Nachdem ich am nächsten Morgen mit Snørre früh am Strand von Wassersleben und im angrenzenden Wald unterwegs gewesen war, setzte ich mich noch eine Weile auf eine Bank, sah Snørre beim Buddeln zu und genoss die Stille. Der Himmel war klar, die Sonne war gerade aufgegangen. Hoffentlich blieb das Wetter während der nächsten Wochenenden so schön. Denn bei norddeutschem Schietwetter mit Wind und Dauerregen würden sicherlich nicht viele Leute zu unserem Adventsmarkt kommen. Nach einem Blick auf die Uhr erhob ich mich und rief Snørre, der mich aber – mal wieder – nicht beachtete. Doch dank der Schleppleine konnte er mir zumindest nicht entwischen.
Beim Hygge Up hatte ich noch genügend Zeit, alles für den Tag vorzubereiten, sodass Tom nur die Stellung hinter dem Tresen halten und bei Bedarf die Kunden beraten musste. Hoffentlich ging das gut.
»Moin!«, erklang seine Stimme kurz darauf zusammen mit der Türglocke. Aline tauchte hinter ihm auf.
»Guten Morgen, und nochmal tausend Dank, dass du hier einspringst! Bist du sicher, dass du die Zeit dafür hast?«
»Es sind doch nur ein paar Stunden. Erklärst du mir noch deine altertümliche Kasse?«
Schmunzelnd trat ich an den Tresen und zeigte Tom, wie man die Beträge eingab und die Kasse öffnete. Aline knuddelte derweil Snørre.
Nachdem Tom für alles – den Hund und den Laden – eine gründliche Einweisung erhalten hatte, düsten wir mit meinem Auto auf die andere Hafenseite zur Jugendherberge, wo Nora schon auf uns wartete.
»Auf geht’s, Mädels! Hoffentlich ist es heute interessanter!«, rief sie uns entgegen.
»Beruhigt mich, dass nicht nur ich es gestern zum Einschlafen fand.«
Obwohl ich Alines Angebot, mit ihr den Platz zu tauschen, abgelehnt hatte, hoffte ich doch ein wenig, dass Hendrik sich vielleicht von allein woanders hinsetzen würde.
Aber als wir den Raum betraten, saßen alle exakt auf denselben Plätzen wie gestern, und ich verdrehte innerlich die Augen. Kaum hatte auch ich mich gesetzt, schlenderte Hendrik durch die Tür. Ich tat geschäftig und studierte eine der Seekarten und die dazugehörige Aufgabe.
Ein Sportboot befindet sich am 23. 05. 2011 in der Deutschen Bucht auf der Fahrt aus der Jade nach Langeoog. Um 13:30 Uhr wird die Tonne »1b/Jade 1« nahebei passiert. Die Fahrt über Grund wird mit 6 kn angenommen.
Ach herrje, das konnte ja heiter werden.
1. Entnehmen Sie der Seekarte die geografische Position des Sportbootes um 13:30 Uhr.
2. Von dieser Tonne aus wird der Kurs auf die Tonne »Accumer Ee« abgesetzt. Tragen Sie den Kurs in die Seekarte ein.
»Guten Morgen.« Hendrik setzte sich auf den Stuhl neben mich. Offenbar trug er nur ein Shirt, denn obwohl ich nicht hochschaute, tauchten seine tätowierten Arme in meinem Sichtfeld auf. Ich wandte mich nach links zu Aline und Nora. »Habt ihr euch schon die Navigationsaufgaben angesehen?«
»Ja, und Mathe und ich waren keine Freunde in der Schule«, jammerte Aline.
»Aber zeichnen kannst du doch gut«, ermunterte ich sie. »Das bekommst du schon hin. Freddy wird es ja hoffentlich ausreichend erklären. Eins kann ich euch übrigens sagen, ich habe weder Tom noch meinen Vater jemals diese Dinge beim Bootfahren tun sehen, die in den Aufgaben abgefragt werden.«
»So, ihr Lieben, heute geht es also richtig los. Wir starten mit wichtigen Sicht- und Schallzeichen, und dann wenden wir uns der ersten Navigationsaufgabe zu. Ungefähr in einer Stunde kommt Sebastian, unser Arzt, der bei euch den See- und Hörtest durchführt.«
»Ich habe eine Seetauglichkeitsbescheinigung von der Bundeswehr«, erklärte eine von den jüngeren Frauen.
