Kapitel 14

Das Adventskranzbinden am Freitagabend war ein voller Erfolg. Es entstanden wunderschöne Kränze mit Hilfe der Floristin, während nebenan die Pre-Opening-Party stattfand.

Aline half mir am Ende unserer Veranstaltung, alles zusammenzuräumen, und dann fragte sie, ob ich noch kurz mit ihr nach nebenan gehen wollte. Hendrik hatte Tom spontan eingeladen, und sie hatte mit Tom ausgemacht, ihn dort abzuholen.

Aber ich verneinte und machte mich mit Snørre auf den Weg nach Hause, wo ich mich bei einer romantischen Weihnachtskomödie auf die Couch kuscheln wollte. Ich konnte mir aber nicht verkneifen, vorher noch auf Instagram in der Story von Hendrik nachzuschauen, ob dort etwas von der Pre-Opening-Party hochgeladen worden war.

Es gab jedoch lediglich einen Hinweis auf die morgige offizielle Eröffnung, zeitgleich mit der unseres Adventsmarktes. Für einen Moment wünschte ich mir, doch kurz vorbeigeschaut zu haben, aber dann startete ich den Film und schob den Gedanken beiseite.

Am Samstag stand ich besonders früh auf. Nachdem ich mit Snørre spazieren gegangen war, bereitete ich mich im Hygge Up auf den Tag vor. Ich knipste die Weihnachtsbeleuchtung im Laden an und im Anschluss die im Hof. Den Spruch auf dem Letterboard hatte ich durch ein simples Ho Ho Ho ersetzt. Mein Adventskranz stand auf einem der Ausstellungsstücke, und ich würde später einfach schon die erste Kerze anzünden, auch wenn der erste Advent erst morgen war. Ich dachte an Hendriks Worte, als wir die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt hatten. Wenn es niemandem schadet und es dich glücklich macht, dann mach die verdammten Lichter an.

Zufrieden trat ich hinaus vor das Hygge Up. In der Punschbude von Levin und Maike stieg schon der Dampf auf, und ich beschloss, mir später zum Feierabend auch ein Getränk bei ihnen zu gönnen.

»Hey ihr zwei«, begrüßte ich sie.

»Guten Morgen! Die Beleuchtung ist wirklich schön geworden.«

»Eure Punschbude aber auch, und es riecht köstlich.«

»Hör mal, Lara, meinst du nicht, wir sollten nochmal über diese Rabattaktion mit dem Tattoo-Studio nachdenken? Ich folge Hendrik auf Instagram, und dort reißen die Leute sich schon um einen Termin bei ihm«, sagte Maike.

Etwas überrumpelt antwortete ich: »Setzen wir auf die Liste für das nächste Ladenbesitzertreffen, okay?«

»Gute Idee.«

»Ich drehe nochmal eine Runde, bevor ich öffne. Oh, und es kommt später jemand von der Zeitung, ein Herr Singer, falls er euch anspricht.«

»Klasse!«

Ich begrüßte Ursel vom Wollladen und steckte meinen Kopf anschließend bei Ilse hinein. Vor ihrem Laden hatte sie etliche Sitzgelegenheiten aufgebaut, und die Tische hatte sie mit kleinen weihnachtlichen Gestecken versehen.

»Hallo Ilse! Alles klar bei dir?«

»Guten Morgen, Lara. Wir haben uns in den letzten Tagen ja gefühlt nur bei Snørres Pipipausen gesehen. Wo ist er denn jetzt?«

»Er schläft, wir waren gerade spazieren. Was riecht denn so köstlich?«

»Gewürzkuchen, ich hebe dir ein Stück auf, okay?«

»Du bist die Beste! Hab einen schönen Tag!«

Draußen bei Ursel machten sich die Musiker bereit, um für Weihnachtsstimmung zu sorgen. Ich lächelte zufrieden und lief auf dem Rückweg zum Hygge Up am Tattoo-Studio vorbei. Im Fenster hing ein großes Plakat, auf dem die heutige Eröffnung angekündigt wurde. Vorsichtig spähte ich durch die Scheibe. Hendriks Partner stand am Tresen und war in den PC vertieft. Durch den Flur konnte ich in eine der Kabinen sehen, wo Hendrik saß, die Beine übereinandergeschlagen. Er hatte einen Zeichenblock darauf abgelegt und war völlig vertieft, doch als ob er meinen Blick gespürt hätte, schaute er plötzlich hoch. Ich fühlte mich ertappt und lief hastig weiter.

