Die Woche raste dahin. Am Freitag hetzte ich nach Ladenschluss eine Runde mit Snørre durch die Gassen und brachte ihn dann nach Hause. Die zwei Stunden, während ich den Kurs besuchte, musste er allein bleiben. Dafür hatte ich nicht auch noch Tom einspannen wollen.
»Bis später, Süßer!«, rief ich und hoffte, er würde sich mit seiner Kaustange und nicht mit meinen Schuhen beschäftigen.
Der Kurs für den Bootsführerschein fand auf der anderen Fördeseite in einer Jugendherberge unweit des Sonwiker Hafens statt.
Fünf Minuten zu spät erreichte ich den Veranstaltungsort. Nora und Aline warteten vor dem Eingang auf mich. Hastig umarmte ich die zwei. »Sorry!«
»Kein Problem, ich denke, in den ersten Minuten werden wir nichts Entscheidendes verpassen«, sagte Nora.
»Dann wollen wir mal!«
Wir folgten den Hinweisschildern zu einem Raum im Untergeschoss, der mit vier Reihen mit jeweils drei Zweiertischen bestückt war.
»Moin«, murmelten wir, als wir eintraten. Ich war erstaunt, wie gut besucht der Kurs war. Alle Tische bis auf zwei waren belegt. Da ich als Letzte in den Raum kam, setzten sich Nora und Aline gemeinsam an einen der beiden freien Tische und ich mich an den anderen daneben. Meine Tasche stellte ich auf den freien Stuhl und schälte mich aus meinem Mantel.
»Dann sind wir fast vollzählig – guten Abend! Ich bin Freddy. Bitte tragt euren Namen auf das Namensschild ein. Die Mappe vor euch enthält alle wichtigen Infos zur Prüfung. Zu der Seekarte und den dort enthaltenen Navigationsaufgaben kommen wir später.«
Neugierig schaute ich mich um. Ganz unterschiedliche Typen nahmen an diesem Kurs teil. Da waren ein paar junge Mädels, ich schätzte sie auf höchstens Anfang zwanzig, mit Schlaghosen und Dreadlocks. Im krassen Gegensatz dazu einige alte Männer mit weißen Bärten. Und irgendwo dazwischen reihten wir uns ein.
Gerade als ich mich wieder nach vorn drehte, um Freddy anzuschauen, ging die Tür noch einmal auf.
Hendrik.
Hendrik?
Das war doch ein Scherz, oder? Bitte, bitte, lass ihn sich in der Tür geirrt haben, schickte ich als Stoßgebet gen Himmel. Doch er schien sich sicher, hier richtig zu sein. Sein Blick traf meinen, und er gab sich Mühe, seine Überraschung zu verbergen – ganz im Gegensatz zu mir. Erst als er direkt auf meinen Tisch zuhielt, wurde mir klar, dass neben mir der letzte freie Platz im Raum war. Mit geweiteten Augen schaute ich von dem leeren Stuhl zu Aline und Nora. Die beiden pressten die Lippen zusammen, um ihr Grinsen zu verbergen. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, und ich funkelte sie böse an.
»Moin, dann sind ja jetzt alle da«, begrüßte Freddy den letzten Kursteilnehmer. »Setz dich neben – ähm, lass mich bitte kurz dein Schild lesen – neben Lara und beschrifte ebenfalls dein Namensschild.«
Widerwillig griff ich nach meiner Tasche und machte Platz. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ein Stück zur Seite in Richtung Nora und Aline zu rutschen. Hendrik, mal wieder ganz in Schwarz gekleidet, notierte seinen Namen auf dem Schild. Er war Linkshänder – na super, dann würde sein linker Arm permanent in meine Tischhälfte ragen. Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während ich vorgab, starr nach vorn zum Kursleiter zu schauen, der rechts neben der Tafel saß. Was dazu führte, dass ich meinen Kopf etwas nach rechts – zu Hendrik – drehen musste. Bei jedem Einatmen erreichte eine schwache Dosis seines Eau de Toilette meine Nase. Roch gar nicht so übel, dachte ich wieder und fühlte mich an den Moment im Tattoo-Studio erinnert. Na ja, es war besser, er roch gut, als dass ich hier die nächsten Stunden neben jemandem sitzen musste, der müffelte.
»Erst noch einmal herzlich willkommen zu unserem Kurs ›Sportbootführerschein See‹.« Es folgte eine Erläuterung, was der Kurs beinhaltete und wozu er uns befähigte. Dann sagte Freddy: »Oben neben dem Eingang befinden sich einige Snackautomaten, und dort könnt ihr euch ebenfalls bedienen.« Er deutete zu einem kleinen Tisch mit Getränken. »Das Wasser ist umsonst, für den Kaffee bitte einen Euro in die Schale werfen. Die meisten von euch haben heute sicherlich gearbeitet«, fuhr Freddy fort, und wie aufs Stichwort musste ich gähnen. »Lara ist auf jeden Fall schon müde«, frotzelte er, und alle Köpfe drehten sich kurz zu mir. Hendrik schmunzelte.
