mir dabei so fest in die Augen, dass ich es nicht schaffte, meinen Blick abzuwenden. Gleichzeitig konnte ich nichts dagegen tun, dass der Schrecken sich in meinen Zügen abzeichnete.

»Ein Tattoo-Studio?«, echote ich, nicht ohne eine Spur Panik in der Stimme.

»Ja, Schätzchen«, entgegnete nun Sven und verschränkte seine tätowierten Arme vor der Brust. »Hast du ein Problem damit?«

Für einen Moment schaute ich ihn mir genauer an. Das Hemd mit den aufgerollten Ärmeln, die lederne Weste darüber … die Motorräder, die in den letzten Tagen an der Rückseite des Ladens gestanden hatten. O Gott, waren sie Mitglieder in einer Motorradgang? Der Satisfaction womöglich? Sofort dachte ich an die Geschichten über Schutzgelderpressungen unten am Hafen, bei denen man nie wusste, ob sie tatsächlich stimmten. Ich sah unseren Hinterhof schon in einem Szenario, das auch aus der Serie Sons of Anarchy hätte stammen können. Ich schluckte, ehe ich den Rücken straffte.

»Ja, allerdings, das habe ich«, sagte ich mit fester Stimme und einem zuckersüßen Lächeln, das jedoch einer Kampfansage gleichkam.

Die drei schienen so verwundert über meine Reaktion, dass sie erst mal gar nichts sagten, sondern sich nur anschauten. Ich hingegen wusste ganz genau, was ich zu tun hatte. Es galt, alles zu versuchen, um dieses Studio zu verhindern. Vielleicht war noch kein Mietvertrag unterzeichnet worden. Irgendeine Möglichkeit würde es wohl geben! Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief schnurstracks zur Tür.

»Lara!«, hörte ich Hendrik rufen, doch eine Sekunde später zog ich schon die Ladentür hinter mir zu. Statt nach rechts zum Hygge Up zu gehen, marschierte ich nach links.

»Ilse?«, rief ich ins Café.

»Ja, Herzchen?«

»Heute Abend nach Ladenschluss gibt es ein Notfall-Meeting bei uns im Hygge Up!«

Noch ehe sie antwortete, war ich schon auf dem Weg zu Ursel in die Wolltruhe.