Noch auf dem Nachhauseweg rief ich den gemeinsamen Chat mit Aline und Nora auf und schrieb:
Habt ihr schon viel für den Führerschein gelernt? Ich habe den Prüfungstermin irgendwie total vergessen und habe noch gar nicht angefangen!
Aline antwortete:
Oh … So absolut gar nichts?
Nein …
Es ist aber recht viel!
Na, du machst mir ja Mut!
Nora war nun ebenfalls online.
Wenn du dich jetzt ranhältst, schaffst du es bestimmt!
An die praktische Fahrstunde übermorgen denkst du aber, oder?
Ja, zumindest jetzt wieder. Vielleicht stellt sich dabei eh heraus, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin, und ich kann mir die Theorie sparen.
Wohl eher nicht! Wir rocken das! Und jetzt fang an zu lernen.
Ich las Noras Worte, als Aline noch eine Nachricht schickte.
Wenn wir dir helfen sollen, sag Bescheid!
Ich bedankte mich bei den beiden, bevor ich das Handy wegsteckte, meine Handschuhe aus der Tasche zog und mit Snørre nach Hause eilte.
Am nächsten Vormittag im Laden blinzelte ich verschlafen auf das Display meines Handys, wo ich seit gestern Abend permanent die App für die Führerscheinprüfung geöffnet hatte.
Fragen wie »Wie haben sich Fahrzeuge von weniger als 20 m Länge oder Segelfahrzeuge in Verkehrstrennungsgebieten zu verhalten?«, trieben mich an den Rand der Verzweiflung. Was waren Verkehrstrennungsgebiete? Meine Zuversicht sank mit jeder Fragerunde, die ich absolvierte. Selbst in der Mittagspause stapfte ich mit dem Blick aufs Handy gerichtet am Hafen entlang und stolperte dabei einmal um ein Haar über Snørre.
Kurz vor Ladenschluss tauchten überraschend Nora und Aline auf.
»Führerschein-Rettungskommando«, flötete Nora und zog sich den Schal vom Hals.
»Das ist aber lieb von euch, ich muss nur eben eine Runde mit Snørre drehen. Das Hundetraining fällt heute zum Glück aus, weil die Trainerin bei einer Fortbildung ist.«
»Für die Hundebespaßung haben wir Tom mitgebracht, der quatscht nur gerade noch mit Hendrik. Er überlegt, sich Mister Superbrewer stechen zu lassen.« Aline grinste.
Mister Superbrewer war ein Comic-Held, den meine Cousine eigens für Tom kreiert hatte. Wie aufs Stichwort kam Mister Superbrewer höchstpersönlich durch die Tür.
»Das ging aber schnell«, begrüßte Aline ihren Freund.
»Hendrik ist in einem Termin«, antwortete er und wandte sich anschließend an Snørre. »Wo ist denn mein kleiner Buddy?« Als hätte Snørre gewusst, dass er gemeint war, rannte er freudig zu Tom. »Zeit für eine Männerrunde, die Frauen haben zu tun, mein Freund.«
»Danke, Tom, das ist echt nett von dir.«
»Das mache ich gern, aber fragt mich bitte nicht, ob ich euch die Navigationsaufgaben erkläre, das habe ich alles längst vergessen. Der Platz in meinem Hirn ist jetzt mit Bierbraurezepten gefüllt.«
»Jeder tut halt, was er kann«, zog ich ihn auf, doch er ließ den Scherz an sich abprallen und sagte nur: »Viel Erfolg!«
Als er fort war, räumten wir einen der Ausstellungstische frei und setzten uns mit unserem Navigationsbesteck daran.
»Sollen wir mit der ersten Aufgabe anfangen?«, fragte Aline.
»Von mir aus.«
»Die ist eigentlich ganz einfach«, murmelte Nora, nahm schon den Stift in die Hand und notierte sich eine Formel.
Ich las die Aufgabe und die erste Frage. Berechne den rechtweisenden Kurs. Das war doch das mit der Missweisung. Hektisch blätterte ich in meinen Unterlagen nach der Formel.
»Hier ist sie.« Nora schob ihren Zettel zu mir. »Und vergiss nicht, die Vorzeichen anzupassen, wenn du rückwärts rechnest.«
»Hm«, murmelte ich und notierte die Zahlen.