»War ein langer Tag«, murmelte ich entschuldigend.
»Deswegen werden wir heute nur leichten Stoff durchnehmen und uns morgen und übermorgen um die schweren Themen, wie zum Beispiel die Navigationsaufgaben, kümmern«, redete Freddy weiter, und ich war froh, dass alle wieder zu ihm schauten. »Dafür benötigt ihr Navigationsbesteck. Wer so etwas nicht besitzt, kann es bei mir für 25 Euro kaufen.« Der Kursleiter hielt ein durchsichtiges Mäppchen hoch, in dem sich Geodreiecke und ein Zirkel befanden.
»Das sieht furchtbar nach Mathe aus«, raunte Aline links von mir.
»Ihr wolltet das hier«, erinnerte ich sie.
»Wir alle«, verbesserte Nora mich.
»Heute fangen wir mit den Kennzeichnungen und der Betonnung von Seewegen an.« Freddy klickte auf den ersten Punkt der Auflistung, die auf dem Whiteboard zu sehen war.
Es folgte eine endlose Reihe von kleinen Beispielbildern und meine Augenlider wurden zunehmend schwerer. Die Farben und Formen der Tonnen und Bojen waren nicht gerade spannend … Ich blinzelte gegen die bleierne Müdigkeit an.
»So, kleines Päuschen?«, fragte Freddy irgendwann. Ich schaute auf die Uhr, erst eine Stunde war vergangen.
Zustimmendes Gemurmel erfolgte, und Stühle wurden gerückt.
»Ich lüfte mal«, sagte Nora und steuerte die Fensterreihe an.
»Gute Idee. Und ich hole mir einen Kaffee.« Das plante offenbar auch die Hälfte der anderen Teilnehmenden, und ich musste ein paar Minuten anstehen. Erleichtert sah ich zu, wie die schwarze Flüssigkeit in meine Tasse floss. Ich schüttete noch etwas Zucker rein, dann drehte ich mich wieder um – und seufzte. Hendrik saß auf der Ecke meiner Tischseite und schnackte mit Aline und Nora.
»Darf ich mal?«
Hendrik erhob sich und stellte sich zwischen die Tischreihen, um weiter mit Nora und Aline zu plaudern. Ich quetschte mich an ihm vorbei, wobei ich ihn leicht streifte. Kurz kam es mir vor, als verspannte er sich, doch als ich meinen Blick hob, lag ein lässiges Lächeln auf seinen Lippen.
»Wann eröffnet ihr?«, fragte Aline.
»Wenn wir es schaffen, mit dem Start des Adventsmarktes nächstes Wochenende, wir dachten, das passt gut zusammen und zieht schön viele Leute in den Hof.«
Mir entwich ein humorloses Auflachen, ehe ich die Tasse an die Lippen führte. Ich spürte die Blicke der anderen drei auf mir, doch mein Akku war zu leer, um noch irgendeine Art von Freundlichkeit vorzutäuschen – ich war eben auch nur ein Mensch.
»Sollen wir weitermachen?«, fragte Freddy, der der Erste an der Kaffeebar gewesen war, in diesem Moment und rettete mich damit vor dieser Konversation.
Jemand schloss die Fenster, und alle gingen wieder zu ihren Plätzen. Ich versuchte wirklich, mich auf die Folien zu konzentrieren, doch nachdem ich die Tasse leer getrunken hatte, fiel es mir von Minute zu Minute schwerer. Jetzt mit einem Buch im Bett eingekuschelt sein … Nach der romantischen Komödie las ich gerade einen Liebesroman, der ziemlich tragisch war, ich musste nur daran denken und spürte förmlich das Kribbeln zwischen den Hauptfiguren. Das Eintauchen in diese Geschichten war jedes Mal eine Auszeit vom Alltag. Ich eilte gedanklich schon mal zu den Seiten, auf denen Adrian Hardwell an der Ostküste der USA auf mich … äh, auf seine Marissa wartete.
Als Nächstes spürte ich einen sanften Stoß gegen meinen rechten Oberschenkel und schreckte hoch.
»Was soll das?«, zischte ich Hendrik zu.
»Du bist eingenickt.«
»Bin ich nicht!«
Er verzog das Gesicht, und seine braunen Augen funkelten amüsiert. »Du hast geschnarcht, das hat mich beim Zuhören gestört.«
»Nein, ich …« Ich spürte, wie mir Hitze in die Wangen schoss. Verzweifelt drehte ich mich zu Aline und Nora um.
»Hab ich geschlafen?«, fragte ich leise.
Aline nickte mit einem mitfühlenden Blick.
Verflucht! Ich rieb mir übers Gesicht und wandte meinen Kopf wieder nach vorn. »Geschnarcht habe ich aber nicht!«, murmelte ich entschieden.
