Die restliche Woche gab ich mir die größte Mühe, Hendrik aus dem Weg zu gehen. Leider war das Glück dabei nicht auf meiner Seite, denn jeden Morgen, wenn ich den Hintereingang aufschloss, kam er mit seinem Motorrad angeknattert. Wer fuhr denn bitte im November noch Motorrad? Höchstens diese Rocker! Seit ich wusste, dass Aline ihren Vater aufgrund eines Motorradunglücks nie kennengelernt hat, fand ich motorisierte Zweiräder eh noch beschissener. Und als wollte Hendrik mir demonstrieren, dass er mich und Linn auseinanderhalten konnte, sagte er bei jedem Zusammentreffen: »Hej Lara« oder »Morgen, Lara«.
Innerlich kochte ich vor Wut. Als er mir dann am Donnerstag auch noch die Tür aufhielt, die ich bis dato mühsam versuchte mit dem Fuß aufzuschieben, weil meine Hände voll waren mit den Lichterketten für den Adventsmarkt, platzte mir endgültig der Kragen.
»Danke, aber ich schaffe das allein!«, fuhr ich ihn an.
Entschuldigend hob er seine Hände, hielt aber die Tür weiterhin mit einem seiner Füße auf, die wie üblich in schwarzen Vans steckten. Im November, auf dem Motorrad …
Ich stellte den Karton ab, lief rasch zurück und steckte meinen Kopf nochmal aus der Tür. »Hendrik?«
Er war schon auf dem Weg zu seiner Ladentür und drehte sich mit überraschter Miene zu mir um. »Ja?«
»Es wird alles nichts daran ändern, dass ich euren Laden hier nicht will. Das ist auch echt nichts Persönliches, aber das war ein behaglicher Hinterhof, ihr passt da einfach nicht rein. Ich habe übrigens gesehen, dass unten in der ersten Reihe am Hafen zwischen den Kneipen ein Geschäft leer steht.«
Hendrik lachte auf. »Dann haben wir wohl eine Patt-Situation, denn egal, was du tust oder sagst, es wird nichts daran ändern, dass wir unser Studio hier eröffnen. Wir bauen schon das Inventar ein, und – ganz ehrlich? Ich glaube, wir werden eurem leicht angestaubten Hinterhof ziemlich guttun.«
Empört schnappte ich nach Luft, während Hendrik seine Tür aufschloss. Mit der Klinke in der Hand hielt er kurz inne und wandte sich abermals zu mir um. »Und, Lara, das ist auch nichts Persönliches.« Er zwinkerte, dann verschwand er im Inneren des Gebäudes und ließ mich wortwörtlich im Regen stehen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es angefangen hatte zu nieseln. Ich schaute in den grauen Himmel und flüchtete dann ins Hygge Up, wo ich zusätzlich zur Deckenbeleuchtung die kleinen Lampen anschaltete, die für gemütliches Licht sorgten. Anschließend setzte ich einen Kaffee auf und grübelte darüber nach, wie ich die Eröffnung des Tattoo-Studios doch noch verhindern könnte. Entschlossen griff ich zum Handy und wählte die Nummer meines Opas, der bereits in den 1970er Jahren sein Unternehmen gegründet hatte.
»Lara, schön, von dir zu hören!«, begrüßte er mich.
»Hallo Opa, wie geht’s dir?«
»Gut, gut, nur das kalte Wetter ist für die alten Knochen schlecht. Und dir? Wie läuft es im Laden?« Wenn es um meine Sorgen bezüglich des Hygge Up ging, war Opa neben meinem Vater mein Ansprechpartner Nummer eins. Deswegen erzählte ich ihm jetzt von dem Tattoo-Studio.
»Fällt dir etwas ein, was ich dagegen unternehmen könnte?«, fragte ich schließlich.
