Am Montag fuhr ich mit Snørre vor der Arbeit an den Strand. In seinem neuen grünen Mantel saß er auf dem Beifahrersitz und schaute mich erwartungsvoll an. Ob er Linn wohl vermisste? Er machte nicht den Eindruck, aber wiederum hatte ich auch keine Ahnung, wie ein Hund sich in diesem Fall verhalten würde. Mit der neuen Schleppleine ausgerüstet – ich hatte mich für ein dünnes, fünf Meter langes Seil entschieden, das extra für kleine Hunde gedacht war – lief ich recht entspannt mit ihm am Wasser entlang. Um diese Uhrzeit war wenig los, lediglich ein paar Jogger und einige andere Hundebesitzer waren unterwegs. Snørre wollte alle begrüßen, und ich musste erst einmal ein System entwickeln, um die Schleppleine einzuholen – ein bisschen fühlte ich mich, als würde ich ein Pferd longieren. Ich dachte an die Zeit im Pferdestall zurück. Auch so ein Hobby, das Linns Idee gewesen war. Rückblickend vermisste ich es manchmal. Warum hatte ich eigentlich damit aufgehört? Nur weil Linn sich dem nächsten zugewandt hatte? Auf der anderen Seite hätte ich mich damals ohne sie wohl niemals überhaupt auf ein Pferd gesetzt.
Snørre tobte durch den Sand, fand ein Stöckchen und spielte damit. Er warf es in die Luft und stürzte sich danach wieder mit einem Sprung darauf. Es war schon süß anzusehen, wenn er so mit sich selbst spielte. Ich schaute für einen Moment über die Förde und sog die morgendliche Meeresluft ein. Wie sehr ich diese Stadt am Wasser liebte! Und wie schön es eigentlich war, vor der Arbeit an den Strand zu fahren.
Nach dreißig Minuten wurde es Zeit, dass wir uns auf den Weg zum Laden machten. Kaum hatte ich den Motor gestartet, rollte sich Snørre auf dem Beifahrersitz zusammen. Schmunzelnd sah ich ihm dabei zu. Das war der Plan gewesen: den Kleinen morgens ordentlich auszulasten, damit er im Laden möglichst keinen Unfug anstellte. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihn wegzugeben, und hoffte wahrscheinlich auch immer noch, dass Linn nicht so lange fortbleiben würde. So wie in dem einen Sommer, als sie verkündet hatte, die ganzen Ferien mit einer Freundin durch Europa zu reisen, und dann schon nach einer Woche wieder da gewesen war, weil die zwei sich gestritten hatten.
Ich steuerte mein Auto zum Hintereingang des Ladens, wo die Ladeninhaber Parkplätze zur Verfügung hatten. Auf dem von Marthas Laden stand schon Hendriks Motorrad. Missmutig verengte ich bei dem Anblick die Augen. Und meine eben noch gute Laune sank weiter, als ich die Autotür öffnete und den Bass hörte, der wummernd aus den Räumen des Tattoo-Studios drang.
»Spinnt der eigentlich?«, fragte ich Snørre, der erst mal gähnte. Er schnüffelte an der Hausmauer, während ich nach meinem Schlüssel kramte. Kurz war ich versucht rüberzugehen, aber stattdessen atmete ich tief durch, setzte mir im Hygge Up einen Kaffee auf und befreite Snørre von seinem Mantel. »Du brauchst einen Garderobenhaken«, stellte ich fest, lief in den Verkaufsraum und kramte in einer alten Schublade, in der wir verschiedene Haken aufbewahrten. Ich nahm einen Anker in rostiger Optik und holte anschließend den Akkuschrauber. Seit wir den Laden besaßen, konnte sich mein handwerkliches Geschick sehen lassen. Schon unglaublich, worüber es alles YouTube-Videos gab. Es war möglich, eine komplette handwerkliche Ausbildung zu absolvieren, wenn man wollte. Ich platzierte den Haken einen halben Meter unter denen für unsere Jacken. Als er fest war, hängte ich Snørres Leine und den Mantel darüber. Perfekt! Snørre schaute einmal von seinem Platz hinter dem Kassentresen zu mir, dann rollte er sich wieder zusammen.
