Kapitel 17

Am Tag des Jahreswechsels kaufte ich mir reichlich Soulfood und eine kleine Flasche Sekt und wollte die Serie Wednesday schauen, die mir Aline kürzlich empfohlen hatte. Ich hoffte, der kleine Hund fürchtete sich nicht allzu sehr vor der Knallerei. Nachdem das Böllern in den letzten beiden Jahren verboten gewesen war, gab es bestimmt einige, die Nachholbedarf hatten. Gegen ein Feuerwerk hatte ich nichts einzuwenden, aber den Sinn des Böllerwerfens hatte ich noch nie verstanden. Schon als Kind hatte ich Angst, wenn die Jungs anfingen, sich mit den Knallkörpern zu bewerfen.

Bisher war Snørre allerdings ganz cool – wir hatten vorhin noch eine große Runde auf der Halbinsel Holnis gedreht, fernab vom Lärm der Stadt, und nun, am frühen Abend, schlummerte er an mein Bein gekuschelt, den Kopf in meinen Schoss abgelegt.

Ich schaute von der Serie drei Folgen am Stück und verspeiste dabei eine Tafel Schokolade. Meine Augen wurden schon langsam kleiner, als es gegen neun an der Tür klingelte. Erschrocken rappelte ich mich auf und sah erst mal durch den Spion. Nora und Bent!

Ich öffnete. »Hey, was macht ihr denn hier?«

Nora umarmte mich. »So schön, dich wiederzusehen! Wir lassen dich Silvester doch nicht allein!«

»Aber ihr wolltet ausgehen«, sagte ich, ehe ich im Anschluss an meine Freundin auch Bent zur Begrüßung umarmte.

»Das haben wir auch vor!«, Nora hielt eine Flasche Sekt hoch. »Und weil du nicht wegkannst und ich so gern ein wenig mit dir feiern möchte, hat Bent sich bereit erklärt, bis halb zwölf auf den Hund aufzupassen, damit wir am Hafen in den Pub können, da steigt eine Sause zum Jahreswechsel.«

»Oh, wow, das ist echt lieb von euch.«

»Aber vor Mitternacht müsst ihr zurück sein!«, mahnte Bent.

»Damit du deine Nora küssen kannst und ich mich dann zurück in einen Kürbis verwandle?«

Bent runzelte verwirrt die Stirn.

»Wie in Cinderella, kennst du das nicht?«

»Noch nie davon gehört, aber solange sich nicht Nora in den Kürbis verwandelt, ist mir alles recht.«

»Jetzt stoßen wir erst mal zusammen an, und dann willst du dich bestimmt noch etwas aufhübschen, oder?«

Ich schaute an mir hinab. »Ja, die ausgebeulte Jogginghose sollte ich gegen was Ansehnliches tauschen, bevor wir aufbrechen.«

»Wer weiß, wem du heute noch über den Weg läufst«, flötete Nora und wackelte verheißungsvoll mit den Augenbrauen.

»Nach dem peinlichen Flirtversuch mit unserem Arzt beim Bootsführerschein-Kurs erspare ich mir erst mal weitere Versuche. Vielleicht wird das nächste Jahr ja eher meins.«

»Darauf trinken wir!« Nora pulte den Metallverschluss ab und ließ den Korken hochschnellen. Ich holte Gläser und wechselte von Netflix zu einem Radiosender, der den Raum mit Musik erfüllte.

»Apropos Führerschein … Hast du schon gelernt?«, erkundigte sich Nora.

»Nein, noch nicht – du etwa?«

»Bent hat mir eine App gezeigt, mit der bin ich alle Fragen mehrmals durchgegangen. Erst dachte ich, das wird nie was, aber allmählich sehe ich Licht am Ende des Tunnels.«

»Wie heißt denn diese App?«

»Gib mal her, ich suche sie dir raus«, sagte Bent, und ich reichte ihm mein Handy.

Nach einem Glas Sekt Sekt scheuchte Nora mich zum Umziehen in mein Zimmer. Etwas unentschlossen stand ich vor dem Kleiderschrank und entschied mich für eine schwarze Jeans und ein glitzerndes Oberteil. Anschließend legte ich im Bad leichtes Make-up und etwas Lippenstift auf, dazu tuschte ich die Wimpern schwarz. Das sollte reichen.