»Hm, ja, aber die Prüfungskommission akzeptiert nur dieses ausgefüllte Formular.« Freddy hielt einen Zettel hoch.
Sie diskutierte fünf Minuten mit ihm, bis er resignierend mit den Schultern zuckte. »Wir sollten anfangen.« Freddy klickte etwas auf seinem Laptop an, was dann umgehend auf dem Whiteboard erschien. Sichtzeichen bei Fahrzeugen lautete die Überschrift, und bei jedem Klick erschien ein neues kleines Bild eines Schiffes mit verschiedenen farbigen Flaggen oder Leuchten. Ehrlich gesagt schaltete ich bereits nach zwanzig Minuten ab, und mein Blick wanderte von dem Whiteboard zu Hendriks linkem Unterarm. Ich studierte die Tattoos. Am Handgelenk begann es mit einem Kompass, der auf einer Seekarte lag. Innerlich lachte ich auf, weil es mich an die eben angeschaute Navigationskarte erinnerte. Darüber brach sich die tosende See in einer großen Welle mit viel Gischt, und ein Stück oberhalb stand Memento Mori . Von da ging die Szenerie in Wald über, dunkle Nadelbäume mit sichtbaren Wurzeln, dazwischen der Kopf eines Wolfes – alles in Schwarz-Weiß gehalten, nur wenige farbige Akzente, wie die Augen des Wolfes, die blau leuchteten. Auf dem rechten Arm hatte Hendrik offenbar mehr farbige Tattoos, doch links war fast alles schwarz-weiß – das gefiel mir besser, überlegte ich, während mein Blick weiter hoch wanderte zu zwei Würfeln und vier Assen mit den Worten All in , die unter seinem Ärmel hervorlugten.
»Lara, wie sieht’s mit dir aus?«, drang Freddys Stimme an mein Ohr. Ich hob den Kopf, wodurch ich zunächst in Hendriks Gesicht sah. Sein Mundwinkel zuckte. Mist! Er hatte bemerkt, dass ich ihn angegafft hatte. Mit einem Lächeln schaute ich an ihm vorbei zu Freddy. »Entschuldigung, wie war die Frage?«
Freddy tippte auf den Bildschirm, wo ein Segelboot mit schwarzem Dreieck zu sehen war, die Spitze nach unten gerichtet.
»Hm«, machte ich. »Ich fürchte, das weiß ich nicht.«
»Segelfahrzeug mit Maschinenkraft«, sagte Hendrik neben mir.
Was für ein Blödmann! Sollte er sich doch einen Keks darauf backen, dass er mehr über diese bescheuerten Zeichen wusste als ich.
Als es wenig später an der Tür klopfte und ein gut aussehender Kerl in meinem Alter hereinkam, wurde ich wieder wacher.
»Ah, der Herr Doktor. Sebastian, schön, dass du da bist. Sollen wir gleich loslegen?«, begrüßte Freddy ihn.
»Gern, ich bin in dem Raum am Ende des Flures rechts.«
»Super, dann nimm doch gleich jemanden mit, und ich schicke immer ein paar Leute nach.«
Sebastians Blick streifte die Reihen, und aus einem Impuls heraus stand ich auf. »Ich mache den Anfang.« Kurz glaubte ich, Hendrik neben mir auflachen zu hören.
Ich folgte Sebastian, der mich freundlich anlächelte, und war froh, dem trockenen Lernstoff und Hendriks Nähe für eine Weile zu entkommen.
Sebastian führte mich in das Zimmer am Ende des Flures, in dem ein Billardtisch stand. »Schickes Behandlungszimmer«, scherzte ich.
»Ja, ist mal was anderes.« Er griff zu einer Liste. »Du bist …?«
»Lara Martens.«
Er setzte einen Haken hinter meinen Namen und erklärte mir dann kurz, wie die Untersuchung ablaufen würde. Im Grunde bestand sie aus einem sehr simplen Seh- und Hörtest.
Zunächst erkundigte Sebastian sich nach Sehhilfen, Krankheiten und so weiter, dann legte er ein paar Kärtchen auf den Billardtisch, um zu schauen, ob ich eine Rot-Grün-Sehschwäche hatte. Ich erkannte die Zahlen einwandfrei.