Als Nächstes knipste ich die kleinen Lampen in der Ausstellung an. Das Deckenlicht schaltete ich erst ein, wenn es Zeit war, den Laden für die Kunden zu öffnen.
Der laute Bass dröhnte weiter durch die Wände ins Hygge Up, und ich fühlte mich in meiner Ablehnung dem Studio gegenüber bestätigt, dennoch tat ich mein Bestes, den Lärm zu ignorieren. Statt mit dem Besenstil gegen die Wand zu hämmern, nahm ich mein Letterboard und googelte nach einem neuen Spruch.
Es ist, wie es ist. Aber es wird, was du daraus machst.
Der war schön. Der passte zum Leben und dazu, seine Wohnung mit unseren Sachen aufzuhübschen.
Ich wühlte in der Kiste mit den Buchstaben und setzte Wort für Wort zusammen. Als ich das Letterboard wieder an seinen Platz im Eingangsbereich gestellt hatte, brachte ich die inzwischen leere Kaffeetasse nach hinten. Mit einem Blick auf den schlafenden Snørre murmelte ich: »Schauen wir mal, was dein Frauchen macht.«
Im Handy rief ich den Instagram-Account meiner Schwester auf. In ihrer Profilbeschreibung prangten nun Palmen, und allein dieser Anblick sorgte dafür, dass sich erneut Wut in meinem Bauch sammelte. Denn bisher deutete nichts darauf hin, dass sie zur Besinnung kommen würde. Mit einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung schaute ich die Bilder in ihrer Story an, wo sie Urlauberinnen und Urlauber dazu animierte, bei einer Wassergymnastik mitzumachen. Gestern Abend hatte sie ein Foto mit Cocktails gepostet. Die wummernde Musik von drüben war wie ein Verstärker für meine Wut, dazu klangen Hannas Worte in meinem Kopf wider, dass ich aufhören musste, mich so behandeln zu lassen. Aber Linn war weit weg, und so richtete sich mein Ärger automatisch auf die Person auf der anderen Seite der Wand. Kurzentschlossen griff ich nach dem Schlüssel und preschte zur Vordertür – in fünf Minuten musste ich eh aufschließen. Snørre schien das als allgemeines Aufbruchssignal zu verstehen und kam eilig angetapst.
Weil ich nicht wusste, wie er sich verhielt, wenn ich ihn allein im Laden ließ, klemmte ich ihn mir kurzerhand unter den Arm.
Mit dem verdutzten Pudel auf der Hüfte marschierte ich nach nebenan. Die anderen Lädchen erwachten gerade erst langsam zum Leben, und ich grüßte Maike flüchtig durch die Fensterscheibe. Dann klopfte ich an die Tür des Tattoo-Studios, doch nichts rührte sich im Inneren. Kein Wunder, bei der Lautstärke. Ich legte die Hand auf die Klinke und drückte sie runter – es war offen. Mit erhobenem Kinn betrat ich entschlossen das Studio. Doch in dem großzügigen Empfangsbereich war niemand zu sehen. Für ein paar Sekunden sah ich mich um. Wahnsinn, was die in dieser kurzen Zeit hier geschaffen hatten. Wenn wir mal einen Handwerker brauchten, dauerte es allein drei Monate, bis überhaupt einer Zeit hatte.