Wir ackerten uns durch die Aufgabe, und die beiden erklärten mir alles, woran ich mich aus dem Kurs nicht mehr erinnern konnte. Wir waren fast durch, als Tom und Snørre zurückkamen.
»Und? Wie läuft es?«, erkundigte er sich.
»Joa, ich würde sagen, Lara hat noch ein wenig zu tun bis zur Prüfung«, erklärte Aline.
»Aber sie wird es schaffen!« Nora knuffte mich in die Rippen, und ich kippte zur Seite, ließ mich theatralisch mit dem Gesicht voran in eines der Dekokissen auf der Holzbank fallen.
»Soll ich die Prüfung überhaupt machen?«, grunzte ich in den Stoff.
»Es nicht zu versuchen, ist doch irgendwie auch nicht der richtige Weg. Du übst jetzt schön weiter, und dann warten wir mal ab.«
Ich richtete mich wieder auf. »Na schön, danke, dass ihr mir geholfen habt.«
»Wenn du irgendwo nicht weiterkommst, ruf uns an.«
»Oder geh zu Hendrik, der konnte das meiste schließlich schon im Kurs«, sagte Aline.
»Ja«, bestätigte Nora und grinste mich an. »Das ist eine gute Idee, geh zu Hendrik.«
Ich verdrehte die Augen und warf mit einem der Kissen nach meiner Freundin.
»Was ist denn mit Hendrik?«, fragte Tom ahnungslos. »Lara denkt doch nicht immer noch, dass das Studio hier nicht herpasst, oder?«
»Nein, tue ich nicht«, murmelte ich. »Ich habe mich sogar bei ihm entschuldigt.«
Nachdem sich meine Freunde verabschiedet hatten, knipste ich die Lichter aus und lief mit Snørre nach Hause.
Den Rest des Abends verbrachte ich vor der App. Und je häufiger ich die einzelnen Wissensbereiche durchging, desto häufiger lag ich mit meinen Antworten richtig. Nur die Navigationsaufgaben vernachlässigte ich.
Der Freitag und damit der Tag der praktischen Fahrstunde kam definitiv schneller, als mir lieb war – zur Prüfung blieben nun keine 24 Stunden mehr. Zum Glück hatte meine Mutter Zeit für den Laden und den Hund.
Die Förde lag nahezu glatt vor mir, als ich vom Parkplatz auf der Kaimauer entlanglief, dabei hatte es gestern noch mächtig gestürmt. Nora und Aline warteten am Treffpunkt im Hafen von Sonwik auf mich.
»Hey, ihr zwei, habt ihr das Boot schon entdeckt?«
Nora deutete über die Brüstung zu einem Anleger hinunter.
»Der Fahrschullehrer ist bereit, aus uns echte Seebären zu machen. Wie läuft es mit der Theorie?«
»Na ja, es läuft rückwärts und bergauf, aber es tut sich was.«
Ich folgte den beiden eine Treppe hinunter. Der Fahrschullehrer erwartete uns auf dem Boot. Er trug eine am Saum aufgerollte Strickmütze über seinen schütteren grauen Haaren. Sein Gesicht war trotz der Jahreszeit gebräunt und hatte tiefe Falten. Zwischen den Lippen klemmte eine glimmende Zigarette, und er trug Handschuhe, die die obere Hälfte der Finger freiließen. Dazu hatte er eine karierte Jacke im Holzfäller-Style an und darunter einen marineblauen Stricktroyer.
»Moin, die Damen«, begrüßte er uns, ohne die Kippe aus dem Mund zu nehmen.
»Moin«, erwiderten wir im Chor und ließen uns von ihm aufs Boot helfen.
»Ich bin Harro. Seid ihr bereit?«
Wir nickten brav. Das Boot war circa fünf Meter lang und hatte eine Kabine mit zwei Fahrersitzen, von dem rechten aus steuerte man. Dahinter waren im Innenbereich seitlich noch zwei weitere Bänke angebracht. Auf einer entdeckte ich Schwimmwesten. »Die sollen wir wahrscheinlich anziehen, oder?«
Harro schaute zu den Westen. »Könnt ihr machen.« Er schnippte seine Zigarette auf den Steg, und ich sah Nora an, dass sie am liebsten einen Kommentar dazu abgegeben hätte.