»Kommst du aus Flensburg?«, fragte ich. Vielleicht arbeitete er bei Nora im Krankenhaus.
»Nein, aus Kiel. Kannst du dich bitte mit dem Rücken an die Wand stellen und die Zahlen und Buchstabenreihen auf der gegenüberliegenden Seite ablesen?« Erst jetzt bemerkte ich das dort aufgehängte Plakat. »Bitte das linke Auge zuhalten.«
Ich las alles richtig – soweit ich das einschätzen konnte. Im Anschluss sollte ich mich vorm Billardtisch positionieren, und Sebastian stellte sich jeweils in eine Ecke des Raumes und flüsterte leise Zahlen – das war wohl der ulkigste Hörtest, der mir je untergekommen war. Dennoch musste ich mich ziemlich konzentrieren, um sein Gewisper zu verstehen. Als er danach den Bogen ausfüllte und 25 Euro abkassierte, plauderten wir noch ein wenig. Auf meine Nachfrage erzählte er, dass er Segler war. Sebastian war definitiv ein Typ Mann, den ich interessant fand.
Zum Schluss sagte ich möglichst locker: »Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, falls du öfter in Flensburg bist …«
»So schnell wohl nicht«, unterbrach er mich murmelnd.
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Ich fliege bald nach Florida und segle von dort in die Karibik.«
»Oh, wow, das klingt toll!«
»Ja, meine Freundin und ich planen das schon lange.«
Freundin – war ja klar, Typen wie Sebastian waren niemals Single. Ich setzte ein bemühtes Lächeln auf. »Dann Mast- und Schotbruch.« Das stand auf Freddys Begrüßungsoberfläche und war hoffentlich das Petri Heil der Segler.
»Danke.« Sebastian lächelte ein letztes Mal unverbindlich. »Schickst du den Nächsten rein?«
»Klar.« Nichts wie raus hier. Der Nächste – Hendrik – stand auch schon bereit, und sein belustigter Gesichtsausdruck ließ mich vermuten, dass er genau mit angehört hatte, wie ich mich zum Affen gemacht hatte.
In der ersten Pause gönnte ich mir eine Tasse Kaffee, und Nora riss wieder alle Fenster auf. Was glücklicherweise dazu führte, dass Hendrik sich einen Pulli überzog und ich so nicht mehr in Versuchung geriet, seine Tätowierungen zu ergründen. Ungefähr die Hälfte der Leute verschwand nach draußen, wahrscheinlich, um zu rauchen. Ich unterhielt mich mit Nora und Aline und schickte Tom eine WhatsApp mit der Frage, ob alles in Ordnung war. Dabei fiel mein Blick auf den Chat mit meiner Schwester, in dem bisher keine Antwort bezüglich ihres Zurückkommens eingetrudelt war. Kurze Zeit später erhielt ich ein Selfie von Tom mit Snørre auf dem Arm.
Wir haben alles im Griff!
Lächelnd legte ich das Telefon beiseite. Hendrik hatte sich ebenfalls einen Kaffee geholt und sich damit wieder an seinen Platz gesetzt.
»Wie kommt es, dass du den Bootsführerschein machst? Hast du vor, dir ein Boot zu kaufen?«, fragte Aline meinen Sitznachbarn. Neugierig spitzte ich die Ohren.
»Ein Sportboot wohl erst mal nicht, mein ganzes Geld ist in das Studio geflossen. Aber eines besitze ich schon – ein Hausboot.«
»Ein Hausboot?«, wiederholte Nora begeistert.
»Ja, es liegt im Alten Industriehafen. Im Sommer vermiete ich es, aber im Winter ist die Nachfrage nicht so hoch, deswegen wohne ich aktuell selbst dort.«
»Oh, das ist ja cool!« Aline war begeistert, und ich musste zugeben, dass ich es auch toll fand.
»Im Alten Industriehafen, sagst du?«, erkundigte sie sich, und Hendrik nickte.
»Ich glaube, dann habe ich es schon gesehen. In dem Hafen liegt auch das Boot von Tom und unserem Freund Sören.«
»Und ihr, warum macht ihr den Führerschein?«
»Damit wir auch mal eine Mädelstour ohne die Männer machen können«, flötete Nora.