Die nächsten Stunden hatte ich kaum Zeit, um Luft zu holen, so viele Leute strömten durch den kleinen Durchgang zu uns in den Hof und in die Läden. Wie von Maike prophezeit, kamen die Leute scharenweise und marschierten ins Tattoo-Studio. Heute zur Eröffnung war ein sogenannter Walk-Inn-Tag – tätowieren ohne Termin. Mittags musste ich zugeben, dass ich noch keine einzige zwielichtige Person gesehen hatte. Stattdessen sehr viele junge Frauen, die die Wartezeit überbrückten, indem sie zu mir in den Laden kamen und Deko-Artikel kauften.

»Wow, ich wusste gar nicht, dass sich hier so ein hübsches Geschäft versteckt«, war nur einer der Sätze, die ich aufschnappte, während ich Lichterhäuser abkassierte oder beim Ausmessen von Möbeln half.

»Kann ich hier einziehen?«, fragte mich eine Dunkelhaarige, die mit zwei weiteren Frauen durch die Ausstellung stöberte. Ich schmunzelte und kam gar nicht dazu zu reagieren, ehe ihre Freundin sie anstieß. »Du willst doch nur neben Hendrik Jacobi wohnen!«

Die Frau hob unbekümmert die Achseln. »Ein Wohntraum mit attraktivem Nachbarn, was will man mehr?« Nun schaute sie mich an. »Du bist echt zu beneiden.«

Ich lachte und wusste nicht, was ich erwidern sollte.

»Hat er eine Freundin?«

»Hab noch keine gesehen«, sagte ich und schlug einen Kerzenhalter in Packpapier ein.

Diese Äußerung löste ein gemeinschaftliches Giggeln bei den Frauen aus, und ich fühlte mich ein wenig wie bei einem Boyband-Konzert. »Dann viel Erfolg«, sagte ich, als ich das Wechselgeld überreichte, doch die drei hörten mir schon nicht mehr zu.

Als Nächstes trat eine junge Frau Anfang zwanzig an den Tresen und legte einige Kerzen vor mir ab. »Ich würde auch gern hier einziehen, obwohl ich den Nachbarn nicht kenne.«

Ich schmunzelte. »So toll ist der gar nicht.«

Ihre Mundwinkel hoben sich prompt, was ihre Augen leuchten ließ. Dann entdeckte sie Snørre hinter dem Tresen. »Oh, ein Pudel, der ist aber süß!« Snørre fühlte sich durch die freudige Stimme wohl angesprochen und reckte sich. Mist, jetzt musste er bestimmt gleich raus.

»Macht 19,99 Euro, bitte.«

Sie reichte mir einen Zwanzig-Euro-Schein, und ich gab ihr einen Cent zurück.

»Du suchst nicht zufällig eine Aushilfe? Ich studiere an der FH , und mein jetziger Job ist echt ätzend.«

»Momentan nicht, ich führe den Laden gemeinsam mit meiner Schwester«, sagte ich, obwohl ich mir in diesem Augenblick dringend Hilfe herbeisehnte. Snørre streckte sich und tapste aus dem Körbchen. Hastig schnappte ich ihn und nahm ihn auf den Arm.

»Schade.« Die Frau wandte sich zum Gehen.

»Aber lass mir doch deine Nummer da. Falls sich was ändert, melde ich mich.«

Strahlend notierte sie ihre Kontaktdaten, während ich überlegte, was ich tun sollte. Üblicherweise ging ich mit Snørre vorn raus, doch bei dem Trubel durch den Adventsmarkt bezweifelte ich, dass Snørre pieseln würde. Die Studentin verabschiedete sich, und ich schob ihren Zettel in ein leeres Kassenfach. Jetzt war nur noch eine ältere Frau im Laden – konnte ich kurz hinten raus? Unentschlossen wog ich noch ab, als die Tür sich erneut öffnete und Hanna hereinkam.

»Da ist heute ja ganz schön was los!«

»Hanna, dich schickt der Himmel! Kannst du kurz mit Snørre rausgehen?«

»Ich mit dem Hund?« Sie beäugte Snørre auf meinem Arm. »Meinst du, das klappt? Du weißt doch, ich habe ein wenig Angst vor Hunden, aber ich halt gern kurz die Stellung hinter der Kasse.«

»Okay, das geht natürlich auch. Bin gleich wieder da!«, rief ich und ergriff im Vorbeigehen Snørres Leine. Vor der Hintertür setzte ich den Pudel ab und klippte die Leine an sein Geschirr. Neben mir fiel ebenfalls eine Tür ins Schloss, und ich schreckte hoch. Als ich Hendrik sah, lächelte ich automatisch, weil ich an unsere letzte Begegnung denken musste. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

»Wirst du drinnen bei dem Ansturm nicht gebraucht?«, fragte ich.

