Der nächste Tag verging glücklicherweise etwas schneller, während wir weitere Navigationsaufgaben lösten. Inzwischen störte ich mich auch nicht mehr groß daran, neben Hendrik zu sitzen. Gestern Abend – als ich mit Snørre auf der Couch fernsah – hatte ich beschlossen, dass er mir von nun an einfach egal sein würde.
»Wie ist nochmal die Formel für die Missweisung?«, fragte besagter Mann – der mir egal war – plötzlich.
Ich zog einen Zettel hervor und schob ihn in die Mitte des Tisches, damit er die Formel ablesen konnte.
»Ah, danke.«
»Wo ist denn diese verfluchte Tonne?«, murmelte ich eine Minute später und suchte zum fünften Mal den Kartenausschnitt nach der Tonne Otzumer Balje ab.
Hendrik beugte sich etwas näher und tippte auf meine Karte. »Da ist sie.«
»Oh … okay, danke«, stammelte ich und spürte seinen Arm an meinem, roch sein Eau de Toilette, das mir inzwischen schon vertraut war. Meine Haut kribbelte, und plötzlich erinnerte ich mich an meinen Traum von letzter Nacht. Ich war beim Lesen eingeschlafen und fand mich auf dem Sozius eines Motorrades wieder, eng an den Fahrer geschmiegt … Schon wieder ein Motorradtraum! Das Gefühl aus der Nacht durchflutete mich erneut, und ein Schauer entlud sich prickelnd in den Spitzen meiner Brustwarzen. Zum Glück hatte ich einen gepolsterten BH an. Ich schluckte trocken. Ein kleines Erschaudern konnte ich aber nicht unterdrücken, und dass Hendrik just in diesem Moment seinen Blick von der Karte zu mir hob, ließ mich vermuten, dass es ihm nicht entgangen war. Ich legte das Geodreieck auf der Karte an, ignorierte meine wieder einmal warmen Wangen und den Blick von Hendrik. Es war mir völlig schleierhaft, wieso mein Körper so auf ihn reagierte, obwohl ich ihn nicht leiden konnte.
Als der Kurstag fast vorbei war, teilte Freddy uns noch in Gruppen für die praktische Fahrstunde ein. Die Prüfung würde am Samstag, den 14. Januar stattfinden, und die Fahrstunden sollten möglichst kurz vor dem Termin genommen werden, damit am Tag der Prüfung noch alles gut in Erinnerung war.
»Ist momentan etwas heikel, weil es nicht so lange hell bleibt. Wer kann denn an dem Donnerstag davor gleich morgens um neun?«
Einige Hände schossen hoch.
Freddy bestand drauf, dass die praktische Fahrstunde immer mindestens zu zweit absolviert wurde, weil man so bei den Manövern wechseln konnte – was wohl irgendwie wichtig war. Die Stunden mit Tageslicht an jenem Donnerstag waren schnell vergeben.
Ich schaute fragend zu den Mädels. »Wir wollen zusammen aufs Boot, oder?«
»Auf jeden Fall«, bestätigte Nora, und auch Aline nickte.
»Meinst du, Linn ist im Januar wieder da?«
»Ich hoffe, ansonsten frage ich meine Mutter, ob sie Hund und Laden hütet«, sagte ich.
»Dann lass uns doch den Freitag gleich um neun nehmen.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine praktische Fahrstunde ausreicht, während für die Theorie so viele nötig sind«, überlegte ich laut.
»Ich bin auch gespannt, aber wir schaffen das schon«, sagte Nora. Wir meldeten uns, als Freddy beim Freitag angelangt war. Er nickte und trug unsere Namen ein.
Glücklicherweise hatte Hendrik sich bei zwei Mädels der Schlaghosenfraktion mit eintragen lassen, die darüber total entzückt schienen, und ich taufte sie spontan die Unangepassten, bis ich mir wieder wie Fräulein Rottenmeier vorkam und ein bisschen von mir selbst angewidert war.
