Kapitel 18

Eigentlich hielt ich nichts von Neujahrsvorsätzen. Und dennoch fasste ich am Morgen des ersten Januartages den Vorsatz aufzuräumen. Nicht die Wohnung oder den Laden, sondern mein Leben. Ich liebte Linn. Doch ich war nicht mehr bereit, ihre Eskapaden hinzunehmen. Ich wollte endlich Klartext mit ihr reden, und wenn sie nicht zügig eine Entscheidung traf, dann würde ich es für sie tun. In Bezug auf das Hygge Up, Snørre und unsere Wohnung.

Ich wartete bis nach unserem Mittagsspaziergang, bei dem Snørre neugierig an den Überbleibseln der gestrigen Nacht schnupperte, die überall in der Stadt auf den Gehwegen lagen. Zu Hause machte ich mir einen Tee und wählte schließlich Linns Nummer. Es klingelte und klingelte, bevor die Mailbox ansprang. Na prima!

»Hier ist Lara. Hör mal, du bist jetzt seit fast zwei Monaten weg und … das geht so nicht mehr. Ich will wissen, wann du wiederkommst und ob du überhaupt noch Lust auf das Hygge Up hast und … Wir müssen uns dringend darüber unterhalten, wie es weitergeht.« Ich wollte schon »Tschüss« sagen, da schob ich noch hinterher: »Und falls es dich interessiert, das Tattoo-Studio hat seit ein paar Wochen geöffnet und zieht tatsächlich neue Kunden zu uns in den Hof. Bisher scheinen Hendrik und sein Mitinhaber Sven ganz okay zu sein. Der Zwist mit Hendrik ist ja auch lange her. Du bist doch nicht wegen ihm weg, oder? Er hat mir sogar gezeigt, wie ich Snørre beibringe, auf Zuruf zu mir zu kommen.« Ich stockte, denn plötzlich merkte ich, wie sehr ich Linn trotz aller Meinungsverschiedenheiten im letzten Jahr vermisste. »Meld dich einfach, okay?«

Dann beendete ich meinen Monolog. Wie konnten Gefühle einem Menschen gegenüber so zwiespältig sein? Auf der einen Seite liebte ich sie, auf der anderen Seite hatte ich fast ein wenig Angst davor, dass sie wiederkommen würde und alles wieder so wäre wie zuvor.

Am Donnerstagabend machten Snørre und ich uns auf den Weg nach Westre, einem kleinen Dorf an der Grenze zu Dänemark. In einer Halle auf einem stillgelegten Bauernhof hatte Hendriks Schwester ihre Hundeschule.

Es parkten schon etliche Autos auf dem bekiesten Vorplatz. Ich schnappte mir Snørre, Leckerlis und die Leine. Der Wind war kalt, und leichter Nieselregen vervollständigte das norddeutsche Schietwetter, das wir hier im Winter leider häufig hatten.

In der Halle quatschten die anderen Gruppenteilnehmer miteinander. Einige Hunde saßen brav zu ihren Füßen, andere versuchten, zum Nachbarn zu gelangen und ihn zum Spielen aufzufordern. Eine junge Frau löste sich aus einem Gespräch und kam mit einem Lächeln auf mich zu. Ihr Lachen glich dem von Hendrik, doch ansonsten hatte sie nichts mit ihrem Bruder gemein. Keine sichtbaren Tattoos oder Piercings – okay, sie trug eine dicke Jacke – , und sie teilte nicht seine Vorliebe für Schwarz, die Jacke war grün. Ihre Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden.

»Du musst Lara sein. Ich bin Kerrin, schön, dass ihr da seid.« Sie schüttelte erst mir die Hand, dann begrüßte sie den Hund. »Wir sind dann vollzählig! Bildet bitte einen großen Kreis und lasst die Hunde neben euch sitzen.«

Auf »Sitz« gehorchen konnte Snørre zwar, aber sitzen bleiben nicht. Doch da war er nicht der Einzige. Der Reihe nach fragte Kerrin jeden, wie es ihm ging und ob er Fragen hatte.

»Ida hat eine komplette Adilette gefressen, ist das gefährlich?«

Eine komplette Adilette? Alle Achtung, Snørre zerkaute nur mal die Enden der Schnürsenkel.