Hendrik zuckte mit den Achseln. »Ich musste mal eben Luft holen. Mit so einem Andrang haben Sven und ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.«

»Ich habe sogar von einigen Mädels schon Mietangebote für meinen Laden bekommen, damit sie neben dir wohnen können.«

Hendrik lachte nur auf, wahrscheinlich war er diese Art von Angeboten gewohnt. Snørre schnüffelte sich seinen Weg zu dem nächsten kleinen Grünstreifen, und ich folgte ihm. Endlich hockte Snørre sich hin. »Braver Junge«, lobte ich ihn.

»Ein Herr Singer von der Zeitung war eben bei uns, er wollte noch zu dir, vielleicht solltest du besser wieder reingehen, damit du ihn nicht verpasst«, sagte Hendrik.

»Was?«, rutschte mir in schrillem Ton heraus. »Warum war der bei dir ? Ich habe ihn doch angeschrieben!«

»Ich schätze, wegen der Eröffnung. Ich habe ihm aber gesagt, dass du bei dem Adventsmarkt federführend bist.«

»Na danke, wie großzügig von dir«, murmelte ich, lief mit Snørre eilig zu meiner Tür und zog sie auf.

Drinnen holte ich eine neue Kaustange für den Hund und lotste ihn damit in sein Körbchen, wo er zufrieden anfing, das Ding zu zerlegen.

»Ach, Lara, da bist du ja wieder! Ein Herr Singer ist gekommen, um dir ein paar Fragen zum Adventsmarkt zu stellen.« Hanna wies bedeutungsvoll mit dem Kopf in Richtung eines Mittvierzigers in zerknitterten Chinos.

Ich schluckte meinen Unmut über den treulosen Herrn von der Zeitung herunter und lächelte ihn an.

»Schön, dass Sie es geschafft haben.«

»Nun, die Tattoo-Studio-Eröffnung mit Herrn Jacobi hat auf Social Media für reichlich Aufsehen gesorgt.«

Mein Lächeln fror ein wenig ein. »Aber ich meinte doch wegen unseres schönen Adventsmarkts«, erwiderte ich kokett.

»Ja, der ist wirklich ganz hyggelig, passend zu ihrem Laden. Aber Sie sind bestimmt froh, dass mit dem Tattoo-Studio mal neuer Wind durch den Hinterhof weht, oder?«

»Äh …«, machte ich ziemlich dümmlich.

»Der Andrang durch die Eröffnung kommt Ihnen sicherlich gelegen.«

»Ich denke, viele Leute sind auch wegen der anderen Läden gekommen. Nicht jeder Flensburger möchte ein Tattoo von Hendrik Jacobi.«

»Aber viele«, murmelte der Zeitungsfritze und notierte etwas auf seinem Block.

»Haben Sie draußen schon einen Punsch probiert?«, versuchte ich, ihn auch für die anderen Geschäfte zu begeistern. »Fair gehandelt und in Bio-Qualität. Oder Ilses berühmten Gewürzkuchen? Zwei Gründe, warum die Flensburger sich einen Besuch bei uns nicht entgehen lassen sollten. Unser Adventsmarkt ist bis Weihnachten jeden Freitag und Samstag geöffnet. Freitags ab 14:00 Uhr und samstags während der kompletten Ladenöffnungszeiten.«

»Aha, hm«, machte Herr Singer und kritzelte weiter auf seinem Block herum.

»Darf ich Sie auf einen Punsch oder ein Stück Kuchen einladen?«

»Was?« Er hob verwundert den Kopf. »Nein, danke, ich finde schon allein raus. Der Artikel erscheint am Montag, online schon morgen Abend.«

Herr Singer verschwand nach draußen, wo er offenbar noch einige Besucher interviewte.

»Merkwürdiger Typ«, murmelte ich.

»Ach, das sind die von der Zeitung doch immer! Hauptsache, er schreibt über euch.«

»Wir haben uns noch gar nicht richtig begrüßt!« Ich ging zu meiner Freundin und zog sie in den Arm. »Schön, dich zu sehen. Wie geht’s dir?«

Zwischen dem Abkassieren und dem Beantworten der Fragen meiner Kundschaft stellte ich Hanna Snørre offiziell vor, und sie traute sich sogar, ihn zu streicheln. Dann verzog sich Snørre wieder in seinen Korb, und Hanna erzählte von ihrem Wellnessaufenthalt in Österreich, was mir ein neidvolles Stöhnen entlockte. In der Zeit hatte ich mir neben Hendrik im Bootsführerschein-Kurs den Hintern plattgesessen. Ich setzte meine Prioritäten einfach falsch.