»Hm, ehrlich gesagt nicht, das klingt nach einem aussichtslosen Unterfangen. Stecke deine Energie nicht in Dinge, auf die du keinen Einfluss hast, sondern konzentrier dich auf dein Geschäft. Damit bin ich bei der Brauerei immer am besten gefahren.«
Kurz redeten wir noch über den Adventsmarkt, ehe ich frustrierter als zuvor wieder auflegte. Doch meine Laune besserte sich mit jedem Kunden, der hereinkam. Ich nahm mir Opas Worte zu Herzen und konzentrierte mich auf das Hygge Up. Die Weihnachtsdeko im Sortiment hatte in den letzten Tagen schon für einen sehr guten Umsatz gesorgt, obwohl die umsatzstärkste Zeit ja noch kam. Zwar hatten wir nicht mehr Möbel als sonst verkauft, aber viele Gutscheine und Mitnehm-Artikel, die ebenfalls eine wichtige Einnahmequelle für uns darstellten. Meine werte Schwester hatte sich diese Woche mal wieder nur sporadisch blicken lassen, aber ich verkniff mir vorerst einen weiteren Kommentar dazu und hoffte einfach, sie würde sich ihrer Verantwortung von allein bewusst werden, sobald sich mit dem kleinen Snørre alles eingespielt hatte.
Ein paar Minuten vor sechs schwang die Tür erneut auf, und Nora und Aline kamen herein.
»Was für ein Wetter!«, schimpfte Nora und zog die Kapuze von ihrem Kopf.
»Das geht hier hoffentlich nicht den ganzen Winter so?«, fragte Aline und sah mich an.
»Na ja, in ein weißes Winterwonderland verwandelt sich die Stadt eher selten.« Ich grinste, woraufhin meine beiden Freundinnen aufstöhnten. Nora murmelte etwas, das sich wie »Hätte ich das nur früher gewusst« anhörte.
»Was treibt euch denn trotz des Regens hierher?«, fragte ich, woraufhin die beiden mich entgeistert ansahen.
»Was?«, schob ich hinterher und lachte verunsichert auf.
»Ähm, Lara, wir sind doch verabredet! Erst essen, dann Kino. Der neue Film mit Chris Hemsworth?«
»Ah, stimmt. Ich habe euch nur veräppelt.«
»Hast du nicht, du hast es vergessen«, sagte Nora.
»Hat sie, eindeutig«, bestätigte Aline.
»Tss, wie kann man eine Verabredung mit uns vergessen?« Noras Mundwinkel zuckten verdächtig, während sie versuchte, entsetzt auszusehen.
»Ja, tut mir leid, das ist mir irgendwie durchgerutscht.«
»Aber du hast Zeit?«
»Klar, ich muss nur abschließen. Haben wir noch einen Moment für einen Kaffee? Ich habe gerade welchen aufgesetzt.«
»Da sage ich nicht nein.« Nora öffnete ihre Jacke.
»Für mich nicht, danke.« Aline setzte sich an einen der Tische in der Ausstellung und spähte aus dem Fenster. »Weißt du eigentlich inzwischen, was für ein Laden nebenan reinkommt?«
»Frag nicht!«, rief ich aus unserer kleinen Teeküche, die nicht mehr war als eine Ecke in unserem Lager.
»Wieso?«, erkundigte sich Nora, als ich einen Becher mit dampfendem Kaffee vor sie stellte.
Ich ließ mich auf einen alten weißen Holzstuhl sinken und schlang meine Finger um den Kaffeebecher. »Weil ein Tattoo-Studio dort einzieht.«
»Wie cool!« Alines Augen leuchteten.
»Nein, das ist nicht cool. Das passt doch gar nicht, ich sehe unseren Hinterhof schon zum Klubhaus der Satisfaction mutieren.«
»Der was?« Nora lachte.
»Na, diese Motorradgang.«
»Du redest wie meine Mutter.« Nora grinste mich an.
»Ein Tattoo-Studio ist doch nichts Anrüchiges! Wenn da ein Swingerklub einziehen würde, dann könnte ich dich verstehen. Aber ein Tattoo-Studio lotst bestimmt eine Menge Leute zu euch in den Hof. Sicher mehr als diese Wolltruhe und der Ramschladen zusammen«, sagte Aline.
»Ich wusste gar nicht, dass du so spießig bist«, ergänzte Nora, noch immer mit amüsiertem Gesichtsausdruck.
»Ihr versteht das nicht. Das Hygge Up ist mein Baby, und es war immer so hyggelig hier bei uns! Ihr müsstet euch mal die Leute anschauen, die da helfen.«
»Wie der heiße Möbelpacker?« Aline wackelte unter ihren Ponyfransen mit den Augenbrauen.
»Welcher heiße Möbelpacker?« Nora stand auf und linste aus dem Fenster.
Ich seufzte. »Du hattest recht, Aline, der Möbelpacker hat sich als Inhaber entpuppt.«
»Hm, schon alles dunkel draußen«, sagte Nora enttäuscht und kehrte zu ihrem Kaffee zurück.