»Also haben eure Freunde alle einen Bootsführerschein?« Komischerweise sah er dabei mich an.
»Alines Freund Tom und meiner haben einen, ja. Bei Lara hapert es momentan am Freund.«
Was? Ich feuerte einen bösen Blick auf meine Freundin ab, doch die lächelte mich zuckersüß an, während sie mich über der Schlangengrube baumeln ließ. Ich merkte, wie mein Gesicht warm wurde. Na prima!
Glücklicherweise rettete mich Freddy, indem er den Unterricht fortsetzte.
Am Ende eines jeden Abschnitts erschienen auf dem Whiteboard eine Reihe mit möglichen Prüfungsfragen, aus denen Freddy einige rauspickte. Ein Typ hinter mir schoss so schnell die Antworten heraus, dass ich ernsthaft an meiner Intelligenz zweifelte, denn ich hatte zu dem Zeitpunkt oft noch nicht mal alle Antwortmöglichkeiten gelesen. Bei den Navigationsaufgaben schlug ich mich dann recht gut, auch wenn ich nicht so schnell war wie mein Sitznachbar – aber der kannte sich ja von Berufs wegen mit genauen Linien aus. Und dass man keinen Taschenrechner benutzen durfte, brachte mich zusätzlich ins Straucheln.
Als Freddy uns um vier Uhr entließ, atmete ich erleichtert auf. Ich hatte vergessen, wie ermüdend es sein konnte, den ganzen Tag nur zu sitzen und jemandem zuzuhören, wie er über Dinge redete, die mich nicht im Geringsten interessierten.
Aline fuhr mit mir zum Laden, da wir mit Tom noch den Schrank ausliefern wollten. Ein bitterer Kloß formte sich in meinem Hals, als ich an meine Schwester dachte, die lieber bei fünfundzwanzig Grad Cocktails mixte oder Wassergymnastikkurse gab, anstatt hier zu sein, und es nicht einmal für nötig hielt, mir mitzuteilen, wann sie wiederkam.
Tom begrüßte Aline mit einem Kuss, Snørre schleckte mir ebenfalls einmal über die Wange.
»Hat alles geklappt?«, erkundigte ich mich.
»Kein Problem, wir Männer hatten hier alles im Griff. Ich habe die salbeigrüne Kommode verkauft, die Kunden haben sie auch gleich mitgenommen, da ist also jetzt ein Loch in der Ausstellung.«
»Wow, super, danke!«
»Hat Spaß gemacht! Und wie lief es bei euch?«
Meine Cousine berichtete stöhnend von dem langweiligen Stoff. »Ich habe es dir ja gesagt«, war alles, was Tom darauf erwiderte.
»Er ist beleidigt, weil ich ohne ihn Boot fahren will«, flüsterte mir Aline schmunzelnd zu.
Ich verdrehte lachend die Augen und hielt ihr den Hund hin. »Typisch Mann. Nimmst du Snørre bitte mal? Dann fahre ich den Transporter vor die Tür.«
Ich kramte den Schlüssel hervor und manövrierte den Lieferwagen rückwärts vor den Eingang. Nachdem ich die Wagentüren geöffnet hatte, legte ich noch die Tücher und Spanngurte bereit, ehe ich Snørre ins Auto setzte, damit wir alle die Hände frei hatten. Tom wartete schon mit den Rollbrettern im Laden, und es gelang uns recht problemlos, den alten weißen Bauernschrank darauf zu hieven. Aber der kritischste Punkt kam noch – wenn wir ihn in den Transporter heben mussten.
»Und ihr seid euch sicher, dass ihr eine Seite halten könnt?«, fragte Tom, als wir vor dem geöffneten Transporter standen.
»Ja, Linn, mein Vater und ich haben schon oft Schränke ausgeliefert«, erwiderte ich, obwohl ich zugeben musste, dass dieser hier einer unserer größten war und er uns bereits beim Hineinbringen Probleme bereitet hatte. Dafür war er auch einer der teuersten, und ich freute mich über den Gewinn, den mir dieser Verkauf einbrachte.
»Okay.« Tom fuhr sich durchs Haar. »Dann gehe ich in den Sprinter und hebe ihn hoch, und ihr nehmt draußen das andere Ende.« Ich nickte. So machten mein Vater, Linn und ich es auch. Aber als Tom in den Transporter stieg und seine Schrankseite damit höher hob, vervielfachte sich das Gewicht auf unserer Seite.