Die Raumaufteilung war mit Trockenbauwänden geändert worden. Statt eines großen Raums gab es nun den Eingangsbereich, und dahinter ging es wohl zu den einzelnen Tätowierkabinen. Es fehlte im Grunde nur noch die Farbe, und mir wurde bewusst, dass die Eröffnung höchstens eine Frage von Wochen, womöglich sogar von Tagen war. Ich schluckte. Hätte ich doch weiter dagegen vorgehen sollen? Aber wie? Und außerdem war dieses Problem etwas in den Hintergrund gerückt, nachdem Linn sich abgesetzt hatte. Umso wichtiger, dass Hendrik und der andere Typ – dieser Sven – gleich mal verstanden, dass sie Rücksicht auf uns nehmen mussten. Irgendwie verspürte ich so ein verqueres Gefühl in mir, und hoffte, gleich Hendrik und nicht Sven gegenüberzustehen. Denn sein Anblick pikste mich immer an einer besonders empfindlichen Stelle, warum, wusste ich nicht genau. Vermutlich, weil es mich verletzt hatte, was er damals zu Linn über mich gesagt hatte. Auf jeden Fall hatte ich das Bedürfnis, meine Wut an Hendrik zu adressieren. Ihm zu zeigen, wie wenig ich ihn leiden konnte, als hätte ich noch eine Rechnung mit ihm offen. Ein bisschen erschrak ich vor diesen fiesen Gedanken, doch da setzte ich schon einen Fuß vor den anderen durch den Flur.
In einem der Räume brannte Licht. Hendrik saß mit dem Rücken zu mir und war völlig darin versunken, kleine Farbfläschchen zu sortieren. Snørre zappelte in meinem Griff, und ich ließ ihn runter, bevor er mir vom Arm sprang. Als ich mich wieder aufrichtete, überlegte ich, wie ich mich bemerkbar machen sollte, und starrte dabei auf die Tätowierungen, die unter Hendriks schwarzem Shirt hervorblitzten. Noch ehe ich mich entschieden hatte, übernahm Snørre das Kommando. Er stürmte in den Raum und sprang an Hendriks Bein hoch, und ich genoss es ein wenig, dass der ach so coole Typ erschrocken zusammenzuckte. Es huschte wohl ein Lächeln über meine Lippen, denn als Hendrik vom Hund zu mir schaute, lächelte er ebenfalls. Eilig legte ich wieder eine ernste Miene auf. Hendriks Lächeln blieb, er griff zu seinem Handy, und kurz darauf reduzierte sich die Lautstärke der Musik.
»Lara, was kann ich für dich tun?« Am liebsten hätte ich ihn angeschnauzt, es sei mir scheißegal, dass er wusste, dass ich Lara und nicht Linn war, doch stattdessen sagte ich: »Fürs Erste die Musik auf dieser Lautstärke belassen.« Ich verschränkte die Arme und kam mir plötzlich selbst wie Fräulein Rottenmeier aus Heidi vor. Hastig löste ich die Arme wieder und versuchte, lässig dazustehen, strich mir eine Strähne hinter das Ohr, die aus meinem Zopf gerutscht war.
Hendrik lächelte weiterhin, doch es wurde eine Spur kühler. »Nicht dein Geschmack?«, fragte er.
Als Antwort verdrehte ich die Augen. »Darum geht’s wohl nicht«, sagte ich. »Aber nein, nicht mein Geschmack.«
»Was wäre denn dein Geschmack?«
»Ich denke, das geht dich nichts an.«
»Hätte nicht gedacht, dass so eine Eisprinzessin aus dir wird«, murmelte Hendrik so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es richtig verstanden hatte.
»Wie bitte?« Nun wanderten meine Hände ganz automatisch auf meine Hüften.
»Nichts, schon gut«, erwiderte er.
»Snørre komm, wir gehen!«
Snørres Gehör schien unter der Lautstärke der Musik gelitten zu haben, oder er ignorierte mich absichtlich. Auf jeden Fall schnüffelte er lieber weiter den Boden ab.
»Hey du«, lockte Hendrik ihn und beugte sich hinunter. Snørre – der Verräter – wedelte eifrig mit dem Schwanz und sprang erneut an Hendrik hoch, der dieses Verhalten auch noch mit Ohrenkraulen belohnte.
»Snørre!«, rief ich ungehalten. »Komm!«
»Der ist noch jung, oder?«
»Ja, viereinhalb Monate«, erwiderte ich schmallippig.
»In der letzten Woche habe ich euch häufiger beim Pieseln im Hof gesehen.«
»Und genau das müssen wir jetzt auch tun.«
Da der Pudel immer noch keine Anstalten machte, zu mir zu kommen, ging ich eben zu ihm.