Nach dem Unterricht verabschiedete ich mich von Nora und brauste mit Aline zur Brauerei, wo ich am Morgen Snørre bei Tom abgegeben hatte.
»Oh, sind deine Eltern zurück?« Aline löste ihren Gurt. Das Auto meiner Eltern stand auf dem Parkplatz.
»Offenbar! Ich hatte das gar nicht auf dem Schirm.«
Wir stiegen die Eingangsstufen des alten Fabrikgebäudes aus roten Backsteinen hoch und fanden alle gemeinsam im Büro. Snørre hüpfte aufgeregt an mir hoch, und ich begrüßte ihn zuerst, bevor ich meine Eltern umarmte. »Schön, dass ihr wieder da seid. Wie geht es Jutta und Heinz?«
»Gut, die haben ihr Haus toll hergerichtet, du musst unbedingt mal hinfahren.« Die Freunde meiner Eltern hatten sich schon vor langer Zeit ein Ferienhaus in Schweden gekauft und verbrachten jedes Jahr mehrere Monate dort.
Nachdem wir eine Weile gequatscht hatten, fragte meine Mutter, ob wir noch mit zum Essen zu ihnen kommen wollten.
Aline und Tom hatten schon etwas anderes vor, aber ich stimmte zu. Wir orderten uns Essen in der Küche der Brauerei und fuhren damit zum Haus meiner Eltern. Snørre freute sich, in ihrem Garten herumtollen zu können.
»Komm, Kleiner, es ist kalt, und das Essen auch gleich, wenn wir uns nicht beeilen.« Wie üblich ignorierte er mich, und ich schnappte ihn mir kurzerhand.
Drinnen gab ich ihm eine Kaustange, und er klemmte sich das Teil geschickt zwischen die Vorderpfoten und bearbeitete es mit den seitlichen Zähnen.
»Ich freue mich wirklich, dass ihr wieder da seid«, sagte ich zu meinen Eltern, als ich mich auf einen Stuhl am Tisch fallen ließ und mich über die Pasta hermachte. »Aber erzählt doch mal – habt ihr viel unternommen in Schweden? Gibt es diesen Elchpark noch, in dem ihr früher mal mit uns wart?« Zwar waren wir meistens nach Martinique in den Urlaub geflogen, aber einmal auch für drei Wochen nach Schweden gefahren. Ich wusste noch heute, wie sehr ich den Geruch nach Wald geliebt hatte und wie beeindruckend ich die riesigen Elche fand.
»Den gibt es noch, aber ohne euch wäre es nicht dasselbe gewesen.« Mein Vater zwinkerte mir zu. »Aber ich habe deiner Mutter zuliebe bei einem Tanzabend mit traditionellen schwedischen Tänzen mitgemacht.«
»Oh, und wie war’s?«
»Es war lustig – und etwas unbeholfen.« Die Fältchen in seinem Gesicht, die in den letzten Jahren tiefer geworden waren, wurden deutlich sichtbar, als er über sich selbst lachte.
»Dein Vater stellt sein Licht unter den Scheffel, wir haben uns ganz gut angestellt. Das war wirklich eine tolle Erfahrung.« Meine Mutter strich lächelnd ihr blondes Haar zurück.
Eine Weile lang sprachen wir über Skandinavien, bevor das Gespräch auf Linn kam.
»Wann ist sie denn eigentlich nach Gran Canaria gefahren?«, fragte mein Vater. »Wir waren etwas überrascht, als sie uns Bilder geschickt hat.«
Mit meinen Eltern über Linn zu reden, war meist etwas heikel. Mein Vater versuchte immer, diplomatisch zwischen uns zu vermitteln, und meine Mutter nahm sie oft in Schutz.
»Vor eineinhalb Wochen, sie hat den Laden und Snørre einfach im Stich gelassen – Rückkehr unbekannt.« Es tat gut, den Unmut endlich ungefiltert aussprechen zu können. Gegenüber meinen Eltern hatte ich – im Gegensatz zu meinen Freunden – nicht das Gefühl, Linn beschützen zu müssen.