»Scheiße, ist das Ding schwer!«, keuchte Aline neben mir.
»Gleich haben wir es!«
Da sah ich, dass sich die Schranktür öffnete. Im letzten Moment löste ich eine Hand und verhinderte, dass die Tür gegen den Transporter schlug.
»Lara!«, rief Aline neben mir.
»Die Tür …«, ächzte ich und versuchte, mit meinem Oberschenkel den Schrank zu halten. Er bohrte sich schmerzhaft in mein Bein, und meine Finger drohten jeden Moment nachzugeben. Tom fluchte. Panik wuchs in mir, dass gleich entweder die Tür beschädigt war oder der ganze Schrank zu Boden krachte.
Doch plötzlich verringerte sich das Gewicht deutlich, und ich atmete erleichtert auf.
»Danke Hendrik, du bist unser Retter«, sagte Aline keuchend.
Ich drehte meinen Kopf nach rechts, wo jetzt nicht mehr meine Cousine stand, sondern Hendrik.
»Geht’s?«, fragte er mich, und seine haselnussfarbenen Augen waren so nah, dass ich die dunklen Sprenkel in ihnen sehen konnte. Für den Moment fehlte mir die Puste, um etwas zu erwidern, deshalb nickte ich nur und schaute wieder zur anderen Seite, wo Aline mir die Tür abnahm und den alten, rostigen Schlüssel im Schloss umdrehte, sodass sie nicht noch einmal aufgehen konnte.
Mit Hendriks Hilfe bugsierten wir den Koloss sicher in den Transporter, wo ich die Decken über ihn warf und ihn mit Spanngurten sicherte.
Tom wackelte am Schrank. »Müsste halten.«
Ich nickte, immer noch außer Atem. Außerdem schmerzte nicht nur mein Rücken, sondern auch mein Bein und die Finger der rechten Hand.
Als ich von der Ladefläche des Transporters stieg, begegnete ich Hendriks Blick. »Danke«, murmelte ich und konnte mir gerade noch »das wäre nicht nötig gewesen« verkneifen, denn verdammt, es war nötig gewesen. Ich bezweifelte, dass wir es ohne ihn geschafft hätten.
»Kein Ding, wäre ja schade, wenn das schöne Teil sich in seine Einzelteile zerlegt hätte.«
Ich lächelte flüchtig. »Wir sollten los, Herr Clemens wartet schon auf uns.«
Tom stöhnte. »Ich hoffe, der wohnt ebenerdig.«
»Wir liefern nur bis zur Haustür.« Schmunzelnd stieß ich ihn an.
»Ist das hier in Flensburg?«, fragte Hendrik.
»Auf der westlichen Höhe«, sagte ich, während ich die hinteren Türen zuschlug.
»Das ist ja gleich um die Ecke, ich kann eben mitkommen«, bot Hendrik an. Um ein Haar hätte ich gelacht, weil ich bei Hendriks erstem Auftauchen im Hinterhof gedacht hatte, er sei ein Möbelpacker. Aline schien ebenfalls daran zu denken – ich sah es in ihren Augen. Ich wandte den Blick ab und schaute Hendrik an. »Danke, aber nicht nötig.«
»Lara! Sei nicht so stur!«, schimpfte Tom, und ich fuhr bei dieser klaren Ansage zusammen. Aline zuckte mit den Achseln, was wohl so viel bedeutete wie: »Er hat recht.«
Ich atmete langsam aus. »Sonst machen wir es auch zu dritt«, grummelte ich, »aber wenn ihr meint … Es wird ziemlich eng zu viert im Bus.« Er hatte vorn zwar eine durchgehende Sitzbank, die war allerdings für drei Leute gedacht.
»Kein Problem, ich nehme Aline auf den Schoß.«
»Und wenn die Polizei uns anhält? Ich brauche meinen Führerschein für die Auslieferungen und die Einkaufstouren für neue Waren.«
»Ich fahre mit dem Motorrad hinterher«, bot Hendrik an.
»Cool, danke, Mann!«, sagte Tom und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter, ehe ich etwas einwenden konnte.