»Wofür gibt es Instagram!« Aline zog ihr Handy hervor. »Du kennst den Typen doch – wie heißt er?«
»Ach nö, Leute, sollen wir nicht lieber los? Ich habe Hunger.«
»Name!«, befahl Nora und rückte nah an Aline heran, um mit auf das Display schauen zu können.
»Schön, wenn euch das glücklich macht … Er heißt Hendrik Jacobi.«
Eifrig tippte Aline auf ihr Display. »Da haben wir ihn schon … Jup, das ist er ganz eindeutig.«
»Der?«, fragte Nora und beugte sich etwas näher über das Bild. »Ich glaube, den kenne ich irgendwoher«, murmelte sie und legte dabei ihre Stirn in nachdenkliche Falten.
»Du kennst den auch?«, fragte Aline.
»Ich glaube schon – nur woher? Ah, jetzt weiß ich es wieder!« Ihre Stirn glättete sich. »Dem sind wir im Sommer im Pub begegnet, und ich glaube, er steht auf Lara.«
»Uuuh!«
»So ein Quatsch!«, fuhr ich dazwischen. »Dass du dich überhaupt noch daran erinnerst! Ich habe dir doch gesagt, er hat mich für Linn gehalten.«
»Egal, auf wen er steht, ich stehe auf seine Kunst«, verkündete Aline, den Blick fest auf ihr Telefon geheftet. Nora beugte sich abermals zu ihr. »Wow, ja, er ist echt gut!«
»Schau mal!« Aline hielt mir ihr Handy hin.
»Nee, das interessiert mich wirklich nicht.« Demonstrativ lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. Aline zuckte mit den Schultern. »Ich werde mir auf jeden Fall was von ihm stechen lassen, sobald das Studio eröffnet hat.«
»Verräterin«, grummelte ich in meinen Kaffee.
Nora lachte. »Ey, nur weil er nicht deinem Schwiegermuttertraum Max ähnelt, kann er doch trotzdem ein guter Kerl sein.«
»Wer ist denn Max?«, fragte Aline sofort.
»Max war mein erster Freund.«
»Und tatsächlich ein Schwiegermuttertraum, höflich, adrett und nett«, fügte Nora hinzu, und ich verdrehte angesichts dieses miesen Reims die Augen.
»Klingt etwas …«
»Langweilig?« Nora grinste.
»Hm«, machte Aline nur.
»Außerdem geht es hier gar nicht um Hendrik, sondern um das Studio«, wehrte ich mich. »Aber wenn ich mir einen Mann backen könnte, dann definitiv einen wie Max und keinen wie Hendrik. Er und ich – wir sind wie der Weihnachtsmann und der Grinch.«
»Und wer ist wer?«, fragte Aline und Nora prustete los.
Nach dem Kino schlenderten wir am Hafen entlang, unsere Kapuzen tief in die Stirn gezogen und die Hände in den Taschen vergraben.
»Leute, ich glaube, ich geh jetzt nach Hause. Ich muss morgen früh raus.« Nora gähnte.
»Wir sehen uns dann ja spätestens nächstes Wochenende zum Bootsführerschein.«
Ich kniff die Augen zusammen. Das hatte ich völlig verdrängt – doch ich ließ es mir nicht anmerken, nachdem mir schon die heutige Verabredung entfallen war.
»Ich hoffe, die Theorie ist nicht zu schwierig! Aber wenn wir es schaffen, können wir im Sommer Mädelstage auf dem Wasser verbringen, das wird so großartig!«
Bemüht lächelte ich. Wenn ich mich recht erinnerte, ging der Kurs von Freitag bis Sonntag. Ich gähnte ebenfalls. »Okay, Mädels, dann bis spätestens nächste Woche. Es war ein schöner Abend.«
Wir umarmten uns zum Abschied, und ich verschwand in der Stichstraße, die zu meiner Wohnung führte. Nora stieg in ihr geparktes Auto, und Aline lief weiter nordwärts zur Brauerei, über der sie wohnte.
