Kapitel 15

Der Dezember mit seinen Adventswochenenden raste nur so an mir vorbei. Snørre und ich hatten einen guten Rhythmus gefunden, und seit zwei Wochen war er vollständig stubenrein. Ich war stolz auf den kleinen Hund, der jeden Abend zu mir ins Bett sprang und sich an mich kuschelte, während ich noch einige Seiten las. Die restliche Zeit verbrachten wir im Laden, unternahmen Spaziergänge, oder ich traf mich mit meinen Freundinnen.

Der Andrang im Tattoo-Studio blieb ungebrochen, und auch wenn ich es ungern zugab, sorgte das in den Kassen der anderen Läden für mehr Einnahmen als üblich. Meist schon vor Ladenschluss war kein Punsch mehr da, und Ilse buk einen Gewürzkuchen nach dem anderen. Der Duft waberte zusammen mit den Weihnachtsliedern über den Hof und lockte die Besucher der übrigen Läden auf einen Abstecher ins Café.

Aline und Tom verabschiedeten sich vor dem vierten Advent in ihren Portugal-Urlaub, und Bent und Nora fuhren zu Noras Familie. Davor erhielt ich noch eine Hausführung auf Holnis und verstand, wieso Bent so sehr um dieses Haus gekämpft hatte. Hanna und Chris rotierten weiterhin bei ihren Hochzeitsvorbereitungen, ehe sie ebenfalls zu ihrer Familie aufbrechen würden. Meine werte Schwester schickte hin und wieder Fotos in die WhatsApp-Gruppe meiner Familie und verärgerte mich mit jedem Sonnenschein-Cocktail-Foto mehr. Im Gegenzug setzte ich Fotos von Snørre in den Chat, in der Hoffnung, das möge sie dazu bewegen, ihren Hintern wieder ins Flugzeug zu schwingen. Aber bis auf ein »Oh, der ist aber groß geworden«, war bisher nichts dergleichen geschehen.

Am Heiligabend stand ich bis mittags im Laden und verkaufte ein paar Spätentschlossenen Gutscheine, ehe ich mich mit meinen Geschenken und Snørre auf den Weg zu meinen Eltern machte. Der Adventsmarkt hatte mich letztlich doch ein wenig in Vorweihnachtsstimmung versetzt, auch wenn ich vor lauter Arbeit und Hundesitting zu Hause keinen Elan für irgendwelche Deko gehabt hatte. Nur den Adventskranz von der Aktion im Hygge Up nahm ich für die Feiertage mit nach Hause, er stand nun auf dem Küchentisch.

Das Haus meiner Eltern hingegen verströmte schon von außen eine weihnachtliche Stimmung. Eine Tannengirlande zierte die Eingangstür, und leuchtende Rentiere zogen den Weihnachtsmann auf einem Schlitten durch den Vorgarten. In den Fenstern hingen rote Sterne, und als ich die Tür öffnete, wurde ich von der Musik von Michael Bublé empfangen.

Mein Opa Holger saß am Küchentisch, Papa schälte Kartoffeln, und Mama würzte gerade den Rotkohl.

»Lara, du arbeitest zu viel – ich sehe dich ja kaum noch, wenn ich nicht gelegentlich zu dir in den Laden komme«, begrüßte Opa mich. »Wo ist denn Linn?«

»Gran Canaria, Opa, das weißt du doch.«

»Und sie kommt nicht mal zu Weihnachten her?«

»Sieht so aus.« Ich strich ihm über seine Schulter und begrüßte im Anschluss meine Eltern. »Frohe Weihnachten!«

»Dir auch, mein Schatz«, sagte mein Vater.

Meine Mutter drückte mir einen Kuss auf die Wange. »War heute noch was los?«

»Es ging, einige Gutscheine bin ich losgeworden. Gestern habe ich übrigens den kleinen grünen Bauernschrank verkauft, können wir den zwischen den Jahren ausliefern? Das sollte auch zu zweit klappen«, wandte ich mich an meinen Vater.

»Na klar, das kriegen wir hin, erinnere mich aber nochmal dran. Silvester fahren Mama und ich übrigens nach Kühlungsborn, Opa kommt dieses Mal mit. Du könntest uns auch begleiten, wenn du sonst nichts vorhast. Aber du willst bestimmt mit deinen Freunden feiern, oder?«

»Hanna ist nicht da. Nora und Aline sind dann zwar zurück, aber ich muss ja auf Linns Hund aufpassen.«

»Den könntest du nach Kühlungsborn mitnehmen.«

»Ach, ich weiß nicht, ich bleibe lieber hier.« Insgeheim hatte ich mich schon damit abgefunden, den Jahreswechsel mit einem guten Buch und Snørre auf der Couch zu verbringen. Da gab es Schlimmeres.