Wir streiften die Schwimmwesten über unsere Jacken, Harro machte keine Anstalten, sich eine anzuziehen. Stattdessen startete er das Boot und legte gekonnt ab. Er steuerte zwischen großen Segelyachten, die mit dicken Planen abgedeckt im Winterschlaf lagen, vorbei hinaus auf die Förde.
»So, als Erstes erkläre ich euch das Boot, dann üben wir, den Kurs anzulegen, danach kommt das Manöver ›Mann über Bord‹, dann An- und Ablegen und zum Schluss noch mal ›Mann über Bord‹ . «
Das klang viel für die drei Stunden, die für unsere Gruppe angesetzt waren.
»Also …« Harro deutete auf den Schalthebel, der gleichzeitig der Gashebel war und irgendwie auch die Bremse, durchs rückwärts Aufstoppen.
Ich setzte mich als Erste auf den Fahrersitz und ging alle Positionen des Hebels nach den Ansagen von Harro durch.
»Dann fahr jetzt los und nimm Kurs auf das weiße Haus auf dänischer Seite. Sag Bescheid, wenn der Kurs anliegt.«
Vorsichtig gab ich Gas. Das Boot hob und senkte sich mit den leichten Wellen, die außerhalb des geschützten Hafenbereichs gingen, und ich versuchte, ein Gefühl für die Steuerbewegungen zu bekommen. Ich war schon mit dem Boot meines Vaters gefahren, hatte aber noch nie konkret einen Kurs gehalten. Schließlich gelang es mir, die Spitze des Boots auf das weiße Haus auszurichten.
»Gut«, lobte Harro. »Dann sagst du: ›Kurs liegt an.‹«
»Müssen wir in der Fahrrinne nicht auch die Vorfahrtsregeln beachten?«, fragte Aline und deutete aus dem Seitenfenster, wo ein Segelboot von der Hafenspitze aus auf uns zusteuerte und gerade die große Werft passierte. Harro warf einen Blick über seine Schulter, machte eine abfällige Handbewegung und murmelte etwas, was ich nicht verstand. Irgendwie hatte ich es für den interessantesten Teil gehalten, endlich zu lernen, wer wem auf dem Wasser auszuweichen hatte, aber da musste ich mich wohl weiter an den Fragenkatalog für den Theorieteil halten.
»So, jetzt nimmst du das Gas weg, stoppst einmal auf, dafür legst du den Hebel nach hinten, danach wieder in den Leerlauf.«
Nachdem ich das zweimal durchgeführt hatte und Harro mich immer wieder darauf hinwies, auf meinen Kurs zu achten, war Nora an der Reihe.
»Das ist so cool! Vor einem halben Jahr dachte ich noch, ich kraxle bald durch die Berge in Bayern, und nun schippere ich auf der Ostsee rum.«
Ich schmunzelte angesichts ihres offensichtlichen Glücks.
»Leerlauf!«, ermahnte Harro meine Freundin mehrmals.
Anschließend war Aline dran, die hoch konzentriert bei der Sache war.
»Gut. Als Nächstes folgt das Manöver ›Mann über Bord‹. Ich werfe eine Boje raus und rufe: ›Mann über Bord!‹, das heißt für euch, sofort Gas weg und eine volle Kehrtwende. Davor informiert ihr noch die Crew und verteilt die Aufgaben: Ausschau halten und Rettungsmittel bereithalten. Dann fahrt ihr gegen den Wind an der Boje vorbei und fragt nach der Position der Boje. Einer teilt euch mit, wie viel Bootslängen die Boje Backbord oder Steuerbord hinter euch ist, bei drei Bootslängen schlagt ihr voll in die Richtung ein, in der die Boje sich befindet. Ihr steuert mit der Spitze des Schiffes frontal auf sie zu, werdet langsamer und fahrt dem Wind abgeneigt an ihr vorbei. Wenn sie auf Höhe des Seitenfensters ist, Gas weg, aufstoppen und Anweisung geben, die Boje einzuholen.«
»Oh, wow, das ist viel. Lara, du fängst bestimmt wieder an, oder?«, sagte Nora mit einem Grinsen.
Ich nahm auf dem Fahrersitz Platz und legte Kurs auf die dänische Küste an, bis Harro rief: »Mann über Bord!«
Ich nahm das Gas weg und schlug voll ein.