»Wann war das?«

»Vor zwei Tagen.«

»Und macht sie seitdem normal ihre Häufchen?«

»Ja, einiges ist auch mit rausgekommen.«

»Dann denke ich, du solltest dir keine Sorgen machen. Für solche Fälle könnt ihr Sauerkraut zu Hause haben, das umwickelt die Fremdkörper und hilft dabei, sie hinauszubefördern. Beobachte Ida aber weiter.« Kerrin schaute zum Nächsten in der Runde. Es war ein kleiner Hund, mindestens noch mal zehn Zentimeter kleiner als Snørre und mit platter Nase.

»Wenn er beim Spazierengehen Angst hat, soll ich dann stehenbleiben, damit er sich die vermeintliche Gefahr anschauen kann, oder weitergehen, als wenn nichts wäre?«

»Du kannst stehenbleiben, dich hinhocken und ihm so Sicherheit geben, aber bleib ganz locker und gelassen. Nicht durch Streicheln seine Angst bestätigen. Wenn du immer schnell an allem vorbeiläufst, ist es für ihn, als wärt ihr auf der Autobahn unterwegs, da kann er kaum die Eindrücke verarbeiten. Aber wenn du ihm Zeit lässt, seid ihr quasi auf der Landstraße, da nimmt man die Umgebung viel deutlicher wahr, oder?«

Dann war ich an der Reihe. »Lara, wie sieht’s bei dir aus?«

»Snørre ist eigentlich der Hund meiner Schwester, und wir müssen noch an unserer Beziehung arbeiten. Im Grunde weiß ich gar nichts und hab wohl bisher ziemlich viel falsch gemacht.«

»Wir machen alle Fehler, aber dass du jetzt hier bist, ist der erste Schritt.«

Nachdem alle ihre Fragen losgeworden waren, gab Kerrin das Signal, die Hunde von der Leine zu lassen, damit sie miteinander spielen konnten. Snørre preschte los, kam aber kurz darauf wieder zu mir zurück.

»Hock dich ruhig hin, um ihm einen sicheren Rückzugsort zu geben. Du darfst die anderen Hunde von dir wegschieben. Er soll lernen, dass er bei dir sicher ist und du das mit den anderen Hunden schon regelst.«

»Okay.« Ich ging in die Hocke, und Snørre suchte gleich Schutz unter meinen Beinen. Kerrin half mir, die anderen Hunde fernzuhalten, dabei stellte ich mich nämlich nicht sonderlich geschickt an.

Es dauerte gar nicht lange, da traute Snørre sich wieder aus seinem Versteck hervor und folgte der Aufforderung eines kleinen dunkelbraunen Pudels. Sie jagten sich durch die Halle, die mit einem Kunststoffbelag ausgelegt war. Zwischendurch standen sie mit beiden Vorderbeinen in der Luft.

Kerrin schmunzelte. »Hunderassen haben oft ein unterschiedliches Spielverhalten. Und du siehst, er hat sich gleich mit einem anderen Pudel angefreundet. Das mit den Beinen in der Luft nennt man sogar pudeln , da es typisch für die Rasse ist.«

Während ich den Hunden bei ihrem Spiel zusah, wurde mir bewusst, dass Snørre, seit er bei mir und Linn lebte, viel zu wenig Kontakt zu anderen Hunden gehabt hatte. Am Strand hatte er hin und wieder mal einen beschnuppert, aber das hier war wie eine Spielgruppe. Sicherlich war es wichtig, um soziale Fähigkeiten zu trainieren.

Nach zehn Minuten nahmen wir die Hunde an die Leine und machten für die nächste halbe Stunde ein leichtes Training. Wir liefen im Slalom durch die anderen Hunde, im besten Fall blieb die Aufmerksamkeit des Hundes bei uns – was mir bei Snørre natürlich nicht mal im Ansatz gelang. Er war aufgeregt und wollte ständig zu den anderen. Ähnlich war es bei den weiteren Übungen. Trotzdem hatte ich Spaß und Snørre auch. Mit Kerrins Hilfe lernte ich schnell, Snørre besser anzuleiten, und als ich ihn am Ende nach einer weiteren Spieleinheit anleinte, wirkte er absolut glücklich. Er hechelte und schien mich förmlich anzulächeln.

»Wie hat es dir gefallen?«, fragte Kerrin.