»Jens, setzt du bitte die Kartoffeln auf? Und Lara, warst du schon mit Snørre spazieren?«

»Nur kurz.«

»Dann gehe doch mit Opa und dem Hund noch etwas frische Luft schnappen. Wir bereiten in der Zeit alles vor.«

»Okay, ich lege nur eben meine Geschenke unter den Baum.«

Unser Tannenbaum stand im Wohnzimmer und ragte wie immer fast bis zur Decke. Die Äste schmückte meine Mutter seit einigen Jahren nicht mehr in Rot-Gold, sondern in Grün-Gold. Neben Kugeln hingen Strohsterne und goldene Engel in den Zweigen, deren Oberfläche das Licht der künstlichen Kerzen reflektierte. Es hüllte den Raum zudem in eine gemütliche Atmosphäre.

Plötzlich stieg ein Kloß in meinem Hals hoch, und all der Stress der letzten Wochen, die Verantwortung für Snørre, der Ärger über meine Schwester – all das drängte sich in den Vordergrund. War ich bis zum heutigen Tag durchgeprescht, wirkte Heiligabend auf einmal wie ein Entschleuniger, der mich innehalten ließ. Da ließen sich die unangenehmen Themen nicht mehr so leicht verdrängen, und alle Emotionen lasteten schwerer auf mir.

»Sollen wir los, mein Kind?«

»Gern, Opa. Ich zieh dem Hund nur seinen Mantel an.« Hastig wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen.

»Einen Mantel? Wieso denn das? Damit ihr im Partnerlook gehen könnt?« Opa lachte.

»Nee, der friert sonst.«

»Der hat doch Fell!« Opa wickelte seinen karierten Schal um den Hals, und ich half nach Snørre auch ihm in seinen dunkelblauen Mantel. »Pudel haben keine Unterwolle – ist so, als wenn du kein Unterhemd anhast.«

»Und das hat die Menschheit erst jetzt herausgefunden? Früher hat kein Hund einen Mantel getragen, und Pudel waren doch in Frankreich sogar mal Jagdhunde, oder nicht? Sind die dann im Mantel der Ente hinterher?«

Ich kicherte. »Keine Ahnung, ich finde es aber für dich raus.« Nachdem ich ebenfalls in meinen Daunenmantel geschlüpft war, rief ich: »Bis gleich!«, und marschierte mit Opa und Snørre hinaus. Nebeneinander liefen wir den Gehsteig im Wohngebiet meiner Eltern entlang.

»Was hat sich eigentlich mit deinen neuen Geschäftsnachbarn ergeben?«

»Der Mietvertrag war längst unterzeichnet, und außerdem schien ich die Einzige zu sein, die ernsthaft Sorge deswegen hatte. Sie war übrigens nicht gerechtfertigt, das Tattoo-Studio hat im letzten Monat tatsächlich für reichlich Laufkundschaft im Hinterhof gesorgt.«

»Na siehst du, einige Probleme lösen sich von allein. Und das Hygge Up läuft gut, ja?«

»Dieses Jahr war das beste bisher, allerdings auch ein verdammt anstrengendes.«

»Du musst dir Hilfe holen. Ich wollte in der Brauerei anfänglich auch nichts aus der Hand geben, aber als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, lief es noch besser, weil ich mich mehr um die Vermarktung kümmern konnte, anstatt an der Abfüllanlage zu stehen.«

»Wir sind ja zu zweit«, wich ich aus.

»Na ja, ich glaube, es war von Anfang an mehr dein Projekt und nicht das von Linn. Auch wenn sie vielleicht die Idee dazu hatte. Manchmal ist das so – einer taugt mehr zum Ideenfinden und der andere für die Umsetzung. Aber deswegen brauchst du deine Schwester nicht für immer mit durchschleppen – das tust du doch nicht, jetzt, wo sie nicht mehr da ist, oder?«

Ich seufzte. »Ich kann doch die monatliche Auszahlung an sie nicht einfach einstellen.«

»Natürlich! Allerdings kannst du sie nicht davon abhalten, sich auf Gran Canaria was vom Geschäftskonto abzuheben. Aber womöglich sorgt die Einstellung der Zahlungen dafür, dass sie herkommt, und dann könnt ihr das von Angesicht zu Angesicht klären und eine Lösung finden. Linn ist ein wunderbarer Mensch, aber vielleicht nicht die Geeignetste, wenn es darum geht, eine Firma zu führen. Diese Bedenken habe ich auch geäußert, als sie in der Brauerei gejobbt hat und Interesse an einer Ausbildung zur Bierbrauerin zeigte. Wir haben ihr dasselbe gesagt, was wir auch Tom gesagt haben: Die Lehre macht man besser bei Fremden. Das wollte sie aber nicht, bei uns hatte sie ja auch ein gutes Leben, da hat sie das mit der Anwesenheit ähnlich ernst genommen wie bei dir. Aber selbstständig zu sein heißt schließlich ›selbst‹ und ›ständig‹.«