»Ah, schon besser!«, rief Nora, die, genau wie ich, bereits leicht beschwipst war. Wir schlüpften in unsere Mäntel und wickelten uns beide einen dicken Schal um. Eine Mütze steckte ich vorsorglich in die Tasche.

»Nicht vergessen, vor Mitternacht wieder hier sein!«, rief Bent noch, als er sich nach der Fernbedienung ausstreckte und mit der freien Hand Snørre kraulte.

»Versprochen!«, rief ich zurück.

»Echt nett von ihm, er scheint dich wirklich sehr zu lieben«, sagte ich zu Nora, während wir untergehakt in Richtung Hafenmeile spazierten.

»Ich ihn aber mindestens genauso.«

»Das muss so schön sein«, seufzte ich.

Nora blieb abrupt stehen, und ich schaute sie fragend an. »Du tust immer so, als hättest du keine Zeit für Liebe und Abenteuer, aber weißt du, was ich glaube? Du hast nur Angst, dein Herz zu verschenken.«

»Wie kommst du darauf?« Ich runzelte die Stirn und zog meine Freundin weiter.

»Weil es einfach nicht sein kann, dass eine Frau wie du so lange Single ist.«

»Aber es ist doch nichts verkehrt daran, allein zu sein.«

»Da hast du natürlich völlig recht. Nur sollte es nicht aus den falschen Gründen passieren. Bist du eigentlich auf Tinder angemeldet? Oder bei Lovoo?«

»Was wird das hier? Eine Verkupplungsaktion oder eine Silvesterparty?«

»Okay, sorry, ich wünsche mir nur, dass du im nächsten Jahr auch das ganz große Glück findest.«

»Ob das nicht vielleicht ein verschwendeter Wunsch ist …«, murmelte ich, als wir auf dem kleinen Vorplatz vor dem Pub ankamen, der von Menschentrauben bevölkert wurde. Einige standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich, andere waren auf dem Weg irgendwohin. Vielleicht ins Max oder ins Bootshaus.

»Da sind Aline und Tom!«, rief Nora und strebte auf eine der Gruppen zu. Meine Cousine hatte uns den Rücken zugewandt und quatschte mit jemandem. Tom entdeckte uns als Erster und hob die Hand. Neben ihm stand sein Freund Sören. Wir begrüßten die beiden.

»Im Pub ist es schon so voll – unfassbar!« Tom lachte und tippte gleichzeitig seiner Freundin auf die Schulter. Meine Cousine drehte sich um. Ihre roten Haare lugten unter einer dicken Strickmütze hervor, und ihr Gesicht erhellte sich prompt, als sie uns sah. Mir hingegen rutschte kurzzeitig das Lächeln vom Gesicht, als ich erkannte, mit wem sie in ein Gespräch vertieft gewesen war. Hendrik! Innerlich stöhnte ich. Ständig lief ich ihm über den Weg! Sollte das jetzt immer so weitergehen – für den Rest meines Lebens? Warum nur war er nicht in Kopenhagen geblieben? Manchmal war Flensburg einfach ein Dorf. Ein kleines, quasi ein Sechshundert-Seelen-Dorf, das sich als Stadt tarnte.

»So schön, dass ihr da seid!« Aline fiel uns um den Hals. Sören holte eine Flasche Sekt aus seinem Rucksack und verteilte Becher an uns. »Ich habe mir schon gedacht, dass keine Maus mehr in den Pub passen wird. Nach dem ganzen Pandemie-Scheiß sind die Leute gierig auf Partys.«

»Wo habt ihr Bent gelassen? Muss er arbeiten?«, wollte Tom wissen.

»Hast du auch einen Becher für Hendrik?«, fragte Aline dazwischen, und Sören nickte.

»Nein, er spielt den Hundesitter für Snørre, damit Nora und ich ein wenig feiern können.« Ich nahm den Becher entgegen.

»Aber nur für eineinhalb Stunden, spätestens um Mitternacht soll Lara zurück sein«, ergänzte Nora.

»Wie in Cinderella«, sagte Hendrik, der plötzlich mit seinem Sekt neben mir stand, und aus unerklärlichen Gründen wurde mir ganz warm.

»Genau, nur ohne den Märchenprinzen«, sagte ich dennoch trocken.