»Du auch?«, fragte Hendrik.
»Hä?« Ich verdrehte abermals die Augen. »Wie witzig«, erwiderte ich dann. Ich schnappte mir den Hund und kam dabei Hendrik ziemlich nahe. Mein Herz machte einen schnellen Doppelschlag, und ich kräuselte irritiert die Stirn. Ohne es zu wollen, atmete ich etwas tiefer ein und genoss die Mischung aus Eau de Toilette, Duschgel und etwas Herbem, das ich nicht einordnen konnte, aber auf Anhieb mochte. Eilig trat ich einen Schritt zurück.
»Tschüss Snørre, tschüss Lara «, sagte Hendrik leise, fast sanft. Seine Freundlichkeit kotzte mich an, das war doch reine Provokation!
»Die Musik kannst du auf jeden Fall nicht mehr so laut aufdrehen, da vergeht unserer Kundschaft ja die Shoppinglaune!«, blaffte ich und machte auf dem Absatz kehrt. An der Tür hielt ich nochmal an. »Tschüss Hendrik «, säuselte ich mit einem aufgesetzten Lächeln. Ehe er etwas erwidern konnte, lief ich durch den Flur zum Ausgang.
Ilse fegte gerade vor ihrem Eingang die letzten Blätter fort. »Na, du hast es ja eilig, da rauszukommen«, stellte sie fest.
»Darauf kannst du dich verlassen«, murmelte ich in Snørres Fell, der schon wieder anfing zu zappeln, dieses Mal, um zu Ilse zu kommen.
»Ja, mein Süßer, du willst ein Leckerchen von mir, nicht wahr?« Sie verschwand in ihrem Café und kam keine zwanzig Sekunden später wieder heraus. In der Hand hielt sie eine kleine Tüte Hundeleckerchen.
»Die mag er besonders gern.« Sie hielt Snørre eines der braunen Stückchen hin, und er schmatzte zufrieden. »Ich habe dich jetzt schon öfter mit ihm gesehen, ist Linn krank?«, erkundigte sich Ilse.
»Ähm, nein. Sie ist für einige Wochen auf Gran Canaria.«
»Jetzt, so kurz vor der Adventszeit?«
Ich lächelte nur hilflos und zuckte mit den Achseln.
»Wenn du nun ganz allein bist und den Hund hast – vielleicht solltest du dann über Mittag ein oder zwei Stunden schließen.«
»Hm«, machte ich. Unsere Öffnungszeiten zu ändern, weil ich auf den Hund meiner Schwester aufpassen musste, während sie in der Sonne die Urlauber bespaßte? Nein, das war das Letzte, was ich wollte. »Irgendwie bekomme ich das schon hin«, versicherte ich Ilse zuversichtlicher, als ich mich fühlte. Unser Laden war von 10:00 bis 18:00 Uhr geöffnet. Samstags bis 14:00 Uhr. Üblicherweise war ich aber bereits ein bis zwei Stunden vor der Öffnungszeit dort. Aber das war mit Snørre nicht möglich, und ich hatte es diese Woche meist erst später in den Laden geschafft. Der Tag war für ihn ohnehin lang genug. Oh Mann, warum waren meine Eltern auch ausgerechnet jetzt nicht da?
»Nochmal zum Tattoo-Studio«, begann Ilse schließlich. »Hast du damit jetzt deinen Frieden gefunden? Ich habe mit meiner Bekannten über deine Befürchtungen gesprochen. Aber Hendrik ist wirklich ein guter Kerl, du schätzt ihn falsch ein. Die haben einen gut durchdachten Businessplan, und er ist definitiv kein Mitglied bei diesen Rockern. Erika, meine Bekannte, meinte, dass er zudem sehr verantwortungsvoll ist und gern auf seinen Neffen aufpasst. Außerdem hat er eine abgeschlossene Ausbildung als …«
»Aha«, unterbrach ich Ilses Laudatio über Hendrik. »Ist ja schon gut, mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden.« Dann sah ich auf die Uhr. »Ich muss jetzt das Hygge Up aufmachen. Später hole ich mir gern ein Stück Kuchen bei dir.« Damit drehte ich mich um und ließ die etwas verdutzte Ilse stehen.