»Ich weiß, Opa. Danke, dass du mir das erzählt hast. Ich habe es damals gar nicht so mitbekommen, weil ich in der Ausbildung an der Westküste steckte.«

»Deswegen sage ich es dir, ich sehe doch, wie du dich abrackerst. Aber weißt du, was? Ich glaube, du schaffst das auch ganz wunderbar allein.«

»Ob ich das wunderbar schaffe, kann ich nicht sagen. Aber zumindest habe ich momentan keine andere Wahl.«

»Hol dir Hilfe, erst mal nur als geringfügige Beschäftigung, und wenn du merkst, es trägt sich, dann halbtags. Und hör auf, deine Schwester durchzufüttern, wenn sie nicht im Laden arbeitet.«

»Aber Papa und Mama waren im Sommer doch auch immer länger auf Martinique.«

»Schon, aber das war abgestimmt, dein Vater hätte mich nie so holterdiepolter hängen lassen. Und wenn ich im letzten Jahr zu euch in den Laden gekommen bin, warst du immer da, deine Schwester kaum.«

Wenn es ums Geschäft ging, fand Opa stets klare Worte, nur für zwischenmenschliche Probleme war er der falsche Ansprechpartner, daher nickte ich nur. Denn die Beziehung zu meiner Schwester war eben mehr als nur eine berufliche, obwohl es das zwischen ihm und Papa natürlich auch gewesen war. Aber da hatte es eben gepasst, weil sie die Dinge ähnlich sahen.

Opa erzählte noch von seiner Seniorengruppe, mit der er zweimal in der Woche Karten spielte, und eine halbe Stunde später kehrten wir in das Haus meiner Eltern zurück. In der Luft lag der Duft von Rotkohl, Rosenkohl und der Gans im Ofen. Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt, Kerzen brannten zusätzlich zur Lichterkette am Baum. Die Pendelleuchten direkt über dem Tisch erhellten die Festtafel.

»Das sieht toll aus«, sagte ich und spürte augenblicklich, wie ich mich innerlich entspannte. Heiligabend war immer ein schöner Tag – an dem zumindest für den Moment des Essens und der Bescherung alles andere in den Hintergrund trat.

Ich half meinen Eltern beim Auftragen der Schüsseln, während Opa seine Lieblings-Weihnachts-CD rauskramte und kurz darauf das erste Lied von irgendeinem deutschen Chor aus den Lautsprechern dudelte.

Fünf Minuten später saßen wir am Tisch und reichten die Schüsseln herum. Papa erzählte von einem neuen Rezept, an dem Tom und er in der Brauerei tüftelten, und sagte, dass er ein paar Flaschen abgefüllt hatte, die wir später auf jeden Fall noch probieren sollten. Snørre lag auf der Couch.

Ich genoss das gemütliche Beisammensein mit meiner Familie und lehnte mich wenig später satt und zufrieden zurück.

»Erst Nachtisch oder erst die Bescherung?«, fragte meine Mutter.

»Also, ich bekomme erst mal keinen Bissen mehr runter«, antwortete ich. Im selben Moment vibrierte das Handy meines Vaters.

»Oh, das ist Linn!«, rief er erfreut. Kurz darauf erschien das sonnengeküsste Antlitz meiner Schwester auf dem Bildschirm. »Frohe Weihnachten!«, rief sie und hielt einen Cocktail hoch. Mama und Opa scharten sich um den Stuhl meines Vaters, um sie sehen zu können. Ich beugte mich rasch etwas vor, damit die Kamera mich nicht erwischte. Ich war sauer auf sie, und dennoch war da eine Sehnsucht nach meiner Zwillingsschwester, die ich wohl nie ganz loswurde. Es war wie ein Band, das immer wieder zusammenwuchs, egal, wie oft man es durchtrennte.

»Ist Lara gar nicht da?«, fragte sie, nachdem sie ein paar Minuten von der Insel und dem Hotel, in dem sie jobbte, geschwärmt hatte.

»Bin hier«, murrte ich knapp. »Und Snørre auch.«

»Wie war der Adventsmarkt?«

Ungehalten schnaubte ich und stand ruckartig auf, die Stuhlbeine erzeugten ein quietschendes Geräusch auf den Holzdielen. Ohne etwas zu sagen, ging ich in die Küche und goss mir erst mal einen Eierlikör ein. Die hatte Nerven!