»Wenn ich nicht mitten in meinem Dating-Detox-Jahr wäre, würde ich mich glatt anbieten«, witzelte Sören.

»Dating Detox?«, murmelte ich. »Was soll das sein?«

»Er datet ein Jahr lang niemanden«, erklärte Aline und verdrehte lachend die Augen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du die Art Frau bist, die auf den Prinzen mit dem weißen Pferd wartet«, sagte Hendrik. Ich sah ihn an. Warum machte er sich Gedanken darüber, auf wen ich wartete oder nicht? Es passierte mir nicht allzu oft, doch in diesem Moment wusste ich einfach nicht, was ich sagen sollte.

»Auf Märchenprinzen!«, rief Nora und hielt ihren Becher hoch. Wir stießen miteinander an, und plötzlich unterhielt sich jeder mit irgendwem, nur Hendrik und ich nicht. Mit einem unverbindlichen Lächeln sah ich ihn an und suchte nach einem ebenso unverbindlichen Thema, über das ich mit ihm reden konnte. Zum Glück fiel mir was ein. »Ich habe mit deiner Schwester telefoniert. In der nächsten Woche habe ich einen Termin zum Probetraining.«

»Dann bleibt deine Schwester noch länger weg?«

»Wieso – vermisst du sie?«, fragte ich, betont scherzhaft.

Hendriks Gesicht verzog sich. »Ganz sicher nicht. Sorry, sie ist deine Schwester … Wir sollten dieses Gespräch nicht führen.«

»Ja, vielleicht wäre das besser.«

»Ich finde es auf jeden Fall total nett von dir, dass du dich um ihren Hund kümmerst und jetzt sogar zur Hundeschule gehst.«

Ich nippte an meinem Sekt. »Er ist mir wider Erwarten verdammt ans Herz gewachsen.« Kurz fühlte ich abermals diesen Kloß im Hals, wenn ich daran dachte, dass es Linns Hund war. Aber wir wohnten zusammen, ich würde ihn trotzdem täglich sehen, wenn sie zurück war. Doch wollte ich überhaupt noch mit ihr zusammenwohnen? Und schon drängten sich wieder viele Fragen auf – auch in Bezug auf den Laden. Wie das alles weitergehen sollte. Die Worte meines Opas klangen in meinen Ohren. Da hakten sich plötzlich Aline und Nora links und rechts bei mir ein und unterbrachen meinen Gedankenstrom.

»Sorry, Hendrik, wir brauchen sie mal«, erklärte Aline.

»Wir zwängen uns jetzt nämlich in den Pub und tanzen eine Runde.«

»Gute Idee, ich habe mir das Glitzertop doch nicht umsonst angezogen! Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Eine Dreiviertelstunde!«

Wir überredeten den Türsteher, uns reinzulassen, drückten Tom und Sören unsere Jacken in die Arme und quetschten uns auf die kleine und übervolle Tanzfläche. Die Luft war so heiß und drückend, dass mir sofort die Haare feucht im Nacken klebten. Doch die Musik umfing mich, und als ich tanzte, vergaß ich all die Fragen, denen ich mich stellen musste. Zu 3 Tage am Meer sangen wir lautstark mit. Als Nächstes wurde Someone Else von ClockClock angespielt. Ich schloss die Augen und gab mich ganz dem Klang hin. Der Platz war so gering, dass man quasi Rücken an Rücken mit Fremden tanzte. Danach kam der Achtzigerjahre-Song Safety Dance von Men Without Hats. Die Elektrobeats schraubten die Stimmung nach oben, und wir sangen den Text mit, ohne ihn wirklich zu kennen.

Beim vierten Song spürte ich plötzlich nicht mehr den Rücken eines Fremden, sondern seine Vorderseite, und – urrgs – die gehörte definitiv zu einem Mann. Dazu legten sich zwei Hände auf meine Hüften. Wütend fuhr ich herum, funkelte den Fremden an und schubste ihn gegen die Brust. Was leider kaum einen Effekt hatte, weil die Tanzfläche so voll war. Der Typ – schätzungsweise Mitte dreißig bis vierzig, lächelte mich schmierig an, seine Augen glänzten. Vermutlich war er total besoffen. Statt sich fernzuhalten, rückte er wieder näher und streckte seine Hände aus. Da tippte Tom ihm von hinten auf die Schulter und machte ihm mit nur einem Blick deutlich, dass er sich verdünnisieren sollte. Was war das nur mit den Männern?