Nachdem ich das große Licht im Laden angeschaltet hatte und Snørre friedlich in seinem Körbchen schlief, textete ich meiner Cousine Aline.
Könntest du heute am frühen Nachmittag eine Runde mit Snørre drehen? Linn ist nicht da, und ich kann nicht aus dem Laden weg. Das wäre meine Rettung!
Klar, das mache ich gerne. Ein bisschen frische Luft zwischendurch tut mir auch gut.
Ja, wem sagte sie das. Erneut dachte ich kurz über Ilses Vorschlag nach, verwarf den Gedanken aber sofort wieder.
Bis zum Mittag schlummerte Snørre und ließ sich auch von den Kundinnen und Kunden nicht stören, die in dieser Zeit ins Hygge Up kamen. Und als er sich um kurz nach zwölf reckte, holte ich die Leine vom Haken, und noch ehe er auch nur daran denken konnte, einen See in den Laden zu setzen, war ich schon mit ihm auf dem Hof.
»Dauert nur eine Minute!«, rief ich dem Mann zu, der dabei war, einen Schrank auszumessen.
»Kein Problem!«, erwiderte er freundlich. Ich hatte einfach die beste Kundschaft – und den besten Hund. Denn Snørre schnüffelte nur einige Sekunden in dem Beet, das am Eingang des Hinterhofs lag, und erleichterte sich dann.
»Braver Hund«, lobte ich ihn.
Zurück im Geschäft holte ich eine der Kaustangen hervor, die ich am Samstag im Futterhaus gekauft hatte, und legte sie auf Snørres Platz. Fast war ich verwundert, als ich wenig später bemerkte, dass mein Plan aufging. Snørre lag in seinem Körbchen, hatte die Kaustange zwischen die Vorderpfoten geklemmt und bearbeitete sie mit seinen Zähnchen. Ich konnte mich in Ruhe um die Kunden kümmern und führte in unserer Teeküche einen kleinen Tanz auf, als der Mann tatsächlich den großen alten Bauernschrank kaufte. Das konnte also nur eine gute Woche werden. Abrupt hielt ich inne, als mir klar wurde, dass niemand da war, der mir üblicherweise bei der Auslieferung größerer Möbel behilflich war. Wir hatten den Sprinter nicht nur, um neue Ware zu holen, sondern auch, um verkaufte Stücke zu den Kunden zu bringen. Bei großen Teilen unterstützte uns mein Vater, wenn er da war. Doch weder er noch Linn waren jetzt greifbar. Ich stöhnte. Womit hatte ich das verdient?
Die Türglocke bimmelte. »Moin!«, rief Aline, und ich musste schmunzeln.
»Manchmal glaube ich, in dir steckt mehr Nordlicht als in mir«, sagte ich zu ihr, als ich zurück in den Verkaufsraum trat. Sie lächelte und begrüßte erst mal Snørre.
»Sollen wir eine Runde drehen, mein Kleiner? Ja? Hast du Lust?«
»Ich hole seinen Mantel.«
Als ich mit der Leine und dem grünen Kleidungsstück zurückkam, schaute Aline mich fragend an.
»Schau nicht so, ich habe am Wochenende gelernt, dass Pudel keine Unterwolle haben und daher im Winter eine Jacke brauchen.«
Ich beugte mich zu ihm und zog den Mantel über seinen Kopf.
»Okay«, entgegnete Aline und betrachtete Snørre. »Steht ihm.«
»Finde ich auch. Und wir wollen ja nicht, dass du frierst, nicht, mein Kleiner?«
»Auf keinen Fall«, stimmte Aline mir zu und nahm mir das kleine Fellknäuel ab. »Sag Tschüss zu Lara!« Sie ergriff eine Pfote und winkte mir damit. Ich hob die Hand und winkte zurück. »Viel Spaß, ihr beiden.«
Aline grinste. »Du lieber Himmel, wie werden wir wohl sein, wenn wir Kinder haben?«
»Kommt drauf an, ob die genauso süß sind wie Snørre«, erwiderte ich trocken, und wir mussten beide lachen.