Ich kletterte hinter das Lenkrad, wo Snørre mich freudig begrüßte. »Wir haben dich nicht vergessen, Kleiner.«
Aline rutschte neben mich und nahm den Hund auf ihren Schoß, als Letzter stieg Tom ein und schlug die Tür zu.
Schweigsam fuhren wir die wenigen Kilometer zur westlichen Höhe – vor einer Villa aus den 1960er oder 1970er Jahren stoppte ich, weil das Navi mich dazu aufforderte. Hendriks Motorrad blubberte noch einige Sekunden hinter uns, ehe es verstummte.
Snørre fand es gar nicht lustig, dass wir ihn schon wieder im Auto ließen, er sprang an der Scheibe hoch und fiepste. »Sind gleich zurück!«, rief ich ihm zu.
Hendrik zog gerade seinen schwarzen Helm ab und die Handschuhe von den Fingern. Kurz verlor ich mich in dem Anblick, wie er sich mit der Hand durchs Haar fuhr, um sie wieder zu richten, bis Aline sich neben mir räusperte.
»Ich gehe mal klingeln«, erwiderte ich hastig.
»Und wir lösen in der Zeit das Monstrum«, sagte Tom.
Ich betätigte die Klingel, und Herr Clemens öffnete prompt.
»Moin, Frau Martens!«
»Moin, Herr Clemens, wir bringen den Schrank.«
»Soll ich beim Ausladen helfen?«
»Das ist nicht nötig, ich habe genug Unterstützung dabei.« Herr Clemens war nicht mehr der Jüngste, und ich bezweifelte, dass mehr Kraft in seinen Armen steckte als in denen von Aline und mir.
»Eigentlich liefern Sie ja nur bis zur Haustür, aber schauen Sie, er soll gleich hier in den Flur, als Garderobenschrank, wäre das wohl möglich?«
»Ja, sicher – halten Sie die Tür auf?«
Als ich wieder bei dem Transporter ankam, stand der Schrank schon auf den Rollbrettern davor. »Was …?«, begann ich.
»Geht eben nichts über zwei starke Männer«, scherzte Aline.
Ich verspürte erneut das Bedürfnis zu erwidern, dass wir das üblicherweise auch allein bewältigten, aber ich biss mir auf die Zunge.
In Nullkommanix brachten die starken Männer den Schrank in den Flur von Herrn Clemens, und ich brauchte ihm nur noch mit einem Lächeln die Rechnung zu überreichen.
Irgendwie war die Natur bei der Kräfteverteilung nicht fair. Wären beide Geschlechter gleich stark, würde das die Welt um einiges besser machen. Dann bräuchte sich auch keine Frau mehr auf dem Nachhauseweg im Dunkeln zu fürchten. Und ich bräuchte nicht nett zu dem Nachbarn sein, den ich nicht gewollt hatte. Das alles ging mir durch den Kopf, als wir zwischen Transporter und Motorrad standen, und ich sagte: »Vielen Dank, Hendrik.«
»Gern. Vielleicht hilft es ja, dich davon zu überzeugen, dass wir als Nachbarn doch nicht so ätzend sind, wie du denkst.«
Ich verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Nein, sorry, das ändert nichts an meiner Meinung über ein Tattoo-Studio in unserem Hinterhof.«
Nun war es an Hendrik, kopfschüttelnd aufzulachen, ehe er es hinter seinem Helm verbarg. Lässig schwang er sich auf den Sitz und ließ den Motor an, mit seinen Vans legte er den Gang ein und fuhr los. Es dröhnte zwischen den Häuserreihen.
Im Auto wurde ich erst mal von Snørre begrüßt. Als ich ihn zu Aline rüberreichte, schauten sie und Tom mich an. »Was?«, fragte ich mit gerunzelter Stirn.
»Warum bist du so ätzend zu ihm?«, wollte Tom wissen.
»Na ja, weil ich kein Tattoo-Studio mit lauter Musik und Rockern im Hinterhof will.« Ungerührt zuckte ich mit den Achseln.
Verständnislos verzog Tom sein Gesicht. »Klingt, als … keine Ahnung, wie das klingt. Spießig? Engstirnig?«
»Was? Wieso das denn? Ich sorge mich nun mal um meinen Laden. Noch nie was davon gehört, dass diese Leute die ganze Partymeile im Griff haben?«
»Ich verstehe nicht, was das mit Hendrik zu tun hat.«
»Und außerdem …«, setzte ich an.