»Was hat sie gemacht?«, fragte mein Vater entgeistert. »Sie hat das nicht mit dir abgesprochen?«
Doch meine Mutter legte gleich besänftigend ihre Hand auf seine. »Wieso denn? Hattet ihr Streit?«
Ich schnaufte auf. »Nicht mehr als sonst auch.«
»Vielleicht brauchte sie diese Pause mal. Sie kommt bestimmt bald wieder. Du weißt doch – manchmal bricht sie einfach aus«, sagte meine Mutter, und mir platzte der Kragen.
»Und ich? Was ist mit mir? Mich fragt keiner, ob ich eine Pause brauche! Ob ich es schaffe, alles im Laden allein zu stemmen und mich auch noch um den Hund zu kümmern, den sie angeschafft hat und den ich nie wollte! Wir sind keine zwölf mehr, Mama. Es geht hier nicht um die Reitausrüstung, die ihr ihr gekauft habt und die nach ein paar Wochen in der Ecke stand, weil sie doch lieber Hip-Hop-Tanzstunden nehmen wollte. Wir haben ein Geschäft, Verantwortung, da kann man nicht einfach ausbrechen. Sie macht, was sie will, ohne nachzudenken und ohne Rücksicht auf jemand anderen.«
Manchmal beneidete ich meine Schwester um diese Einstellung, doch sie fräste dabei durchs Leben wie ein Tornado und der hinterließ nun mal Verwüstung in der Umgebung – und diese Umgebung war unser Leben. Außerdem, was wäre die Menschheit ohne Rücksicht auf andere? Ein verdammt dunkler Ort.
»Ach Lara, soll ich dir im Laden helfen oder den Hund nehmen?«
»Darum geht es doch gar nicht!«, brauste ich auf, obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, meine Mutter um Hilfe zu bitten. Dennoch ging es mir gegen den Strich, dass wir jedes Mal einsprangen, um meiner Schwester den Arsch zu retten. »Linn soll das machen, nicht du! Schließlich wusste sie, was auf sie zukommt, als wir die GbR für den Laden gegründet haben«, setzte ich etwas ruhiger hinzu.
»Da muss ich ihr recht geben, Anna«, sagte mein Vater. »Was habt ihr denn im Vertrag über die Urlaubstage vereinbart?«
»Dass jeder – sofern das Geschäft es zulässt – 30 freie Tage im Jahr zustehen. Aber ganz ehrlich? Es gibt Tage, da kreuzt sie nur für zwei, drei Stunden auf, und mindestens alle zwei Wochen kommt sie einen Tag überhaupt nicht.«
»Hm«, erwiderte mein Vater. »Ich wusste nicht, dass es so zwischen euch läuft. Am Anfang hatte ich Bedenken, aber da funktionierte es doch erstaunlich gut, oder?«
»Ja, aber ich befürchte, das war, weil sie wegen der Corona-Einschränkungen nicht viel tun konnte und der Laden ihr die Langeweile vertrieben hat.«
»Ach Lara, früher habt ihr euch so toll ergänzt! Schade, dass diese Gegensätze nun zu Unstimmigkeiten führen. Du weißt ja, dass es Linn manchmal schwerfällt, bei einer Sache zu bleiben.«
»Tss!«, machte ich. »Wann siehst du endlich, wie sie wirklich ist? Es geht hier nicht um Gegensätze, sondern darum, in der Lage zu sein, ein Geschäft zu führen.«
Die Frage war aber auch, warum ich diesen Laden mit ihr eröffnet hatte, warum ich mit ihr zusammengezogen war, obwohl ich doch eigentlich wusste, wie sie tickte? Nun, die Antwort glich wohl der, die meine Mutter geben würde. Weil ich Linn liebte, sie ein Teil von mir war, sie auch ihre guten Seiten hatte. Ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Energie und Fröhlichkeit. Und weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, sich einzugestehen, dass sie sich niemals ändern wird, dass die Unzuverlässigkeit und Verantwortungslosigkeit immer ein Teil von ihr sein würden.