Kurz darauf kam eine junge Frau in den Laden, und ich fragte, ob ich ihr helfen könnte.
»Wir bauen gerade ein Haus, und ich hätte so gern einen alten Küchenschrank für unseren Essbereich.«
»Da haben wir gerade einen ganz tollen neu im Laden.« Lächelnd führte ich sie zu dem Möbelstück.
Eine knappe Stunde später kam Aline mit Snørre zurück, und als sie mir ein Fischbrötchen von der Bude unten am Museumshafen überreichte, umarmte ich sie spontan, dankbar für ihre Fürsorge. In dem Moment merkte ich, wie sehr es mir zu schaffen machte, dass Linn mich einfach mit allem hängenließ.
»Danke, Cousinchen«, sagte ich gerührt.
»Hey, ist nur ein Fischbrötchen.«
»Es ist so viel mehr, und das weißt du.«
Sie befreite Snørre aus seinem Mantel, der daraufhin von allein zu seinem Platz trottete und sich wieder der Kaustange widmete.
»Hat er sich benommen?«
»Vorbildlich. Obwohl er größenwahnsinnig ist – er wollte eine Möwe jagen, die doppelt so groß war wie er.«
Ich schmunzelte mit vollen Wangen. »Typisch Mann. Scheint speziesübergreifend zu sein.«
»Apropos Mann, ich habe vorhin, als ich gekommen bin, Hendrik draußen gesehen. Du hättest doch nichts dagegen, wenn ich deinen neuen Nachbarn unterstütze, indem ich mir von ihm was stechen lasse, oder?« Sie holte ihr Handy hervor. »Ich habe etwas gezeichnet, was mich an meine Mutter erinnert. Und an Jochen.« Sie zeigte mir ein Bild, das wie ein abstrakter Blumenstrauß der Erinnerungen aussah. Ich sah angedeutete Silhouetten von ihrer Mutter und meinem Onkel, dazu einige maritime Details und kleine Zahlen, bei denen es sich um Koordinaten handelte, und ein zerbrochenes Herz. Alles floss ineinander über, und doch verstand ich sofort das Gefühl, das dahintersteckte.
»Das ist wunderschön.«
»Also hättest du nichts dagegen, wenn ich ins Studio nebenan gehe?«
»Wie könnte ich? Das mit der ›Verräterin‹ neulich war doch nur Spaß.« Ich drückte ihre Hand.
Sie lächelte mich erleichtert an. »So, ich werde mich jetzt noch eine Weile bei Ilse ins Café setzen und weiterzeichnen.«
»Danke für deine Hilfe!«
»Wo ist Linn überhaupt?«
»Frag nicht«, wehrte ich ab.
»Tue ich aber. Ich meine, es ist ihr Hund, euer Laden …«
»Sie ist für eine Weile auf Gran Canaria, sie musste mal weg, vom Laden und von mir.«
»Was?« Aline lachte ungläubig auf. »Wie lange ist denn diese ›Weile‹?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ein Teil von mir hoffte immer noch, sie würde bald überraschend wieder auf der Matte stehen. Doch ein anderer Teil verhöhnte mich für diese Hoffnung.
»Soll ich die nächsten Tage mittags wieder mit Snørre laufen?«
Ich zögerte. Es reichte, wenn ich die Folgen von Linns Handlungen ausbaden musste.