Ein paar Minuten später – das Gespräch mit Linn war offenbar beendet – kam meine Mutter mir nach und schenkte uns beiden noch einen Likör ein.

»Weißt du, ich habe über deine Worte vor ein paar Wochen nachgedacht …«

»Schon okay, Mama, heute ist Weihnachten, und ich will nicht, dass wir streiten.«

»Das will ich auch nicht, aber ich finde es wichtig, dir etwas zu sagen. Schon seit ihr krabbeln konntet, warst du eher zurückhaltend und besonnen und deine Schwester diejenige, die erst handelte und dann nachdachte. Das gipfelte in dem Unfall auf dem Eis. Von da an hast du dann immer versucht, Linn zu zügeln. Vorher hast du ihr eher nur zugeschaut. Deshalb denke ich, das kam durch den Unfall.«

»Ich habe damals einen riesigen Schreck bekommen und mir Vorwürfe gemacht, sie alleingelassen zu haben.«

»Aber es war nicht deine Schuld! Deine Schwester hat entschieden, trotz unserer Warnung aufs Eis zu gehen, und wir haben euch allein losziehen lassen. Dich trifft in diesem ganzen Szenario am allerwenigsten eine Schuld.«

»Aber wenn ich geblieben wäre … ich musste immer daran denken, was passiert wäre, wenn es keiner gesehen hätte.«

»Ich verstehe dich, weil ich dieses Gefühl selbst oft habe. Aber wir können Linn nicht davon abhalten, das Leben zu führen, das sie für richtig hält, und ihre Entscheidungen zu treffen – egal, wie waghalsig sie uns erscheinen. Sie muss ihren Platz selbst finden. Das habe ich schon vor vielen Jahren akzeptiert, und ich denke, es wird höchste Zeit, dass du es auch tust. Ich dachte immer, die Zwillingsverbindung schweißt euch zusammen, aber womöglich ist es eher deine Fürsorge – und das, mein Schatz, hält dich davon ab, deinen eigenen Platz im Leben zu finden und sie vielleicht auch ihren. Ich fürchte, das ist auch die Schuld von Papa und mir. Nach unserer Meinungsverschiedenheit habe ich viel darüber nachgedacht, und mir ist jetzt erst bewusst geworden, wie sehr wir dich dazu gedrängt haben, die Verantwortungsvollere zu sein. Wie oft habe ich dich gebeten, ein Auge auf Linn zu haben! Und dann dieses Gerede um die Erstgeborene … Das hätte ich nicht tun sollen, es hat eure Beziehung in ein Ungleichgewicht gebracht, das heute noch besteht. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen, mein Schatz.«

Ich kräuselte die Nase und ließ mich von meiner Mutter in den Arm nehmen.

»Weißt du, als Eltern versucht man immer, alles richtig zu machen, aber wenn man zurückblickt, sieht man vieles, das man hätte besser machen können. Doch man ist sich manchmal einfach nicht bewusst, welche Auswirkungen unbedarfte Äußerungen haben.«

»Ach Mama, ist schon okay. Ich finde, ihr wart die besten Eltern, die wir uns hätten wünschen können. Ich bin jetzt erwachsen, und letztlich zählt nicht, warum etwas ist, wie es ist. Ändern kann nur ich mein Leben.« Dennoch tat es gut, so etwas von ihr zu hören.

»Wenn es dir mit dem Hund zu viel wird, kann ich ihn gern vorübergehend nehmen.«

»Nein, ich habe mich an ihn gewöhnt, und wir haben uns ganz gut eingespielt. Aber wenn du Zeit hast, kannst du gern mittags kommen und mit ihm rausgehen. Der Tag im Laden ist einfach zu lang für ihn, da würde es mir extrem helfen, und Aline ist ja momentan nicht da, die hat ihn sonst häufig für einen Spaziergang abgeholt.«

»Okay, gern.« Sie gab mir einen Kuss aufs Haar.

»Habt ihr was von Aline und Tom gehört?«, fragte ich dann. Zwar hatte ich selbst schon mit Aline getextet, aber ich wollte das Thema wechseln.

»Ja, Tom und dein Vater haben telefoniert, es geht ihnen gut – sie genießen die Auszeit.«

»Schön.« Kurz lächelten wir uns an.

»Hast du jetzt Platz für den Nachtisch?«

»Auf jeden Fall.«

»Früher habt ihr, du und Linn, immer behauptet, ihr hättet ein extra Fach im Magen für Süßigkeiten.«

»Ja, ich erinnere mich – ich glaube, das habe ich heute noch«, sagte ich schmunzelnd.