»Wisst ihr was? Ich fahre jetzt nach Hause, es war ein langer Tag.« Ich erhob mich.
»Aber Lara – Schätzchen, setz dich wieder. Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht verstehe.«
»Schon okay, Mama. Letztlich kannst du nichts für meine Fehlentscheidung.«
»Sieh das Unternehmen nicht als gescheitert an. Irgendwann wird sie sich berappeln, sich selbst finden. Ich bin mir da ganz sicher. Die eine braucht nur etwas länger als die andere. Bei der Geburt warst du auch die Schnellere.«
»Aber wenn sie so weit ist, bin ich vielleicht nicht mehr da.«
Nach einer kurzen Verabschiedung schnappte ich mir Snørre, stieg draußen in mein Auto, und ehe ich’s mich versah, stand ich auf dem Parkplatz hinter dem Laden. Es war schon spät, und ich hatte mich eigentlich auf den ersten Weihnachtsfilm des Jahres gefreut, doch mit einem Mal erschien es mir unerträglich, in unsere gemeinsame Wohnung zu fahren. Der Laden beruhigte mich – etwas zu tun zu haben, lenkte mich ab von all den beängstigenden Zukunftsgedanken, die sich pausenlos in meinem Kopf drehten. Wie lange würde Linn wegbleiben? Würde sie danach überhaupt im Laden weitermachen wollen? Was war mit Snørre? Wie lange hielt ich es allein durch? Konnte ich mir eine Angestellte leisten? Konnte ich die monatliche Auszahlung an Linn einfach so stoppen? Aber was, wenn sie dann wieder vor der Tür stand? Linns Auszahlung plus ein Gehalt für eine Angestellte waren nicht drin.
Ich rieb mir übers Gesicht und ließ dann meine Stirn aufs Lenkrad sinken. Da klopfte es leise an die Scheibe. Hendrik.
O mein Gott! Warum war er überall, wo ich war?
»Alles okay?«, rief er.
Snørre begann neben mir zu bellen.
Ich nickte und reckte den Daumen nach oben, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Nach ein paar Sekunden, in denen Hendrik unschlüssig zu sein schien, was er tun sollte, drehte er sich um und ging zum Eingang des Tattoo-Studios. Erleichtert atmete ich aus und legte meine Stirn nochmal aufs Lenkrad, ehe ich schließlich die Wagentür öffnete und ausstieg.
Im Laden rückte ich zunächst einige Möbel hin und her, um die Lücken zu füllen, die der große Bauernschrank und die Kommode hinterlassen hatten. Nachdem ich ein weiteres Möbelstück mit Hilfe von zwei Rollbrettern aus dem Lager geholt hatte, fiel mein Blick auf die Kiste mit den Lichterketten für den Hof. Kurzerhand zog ich Snørre seinen Mantel an und klickte die Schleppleine in sein Geschirr ein. Im Hof band ich ihn an eines der Rankgitter für die Rosen und fing an, die Lichterketten aufzuhängen. Die Haken gab es noch vom letzten Jahr.
Ich war gerade vor Ursels Wolltruhe angekommen, als mir köstlicher Kaffeeduft in die Nase stieg. Ich schaute von meiner Trittleiter hinunter auf – Hendrik, der dort mit zwei Bechern in der Hand stand. Snørre sprang erfreut an seinem Bein hoch.
»Kannst du Hilfe gebrauchen?«
Ich setzte schon an, etwas zu erwidern, als er fortfuhr: »Lass mich raten: Du schaffst das auch allein.«
Ich schloss meinen Mund wieder.