Ich musste dringend mit Linn absprechen, dass sie in der Zeit, wenn ich in diesem Kurs saß, den Laden übernahm. Nicht lange nachdem Aline sich als meine Cousine entpuppt hatte, hatten Nora, sie und ich eines Abends bei einer Flasche Wein den Plan von dem Bootsführerschein geschmiedet. Damit würde es uns erlaubt sein, Motoren mit mehr als 15 PS zu fahren. Das bedeutete ein größeres Boot, mit dem man auch mal längere Trips unternehmen konnte. Noch an jenem Abend meldeten wir uns leicht beschwipst für einen Kurs an. Tom und Bent hatten nur verständnislos gefragt, wieso ausgerechnet im Winter – aber ehrlich gesagt hatten wir darüber nicht groß nachgedacht. Dann hatten sie uns noch gewarnt, dass die Theorie nicht ganz ohne wäre. Doch auch das hatte unsere Euphorie nicht schmälern können.
Jetzt gerade fühlte sich das Ganze für mich allerdings wie eine vollkommene Schnapsidee an, was es wohl auch war. Obwohl es natürlich cool wäre, selbst den Schein zu besitzen, dachte ich. Wir hatten schon etliche Pläne. Wir wollten zu den Ochseninseln, nach Sønderborg oder einfach in der Bucht vor Holnis vor Anker gehen.
Mit einem Lächeln im Gesicht stieg ich die Stufen im Treppenhaus hoch. In der Wohnung empfing mich ein schwanzwedelnder Snørre. »Na du? Bist du ganz allein?«
Alles wirkte still und verlassen. Nirgends brannte Licht, und die Tür zu Linns Zimmer stand offen. »Sollen wir noch mal raus, damit du nicht wieder in den Flur pieseln musst?«, wandte ich mich an den Hund.
Snørre hüpfte aufgeregt an meinem Bein hoch, und ich nahm ihn auf den Arm. Linn meinte, junge Hunde dürften noch keine Treppen steigen. Ich schnappte mir die Leine und stapfte mit Snørre wieder hinunter. Draußen begann er, kaum hatte er die Pfötchen auf dem Boden, sofort eingehend zu schnuppern. Ich schlenderte mit ihm zu einem kleinen Grünstreifen, wo es nicht lange dauerte, bis er sein Geschäft verrichtete.
Als ich wenig später aus dem Bad kam und in mein Zimmer ging, war Linn immer noch nicht wieder zu Hause. Snørre folgte mir, und ich brachte es nicht fertig, dem kleinen Kerl die Zimmertür vor der Nase zuzuschlagen.
»Na, dann komm«, forderte ich ihn auf. Als hätte er nur darauf gewartet, sprintete er in mein Zimmer und hüpfte aufs Bett. Dort drehte er sich dreimal im Kreis und rollte sich dann zu einer kleinen Kugel zusammen. Ich schlüpfte vorsichtig unter die Decke, damit ich nicht gegen ihn stieß, und nahm den Roman vom Nachttisch.
Eine romantische Komödie, ganz nach meinem Geschmack. Womöglich hatte ich deswegen keinen Freund. Die ganzen Liebesromane mit ihren perfekten Love Interests legten die Messlatte ziemlich hoch. In diesem Buch war der männliche Protagonist Tischler und restaurierte alte Möbel. In Gedanken schlüpfte ich in die Rolle der weiblichen Hauptfigur. Er könnte die Möbel fürs Hygge Up reparieren und wir würden uns über die Arbeit austauschen, vielleicht würde er mich bei den Einkaufstouren begleiten und mir mit seinem Fachwissen zur Seite stehen. Ich kuschelte mich in mein Kissen, während Snørre etwas näher an mein Bein robbte und zufrieden seufzte.
Als mir zwei Kapitel später die Augen immer wieder zufielen, legte ich das Buch beiseite und griff nach meinem Handy, um den Wecker einzustellen. Aus einem Impuls heraus öffnete ich Instagram und suchte Hendriks Profil. Ein wenig neugierig war ich schon. Er hatte mehrere tausend Follower. Es gab Bilder von ihm und von seinen eigenen Tätowierungen, aber die meisten zeigten von ihm angefertigte Tattoos. Ich scrollte durch und musste zugeben, dass Aline recht hatte. Das war Kunst. Ich las Begriffe wie Realistic und Watercolor, die mir in dem Zusammenhang noch nicht untergekommen waren. Und auch wenn ich es vor Aline und Nora nie zugegeben hätte, war Hendrik attraktiv. Aber ein Tattoo-Studio wollte ich trotzdem nicht bei uns im Hof haben – und ein von ihm und diesem Sven geführtes schon gar nicht.