»Kaffee?«, fragte ich schließlich, als gerade sonst niemand im Laden war.

Meine Freundin nickte. »Soll ich uns bei Ilse einen Gewürzkuchen holen? Seit du den gegenüber Herrn Singer erwähnt hast, geht er mir nicht mehr aus dem Kopf.

»Ja, gern, das klingt verlockend.«

Der Rest des Tages verging rasend schnell, und der Kassensturz am Abend ließ mich den Unmut über Herrn Singer vergessen.

Den Sonntag verbrachte ich mit süßem Nichtstun, unternahm einen langen Spaziergang mit Snørre, kochte in aller Ruhe und schaute auf Netflix den nächsten Weihnachtsfilm an.

Am Montagmorgen schneite Maike ins Hygge Up herein, kaum dass ich den Schlüssel umgedreht hatte. Sie winkte mit der Zeitung. Ach ja, ich hatte ganz vergessen, schon online zu schauen, was Herr Singer geschrieben hatte!

»Toller Artikel, und wir werden auch erwähnt.«

»Wie – wir werden auch erwähnt?« Ich nahm die Zeitung, legte sie auf den Tresen und blätterte sie auf. Die Überschrift sprang mich förmlich an. Eröffnung der ArtFactory in Flensburg . Was? Der Typ hatte einen Artikel über das Studio geschrieben und nicht über unseren Adventsmarkt? Hektisch las ich weiter.

Der junge Flensburger Hendrik Jacobi eröffnete am Samstag gemeinsam mit Sven Weber sein eigenes Tattoo-Studio ArtFactory im Fahrensmann-Hof im nördlichen Teil der Altstadt. Jacobi besitzt eine große Fangemeinde auf Instagram und kann sich schon jetzt vor Terminanfragen kaum retten. Alle wollen ein Tattoo von dem Künstler, der die letzten Jahre in Kopenhagen in einem Studio arbeitete und erst in diesem Sommer in seine Heimatstadt zurückkehrte.

»Zeichnen war schon immer eine Möglichkeit, mich auszudrücken. Und beim Tätowieren drücke ich nicht nur meine Stimmung aus, sondern auch die der Kundinnen und Kunden. Ich verewige Erinnerungen – ob schmerzlich oder schön, verrückte Ideen oder einfach den persönlichen Geschmack von jemandem. Das ist ein großes Privileg für mich, dieses Vertrauen weiß ich sehr zu schätzen«, sagt der bescheidene Flensburger Jung.

Ich machte ein Würggeräusch und überflog die nächsten Absätze, bis dieser blöde Singer endlich fertig war mit seinem Loblied auf Hendrik.

Zeitgleich mit der Eröffnung des Tattoo-Studios startete ein kleiner Adventsmarkt in dem Hinterhof, in dem sich neben dem Studio noch ein Café, ein Geschäft für Wolle, ein Tante-Emma-Laden und ein Second-Hand-Möbelgeschäft befinden.

»Wir sind sehr froh über den frischen Wind, den das Studio zu uns in den Hof weht, und hoffen, die Besucher bleiben auf einen Gewürzkuchen bei Ilse und einen fair gehandelten Punsch bei Tante Emma«, sagte die Inhaberin des Hygge Up.

»Wie bitte? So habe ich das gar nicht gesagt! Und das Hygge Up ein Second-Hand-Möbelgeschäft, beschissener kann man meinen Laden wohl nicht beschreiben.« Wütend schlug ich die Zeitung wieder zu.

»Ach komm, Lara, du weißt doch, wie Journalisten sind, die schreiben immer Dinge anders, als man sie gesagt hat. Aber es ist Werbung für uns, und das ist doch das Wichtigste«, sagte Maike beschwichtigend. »Und ein wenig hat er auch recht. Levin und ich, wir freuen uns tatsächlich über den frischen Wind durch das Studio. In dieser abgeschiedenen Lage ist es nicht leicht für einen Laden wie unseren zu überleben.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich wünschte nur, es wäre kein Tattoo-Studio und kein Hendrik.«

»Du musst ihm nur eine Chance geben, der ist wirklich total in Ordnung. Bei dem Pre-Opening am Freitag haben wir nochmal ausführlicher mit ihm und Sven geschnackt und haben beide zur nächsten Ladenbesitzerversammlung eingeladen. Ich hoffe, das ist okay.«

Mein erster Impuls war es zu widersprechen, doch ich unterdrückte ihn und nickte nur. Ich konnte es eh nicht mehr ändern, das Studio war da, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit den neuen Nachbarn zu arrangieren.