»Willst du dann vielleicht einen Kaffee? Es sah vorhin so aus, als könntest du einen gebrauchen.«
Meine Finger waren trotz der Handschuhe kalt, ganz im Gegensatz zu meinen Wangen, in die angesichts der letzten Bemerkung Hitze aufstieg. Der Kaffee roch allerdings verführerisch. »Ja, warum nicht«, erwiderte ich. Unvermittelt kamen mir Toms Worte in den Sinn. Ich stieg von der Leiter und setzte mich auf die obere Plattform, nahm die Tasse von Hendrik entgegen. Er trug eine schwarze Carhartt-Jacke, aber weder Handschuhe noch Schal. Immerhin thronte eine schwarze Hipster-Mütze auf seinem Kopf, verbarg das dunkelblonde Haar. Was allerdings herausstach, waren die weißen, hochgezogenen Tennissocken in dem ansonsten schwarzen Ensemble. In diesem Moment erinnerte er mich an den Frontsänger der Imagine Dragons, nur dass der keine Tattoos hatte.
Hendrik folgte meinem Blick zu seinen Füßen, und ich sagte: »Soll ja wieder in sein – hochgezogene Tennissocken.« Ich nahm einen Schluck Kaffee, während Hendrik sich zu Snørre beugte und ihn kraulte.
»Wir Skater haben das schon immer so getragen.« Gleichgültig zuckte er mit den Schultern.
»Skater? Stimmt, bevor aus dir ein tätowierter Rocker wurde, warst du ein schlaksiger Kerl und hattest ständig ein Skateboard dabei.«
»So siehst du mich also.«
»Es ist das, was du präsentierst.«
»Hör zu, um das klarzustellen: Ich fahre Motorrad, ja, ich bin tätowiert, ja, aber ich gehöre nicht zu den Satisfaction und sehe mich auch nicht als Rocker . Und Sven mag eine Kutte tragen, ist aber ein durch und durch feiner Kerl, dafür würde ich meine linke Hand verwetten.«
»Aha«, sagte ich. »Aber ich wette, ihr kennt welche von denen.«
Hendrik antwortete nicht, was mir Bestätigung genug war. Nach einer Weile fragte er: »Wo ist Linn eigentlich? Ich habe sie nur in den ersten Tagen vom Umbau gesehen und seitdem gar nicht mehr. Du meintest doch, der Laden gehört euch zusammen.«
»Sie … sie ist für ein paar Wochen in den Süden. Das Wetter hier ist nicht so ihres.«
»Sie hat dich hängen lassen, stimmt’s?«
»Wie kommst du darauf?« Warum verteidigte ich sie schon wieder?, dachte ich ärgerlich. Irgendwie wollte ich wohl nicht, dass andere Leute sie genauso sahen wie ich.
Hendrik hockte sich hin und schwenkte spielerisch ein kleines Stöckchen vor Snørres Nase. Der kleine Pudel lief begeistert hin und her.
»Ich kenne sie ein wenig, und ihr Auftritt bei uns hat gezeigt, dass sie sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert hat.«
»Du denn?«, fragte ich mit einem Auflachen. Gleichzeitig rasten mir ziemlich viele Gedanken durch den Kopf. Zum Beispiel, welchen Auftritt genau meine Schwester hingelegt hatte, oder die Frage, warum er damals Mist über mich erzählt hatte, und wieso – verdammt nochmal – Linn mich wieder mal im Stich gelassen hatte.
Hendrik zuckte als Antwort abermals mit den Schultern.
»Sie ist meine Zwillingsschwester«, sagte ich daraufhin zusammenhanglos, und plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen. War wohl einfach alles etwas viel.
Hendrik erhob sich. »Ich weiß, Lara. Glaube mir, das weiß ich. Linn hat damals dafür gesorgt, dass ich das nicht vergesse.«
»Wieso?« Verwirrt über seine Antwort kräuselte ich die Stirn.
Für einen Moment sahen wir uns in dem fahlen Licht der Hofbeleuchtung an. Unser Atem hinterließ kleine Wölkchen in der Luft. Der erste Frost war da.
»Ach, das ist alles lange her, lassen wir es gut sein. Ich übernehme unsere Ladenfront, okay?« Der Bann war gebrochen, und ich nickte benommen. Wenig später hängten wir, jeder auf einer Seite des Hofes, die restlichen Lichterketten auf, bis wir bei Ilses Café aufeinandertrafen.