»Gut, ich würde gern wiederkommen.«

»Das freut mich. Du kannst eine Zehnerkarte kaufen oder eine Jahresmitgliedschaft. Ich gebe dir meinen Flyer mit, dann kannst du es dir überlegen. Einen tollen Laden hast du übrigens. Ich habe es bisher noch nicht geschafft reinzuschauen, aber schon sehnsüchtig durchs Fenster gelinst!«

Ich lächelte und verabschiedete mich.

Zuhause schlief Snørre erst mal wie ein Stein. Mehrmals ging ich zu ihm und schaute, ob sich sein Bauch noch hob und senkte. Dieses kleine Wesen wuchs mir mit jedem Tag mehr ans Herz. Das trieb meine Gedanken wieder zu meiner Schwester, die auf meine Nachricht vom Neujahrsmorgen nicht reagiert hatte. Sollte sie doch in Spanien bleiben! Ein paar Tage gab ich ihr noch, dann würde ich Opas Rat befolgen und den Dauerauftrag an sie aussetzen – mal sehen, ob das eine Reaktion von ihr hervorlockte.

In den nächsten Tagen übte ich bei den Spaziergängen mit Snørre spielerisch einige der Dinge, die ich in der Hundeschule gelernt hatte. Sitz, Platz, Bleib und Hier waren mir am wichtigsten. Schnell stellte ich fest, dass Snørre durchaus gewillt war, Kommandos zu befolgen, wenn er verstand, was ich von ihm wollte. Er freute sich über das Lob und den Keks, und ich freute mich mindestens genauso über die Fortschritte, die wir machten.

Als ich am Montag Hendrik über den Hof schlendern sah, winkte ich ihm und trat zur Tür. Es war kurz nach Mittag und gerade kein Kunde im Laden.

»Hey!«, rief ich ihm zu.

»Hey«, entgegnete er, offenbar ein wenig verdutzt.

In meiner Euphorie über den Besuch der Hundeschule hatte ich glatt vergessen, dass Hendrik und ich keine Freunde waren. Aber Feinde schließlich auch nicht mehr. Und neben dem Vorsatz, das Chaos mit meiner Schwester aufzuräumen, hatte ich auch beschlossen, Hendrik nicht länger anzulasten, was er mal vor zig Jahren gesagt hatte.

»Frohes neues Jahr noch!«, fügte ich hinzu.

»Dir auch! Hat Snørre die Böllerei gut überstanden?«

»Er war ganz cool. Ich war letzten Donnerstag übrigens bei deiner Schwester und …« Ich fing den Blick aus seinen braunen Augen auf, was mich kurz im Satz stocken ließ, ehe ich weitersprach. »Vielen Dank für den Tipp, wir sind bereits jetzt ein viel besseres Team. Soll ich dir mal zeigen, wie toll unsere Kommunikation inzwischen ist?«

Hendrik nickte auffordernd. »Ich bin gespannt!«

Ich setzte den Pudel auf den Boden und nahm ein paar Leckerchen in die Hand. »Snørre – sitz!« Ich hob zur Unterstützung einen Zeigefinger. »Fein. Bleib!« Für dieses Kommando hielt ich die Hand wie ein Stoppsignal. Ich ging drei Schritte rückwärts. »Ja, komm.« Unterstützend schnalzte ich mit der Zunge. Snørre kam freudig angelaufen, und erst kurz bevor er bei mir war, gab ich das langgezogene Kommando »Hiiier!« Snørre schmatzte seinen Keks und sah mich erwartungsvoll an. Ich streichelte ihn noch einmal unterhalb des Ohres, ehe ich mich aufrichtete und Hendrik stolz anstrahlte.

»Voll die Streber seid ihr.«

»Klaro, meinst du, ich mache das zum Spaß?«, konterte ich todernst. Für einen Moment schien Hendrik nicht einordnen zu können, ob es sich um einen Scherz handelte, erst als meine Mundwinkel zuckten, grinste er.

»Freut mich, dass ich dir weiterhelfen konnte.«

Für einige Sekunden verharrten wir unschlüssig voreinander, durch das Rückwärtsgehen während der Bleib-Übung stand ich nun viel dichter bei Hendrik als zuvor. Ich räusperte mich. »Dann einen schönen Tag.« Geschäftig steckte ich die Leckerchen in meine Tasche.

»Euch auch.« Hendrik sah mich an, als wolle er noch etwas hinzufügen, doch dann wandte er sich ab, und ich steuerte das Hygge Up an.