Abwartend hob Tom die Augenbrauen. »Außerdem was?«
»Ach, keine Ahnung. Ich will die einfach nicht im Nachbargeschäft haben!« Wütend drehte ich den Schlüssel im Schloss – ich wollte nur noch nach Hause.
»Das passt überhaupt nicht zu dir, du bist doch sonst immer Everybody’s Darling. Ist es was Persönliches?«
Aline legte ihre Hand auf Toms und sah ihn mit einem Blick an, der wohl bedeuten sollte: »Lass es gut sein.«
Ich hingegen wählte eine deutlichere Formulierung.
»Tom!«, knurrte ich warnend. »Hendrik ist mir völlig egal. Aber wenn du es unbedingt wissen willst, er hat keinen besonders guten Eindruck bei Linn und mir hinterlassen, als er damals mit ihr zusammen war. Wer weiß, vielleicht ist sie sogar wegen ihm abgehauen. Auf jeden Fall hat sie sich tierisch aufgeregt, als sie erfuhr, dass Hendrik bei uns das Studio eröffnet.« Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich Hendrik wohl tatsächlich zumindest eine Teilschuld am Verschwinden meiner Schwester gab.
»Wann waren die denn zusammen?«
»Mit zwanzig ungefähr.«
Tom lachte laut los, und ich vergaß um ein Haar, rechts abzubiegen, weil ich so überrascht von seiner Reaktion war.
»Also vor zehn Jahren. Das kann ja keine sonderlich ernste Beziehung gewesen sein, schließlich gehörte ich da schon quasi zur Familie, und ich habe nicht einmal was davon mitbekommen. Und er müsste deiner Schwester schon verdammt übel mitgespielt haben, dass sie deswegen so viele Jahre später nach Gran Canaria verschwindet. Das wäre mir dann sicherlich nicht entgangen.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wieso kennst du Hendrik eigentlich nicht?«, fragte Aline ihren Freund. »Seid ihr nicht alle auf dieselbe Schule gegangen?«
»Nein, Flensburg hat ja mehrere Schulen«, erklärte Tom ihr in einem viel sanfteren Ton.
»Hendrik ist auf die dänische gegangen, seine Mutter ist Dänin«, ergänzte ich. Das hatte er mir damals selbst erzählt – bevor er diese fiesen Sachen über mich gesagt hatte.
»Und was war zwischen euch?«, bohrte Tom weiter. »Du warst doch zu der Zeit an der Westküste, um deine Ausbildung zu machen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Also, erst mal hast du damals über der Brauerei gewohnt und deswegen bestimmt nicht alles mitbekommen! Und am Wochenende war ich sehr wohl häufiger zu Hause. Linn meinte außerdem, er habe damals mit zweifelhaften Leuten abgehangen. Außerdem hat er … er hat ein paar nicht so schöne Dinge über mich gesagt«, murmelte ich und hoffte, Tom würde dieses Thema endlich fallen lassen.
»Ach komm, sei doch nicht so nachtragend! Nur weil er dich mal auf dem Schulhof geschubst oder dir an deinen Zöpfen gezogen hat.«
»Sehr witzig, Tom. Wie du gerade selbst festgestellt hast, war ich da nicht mehr in der Schule.«
»Ich meine ja nur – so hört es sich an. Und falsche Freunde hatten wir alle schon mal. Ich würde jedenfalls nicht gern noch Jahre später für Leute verurteilt werden, mit denen ich in der Schulzeit oder kurz danach abhing. Und ganz ehrlich, Linn ist nicht unbedingt jemand, der sich lange mit Liebeskummer aufhält oder sich von einem Typen irgendwas gefallen lässt.«
»Ich weiß«, murmelte ich. Er hatte ja recht. So richtig wusste ich auch nicht, warum ich in Hendriks Gegenwart zu Fräulein Rottenmeier mutierte. Aber er verkörperte irgendwie alles, was auch meine Schwester verkörperte. Sein ganzes Äußeres schrie Rebellion. Von daher verstand ich eigentlich gar nicht, warum er und Linn nicht immer noch zusammen waren und schon einen Haufen rotzfrecher Kinder gezeugt hatten.