»Danke«, formte ich mit den Lippen. Tom nickte und schob sich an mir vorbei zu Aline, umfing ihr zartes Gesicht mit seinen Händen und küsste sie, sodass Nora große Augen bekam und sich mit ihrer Hand Luft zufächelte. Ich lachte und tippte auf die Uhr. Sie nickte, und wenig später verabschiedeten wir uns von meiner Cousine und Tom und nahmen von Sören, der mit Hendrik einen Platz am Tresen ergattert hatte, unsere Jacken entgegen.

»Wir hätten dich auch gerettet«, erklärte Sören. »Aber Tom war schneller.«

»Sehr ritterlich«, flachste ich.

»Ich komme gleich mit Bent zurück«, sagte Nora.

Sören nickte, und ich hob die Hand zum Gruß.

»Rutsch gut rein!«, rief Hendrik.

Ich schaute lächelnd zurück und verspürte für einen Moment das Bedürfnis zu bleiben. »Danke, ihr ebenfalls!«

Auch wenn ich ein wenig traurig war, gehen zu müssen, freute ich mich auf der anderen Seite darauf, mich ins Bett zu kuscheln, um zwölf das Feuerwerk vom Fenster aus zu betrachten und mich morgen frisch und nicht völlig verkatert zu fühlen.

»Danke für diese Silvesterparty im Schnelldurchlauf, das war großartig«, sagte ich vor unserem Haus zu Nora.

»O ja, das war’s, bis auf den schmierigen Typen.«

»Wenn das die Auswahl an Männern ist, die mir zur Verfügung steht, bleibe ich lieber für immer allein.«

»Das verstehe ich!«, erwiderte Nora, ehe sie hinzufügte: »Ich weiß, du willst es nicht hören, aber – er hat es schon wieder getan.«

»Wer hat was getan?«

»Na, Hendrik, er hat dich schon wieder angesehen, als … na auf diese besondere Art eben.«

»Nora! Meinst du nicht, das wäre mir dann auch aufgefallen?«

»Offensichtlich nicht! Außerdem war Hendrik schon auf halbem Weg zur Tanzfläche, als der schmierige Typ dich genervt hat, aber Tom hat ihm seinen ritterlichen Auftritt vereitelt, weil er schneller war.«

Ich kicherte. »Hast du auch mal woanders hingeschaut, außer zu Hendrik?«

»Im Gegensatz zu dir habe ich keine Scheuklappen auf«, flötete sie und tanzte die Treppen hinauf.

Snørre freute sich riesig, mich wiederzusehen, Bent hingegen rieb sich verschlafen die Augen.

»Da hat wohl jemand ein Nickerchen gemacht«, neckte Nora ihn und küsste ihn auf die Lippen.

»War so gemütlich mit dem Hund. Wir sollten auch mal über einen nachdenken.«

»Na, da würde sich der Kater aber bedanken!«

Ich ließ mir von Snørre über die Hand lecken und fragte mich, wie so ein kleines Wesen einen derart glücklich machen konnte. Aber genau das empfand ich, wenn ich ihn ansah. Glück. Leute hatten recht, wenn sie behaupteten, der Hund sei der beste Freund des Menschen.

Bent rappelte sich hoch und streckte sich. »Hattet ihr es denn schön?«

»Sehr, danke, Bent. Und jetzt kommt ihr zwei gut ins neue Jahr. Wir sehen uns im nächsten.«

Nora drückte mich nochmal an sich. »Meinen Neujahrswunsch kennst du ja schon.«

»Den solltest du überdenken. Ich geh noch mit euch runter, damit Snørre vor der ganz großen Böllerei Pipi machen kann.«

Draußen zuckte Snørre zusammen, als Raketen in nächster Nähe zischend am Nachthimmel emporstiegen, und ich schloss die Finger etwas fester um die Leine. Dabei sah ich Nora und Bent hinterher, wie sie Hand in Hand davonspazierten.

Als der Pudel sein Geschäft erledigt hatte, nahm ich ihn auf den Arm und lief zurück ins Haus. Wir kuschelten uns ins Bett, und obwohl ich mich auf das Feuerwerk gefreut hatte, schlief ich mittendrin ein.