»Wolltest du etwas sagen, Lara?«, fragte Freddy.
»Ich? Nein, nein …«, stammelte ich überrumpelt.
»Wir sind uns nur nicht einig in der Frage, ob Lara schnarcht«, sagte Hendrik, und alle im Raum lachten. Fassungslos starrte ich ihn an. Er begegnete meinem Blick, doch mein Spinnst-du-Gesichtsausdruck schien ihn überhaupt nicht zu beeindrucken.
»Okay.« Freddy schüttelte ebenfalls lächelnd den Kopf. »Vielleicht könnt ihr das später zu Hause klären.«
»Klar, sorry«, sagte Hendrik, während ich mir sicher war, es würde gleich pfeifend Dampf aus meinen Ohren kommen, wie bei einem Teekessel. Denn die Temperatur in meinem Innern befand sich kurz vor dem Siedepunkt.
Zumindest verhinderte die Wut, dass ich nochmal einnickte. Freddys Ausführungen über Lichtzeichen konnte ich trotzdem nur schwer folgen und sprang regelrecht auf, als er uns für diesen Abend entließ.
»Bis morgen früh um zehn. Denkt an das Geld für die ärztliche Untersuchung und für das Navigationsbesteck, falls ihr keines habt.«
Beim letzten Wort hatte ich bereits meine Jacke an und schaute abwartend zu meinen Freundinnen, die es nicht so eilig hatten wie ich. Endlich hatten sie ihren Krempel zusammengepackt, und wir liefen nebeneinander den Flur entlang. »Puh, Bent hat schon erzählt, dass die Theorie nicht nur schwierig ist, sondern obendrein auch noch nicht sonderlich spannend«, sagte Nora und gähnte nun auch.
»Ja, das meinte Tom auch, und er hat dann noch großzügig hinzugefügt, es wäre keine Schande, wenn ich durchfalle.«
»Mädels, diese Blöße geben wir uns nicht! Wir ziehen den Scheiß durch und bestehen beim ersten Versuch.«
Aline nickte eifrig, ehe sie das Thema wechselte.
»Was für ein Zufall, dass Hendrik auch in dem Kurs ist, oder?«
»Ja, ganz toller Zufall«, brummte ich.
»Wenn du dich neben ihm unwohl fühlst, können wir morgen die Plätze tauschen«, bot sie an.
Mein erster Impuls war zuzustimmen. Aber dann kam es mir doch etwas albern vor, und außerdem wollte ich nicht, dass Hendrik dachte, er interessierte mich auf irgendeine Art und Weise.
»Hm, nein, geht schon. Aber sagt mal, habe ich wirklich geschnarcht?«
Nora prustete los. Aline zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Nur ein klein wenig«, hörte ich Hendriks Stimme, als er an mir vorbeiging. »War irgendwie süß.«
Das verschlug mir die Sprache, und in meinem Inneren brodelte es prompt wieder.
»Pff, dieser … ihr hättet mir ruhig sagen können, dass er so dicht hinter uns läuft!«, zischte ich.
»Wir haben hinten auch keine Augen«, sagte Nora und kicherte unterdrückt. »Was ist das eigentlich für eine Fehde zwischen euch?«
»Ich bin einfach nicht glücklich mit dem Tattoo-Studio im Hinterhof. Ich hätte mir was anderes für Marthas Laden gewünscht. Außerdem hat Hendrik damals, als er mit Linn zusammen war, nicht unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. Weder bei mir noch bei ihr.«
»Was genau ist da denn passiert?«, erkundigte sich Aline.
»Offenbar hat er Linn vorgegaukelt, in sie verliebt zu sein, wollte aber nur seinen Spaß, während er eigentlich hinter einer anderen her war, oder so ähnlich. Mich hat er unter anderem als nerviges Anhängsel bezeichnet, und das war wohl noch der netteste Ausdruck. Das ist zwar alles ewig her – aber irgendwie regt er mich auf!«
»Tja, ich befürchte, das weiß er«, sagte Nora, und Aline nickte zustimmend.
»Meint ihr? O Mann, bis morgen arbeite ich an meiner Coolness.«
»Ich finde, bisher macht er einen echt netten Eindruck, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben, wo doch eure Läden nebeneinanderliegen, von wegen guter Nachbarschaft und so. Und wenn es schon so lange her ist …«
»Ganz gewiss nicht!« Schließlich hatte ich deutlich gemacht, wie unpassend ich das Studio fand, und nur, weil ich es nicht ändern konnte, brauchte ich es noch lange nicht gutzuheißen. »So Mädels, ich muss nach Hause, Snørre wartet«, beendete ich das Gespräch.
»Tom und ich kommen dann morgen früh zum Laden.«
»Prima, ich gehe davor eine große Runde mit Snørre.«
Wir umarmten uns zum Abschied, und ich lief zu meinem Auto.