»Ich gehe eh jeden Tag einmal zum Hafen, um ein bisschen Seeluft einzuatmen, das ist wirklich kein Problem.«
»Okay, aber wenn es dir zu viel wird, sag bitte Bescheid! Ende der Woche kommen meine Eltern wieder, spätestens Anfang nächster. Dann kann er tagsüber dorthin.« Im selben Moment fiel mir der Kunde mit dem Schrank wieder ein. Ich stöhnte. »Vielleicht muss ich dich und Tom auch noch um Hilfe bei der Auslieferung eines Schrankes bitten.«
»Gern, wann denn?«
»Freitag nach Ladenschluss?«
»Da kann ich nicht und du auch nicht.«
Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. »Wieso kann ich da nicht?«
»Der Bootsführerschein?«
»O nein! Den hab ich in all dem Trubel schon wieder vergessen!«
»Wir müssen Freitag von 19:00 bis 21:00 Uhr und Samstag und Sonntag von 10:00 bis 16:00 Uhr zu diesem Theoriekurs.«
Ich sank auf einen der alten Holzstühle in der Ausstellung. Wie sollte ich das schaffen? Mein Blick glitt zu Snørre. »Ich glaube, ihr müsst den ohne mich machen.«
»Kommt nicht in Frage! Tom kümmert sich bestimmt um Snørre.«
»Aber der …«
»Und am Samstag um den Laden.«
»Nein, das geht nicht …«
»Wirst du schon sehen. Wir wollen diesen Führerschein doch gemeinsam machen, damit wir im Sommer auch mal ohne die Jungs loskönnen.«
»Aber ihr habt ihn dann doch und könnt mich einfach mitnehmen«, schlug ich vor.
»Es wird dir guttun, mal auf andere Gedanken zu kommen – glaube mir, ich spreche aus Erfahrung. Und der Laden hat am Samstag doch nur vier Stunden auf, das bekommt Tom schon hin. Ihm helfen auch öfter seine Freunde, zum Beispiel Bent beim Bierausliefern. Du musst zulassen, dass andere dir helfen, Lara.«
»Ist nicht meine Stärke«, murmelte ich. Weil ich es gewohnt war, diejenige zu sein, die sich kümmerte, setzte ich gedanklich hinzu. »Dann könnten wir den Schrank vielleicht Samstag nach dem Kurs ausliefern«, überlegte ich laut.
»Gute Idee, ich schreib dir, ob alles klargeht. Bis morgen, Snørre!« Aline wuschelte ihm noch einmal durch die Locken, dann schlang sie sich wieder ihren XX L -Schal um den Hals und setzte die Mütze auf.
Gerade als ich mich daranmachen wollte, den verkauften Schrank freizuräumen, erklang der Nachrichtenton meines Handys. Meine Freundin Hanna.
Wie geht’s dir? Bist du sauer auf mich?
Ganz gut, und nein, bin ich nicht! Du hast im Grunde ja recht mit dem, was du gesagt hast.
Es tut mir trotzdem leid, was oder vielmehr wie ich es gesagt habe. Es ist ganz allein deine Sache, wie du die Situation mit deiner Schwester handhabst. Ich habe nur das Gefühl, es geht dir aktuell nicht gut damit.
Da hatte sie recht, trotzdem war es schwer, sich das einzugestehen. Bevor ich zurückschreiben konnte, sendete Hanna noch eine Nachricht.
Hast du was von ihr gehört?
Nein, sie ist noch auf Gran Canaria.
Wenn du reden willst, sag Bescheid! Ab Freitag sind wir allerdings für eine Woche weg. Erst Familienbesuch und dann die langersehnten Wellnesstage in Österreich!
Oh, ich bin neidisch! Zumindest auf die Wellnesstage. Dieses Wochenende steht bei mir der Bootsführerschein an. Echt schade, dass du nicht dabei bist!
Du weißt doch, mir wird auf Booten immer übel.
Dazu sendete sie den grünen Smiley, und ich grinste.
Am 16. Januar habe ich jetzt übrigens einen Termin im Brautmodengeschäft. Da kommst du doch mit, oder?
Na klar! Ich freue mich schon sehr darauf!
Hanna schickte noch ein Herz, und danach legte ich das Handy weg.
Ich dachte an die kommenden Wochen, den Führerschein, das Adventskranzbinden und den Adventsmarkt, und dabei breitete sich ein unangenehmes Druckgefühl in meinem Magen aus. Ich nahm mein Handy wieder in die Hand, und mit grimmiger Miene tippte ich eine Nachricht an Linn.
Wann gedenkst du wiederzukommen?