»Wo steckst du sie ein?«
»Die eine Reihe bei Ilse, die andere bei uns. Wir sind die einzigen mit Außensteckdosen.«
»Sollen wir einmal testen, ob alle Glühbirnen funktionieren?«
»Das hatte ich vor.«
»Und ich hatte nichts anderes erwartet. Gehst du rüber, und dann auf drei?«
Ich legte meine Stirn in Falten. »Wieso auf drei?«
»Das erste Einschalten der Weihnachtsbeleuchtung ist doch etwas Besonderes, dazu die Minusgrade …« Wie zum Beweis stieß er eine Atemwolke aus.
Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf, ging aber zu unserem Laden und hielt den Stecker hoch.
»Eins, zwei – und drei!«
Ich schob den Stecker in die Dose und blickte hoch. Automatisch hoben sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln.
»Wow, das ist echt ein wenig magisch«, murmelte ich, trat rückwärts in die Mitte des Hofes, nahm Snørre auf den Arm und drehte mich einmal um meine eigene Achse. Die Lichterketten hüllten die Fassaden der Läden in gemütliches Licht. Alle Fenster waren dunkel, nur im Hygge Up und dem Tattoo-Studio, über dessen Tür nun ein Schild mit dem Namenszug ArtFactory angebracht war, brannte Licht. Hendrik stellte sich zu uns. Unwillkürlich lächelte ich ihn an. Für einige Sekunden erwiderte er es, doch dann wandte er sich ab und deutete zum Laden von Maike und Levin. »Da sind zwei Birnen kaputt.«
»Ah, ja, die tausche ich gleich aus.« Stimmt, deswegen hatten wir das Ganze ja gemacht – nicht, weil es romantisch war, rief ich mir in Erinnerung. In der Kiste fand ich noch Ersatzbirnen. Hendrik nahm die kleine Trittleiter und ging zum Tante-Emma-Laden, Snørre folgte ihm mit seinem Stöckchen und ich mit den Birnen.
»Am liebsten würde ich sie schon jetzt eingeschaltet lassen. Ich liebe diese gemütliche Vorweihnachtszeit.«
»Was hält dich davon ab?«
»Gehört sich doch nicht – erst nach Totensonntag und mit Beginn des Adventsmarktes.«
Seine Augenbrauen hoben sich. »Weil die Toten sich sonst belästigt fühlen?«
Lachend verdrehte ich die Augen. »War klar, dass du so was antwortest.«
»Es bringt doch niemanden voran, wenn ständig alle alles so machen wie immer, ohne es zu hinterfragen. Also, wenn es dich glücklich macht und niemandem schadet, dann mach die verdammten Lichter an.«
Ich lachte erneut auf. »Du und Linn seid euch wirklich ähnlich.«
Das Lächeln erlosch. »Nein, das sind wir nicht. Ich …« Er stockte.
»Du was ?« Ich stieg von der Leiter und klappte sie zusammen.
»Ich muss jetzt drinnen weitermachen, damit wir nächstes Wochenende eröffnen und die Rocker den Hof belagern können.«
»Sehr witzig.«
Ich löste mit der freien Hand Snørres Schleppleine, und Hendrik trug die Kiste zum Hygge Up.
»Am Freitagabend findet eine kleine Pre-Opening-Party statt, alle Ladeninhaber sind herzlich eingeladen. Ab Samstag ist dann offiziell geöffnet.«
»Danke, aber da kann ich nicht, Freitagabend haben wir unser Adventskranzbinden.«
Kurz glaubte ich Enttäuschung in Hendriks Augen aufflackern zu sehen, doch nach einem Wimpernschlag war der Ausdruck verschwunden.
»Gute Nacht«, sagte er und drehte sich um. Etwas unschlüssig verharrte ich vor den Eingangsstufen.
»Hendrik?«
»Hm?«
»Danke fürs Helfen und den Kaffee, und viel Erfolg bei eurer Eröffnung.«
Kurz lächelte er, dann setzte er seinen Weg fort. Ich bemerkte, wie kalt mir inzwischen geworden war, und fröstelte.