»Was hast du vergessen?«
»Äh, Mann über Bord!« Ich deutete auf Nora. »Rettungsmittel bereithalten.« Danach blickte ich zu Aline. »Ausschau halten!«
Beide kicherten. Ich schipperte derweil an der Boje vorbei mit Kurs auf die Marine-Schule. »Position?«
»Schon drei Bootslängen!«, rief Aline.
»Welche Seite?«, fragte Harro.
»Steuerbord!«
Ich schlug nach Steuerbord ein und versuchte, mit der Spitze des Bootes die Boje anzupeilen.
»Langsamer«, wies Harro mich an, und ich nahm das Gas weg, doch zu spät, das Boot fuhr die Boje komplett über den Haufen.
»Ich fürchte, du hast unseren Mann umgenietet«, gluckste Nora.
Ich schaute zurück, wo das Fähnchen der Boje wieder auftauchte. »Sieht aus, als hätte er überlebt!«
Wir übten das Ganze jede dreimal, und es wurde langsam besser, auch das Gefühl für das Boot nahm mit jedem Manöver zu. Dann ordnete Harro an, den Hafen wieder anzusteuern, um das Anlegen zu üben.
»Du kannst ruhig mal ordentlich Gas geben!«, forderte er Aline auf, und sie drückte den Hebel zögerlich nach vorn.
»Oder lass mich mal!«
Aline nahm das Gas wieder weg und rutschte vom Fahrersitz. Als sie saß, gab Harro Gas – und zwar richtig. Der Bug des Bootes hüpfte auf den Wellen auf und ab, und der Motor am Heck pflügte eine dicke Schneise ins Wasser. Wir schauten uns an und grinsten.
Es tat wirklich gut, den Kopf mal um etwas anderes zu wickeln als um den Laden, Snørre und meine Schwester. Es fühlte sich an, wie Aline immer sagte: Auf dem Wasser war man frei, alles andere war weit weg, und genauso empfand ich es in diesem Moment. Ich war froh, dass die Mädels mich zu diesem Führerschein überredet hatten. Egal, ob ich ihn am Ende bestand oder nicht.
Harro erreichte die Einfahrt zum Sonwiker Hafen und verlangsamte das Tempo. »Im Hafen fahrt ihr im Standgas. Ich zeige euch einmal, wie das Anlegemanöver funktioniert.«
Ich richtete mich auf, um einen besseren Überblick zu haben, als Harro erklärte, was er wann machte.
»Dann zieht es euer Heck von ganz allein an den Anleger«, schloss er schließlich. »Abgelegt wird dann rückwärts.« Nachdem er uns auch das Wenden auf engem Raum gezeigt hatte, fing ich an.
»Nicht zu dicht an das Segelboot, denk dran, dein Heck schwenkt gleich rechts aus.« Hoch konzentriert versuchte ich, alles so zu machen, wie Harro es uns gezeigt hatte. Mit einiger Unterstützung gelang es mir tatsächlich einigermaßen.
»Gleich nochmal!«, ordnete Harro an.
Eine Stunde später konnten wir recht passabel anlegen.
»Gut, dann wieder raus aus dem Hafen, wir üben nochmal ›Mann über Bord‹, anschließend legt ihr alle ein letztes Mal an – und dann besteht ihr die Prüfung mit links.«
»Wenn es da nicht noch die Theorie gäbe«, murmelte ich.
»Ach, wenn du die praktische hast, hast du zumindest schon mal die Hälfte. Zur Not wiederholst du die Theorie, ist doch nicht schlimm. Oder du schiebst noch eine Nachtschicht ein.« Harro stieß mich lachend mit dem Ellenbogen an. »Dann bringe uns mal raus!«
Er ging solange nach hinten, wo er sich eine Zigarette ansteckte.
»Macht Spaß, oder?«, fragte Nora. »Stellt euch vor – wir im Sommer mit dem Boot! Wir können die ganze Küste entdecken.«
»Und auf dem Weg stoppen wir bei den Ochseninseln und holen uns einen Hotdog bei Annies«, warf Aline ein.
»Hoffentlich verträgt Snørre das Bootfahren«, warf ich ein. »Ich brauche eine Schwimmweste für ihn!«
»O ja, wie niedlich er damit aussehen wird!«, freute sich Aline. Nora hingegen sah mich seltsam an.
»Was ist?«, fragte ich.
»Meinst du denn, deine Schwester ist bis dahin noch nicht wieder da?«
Und plötzlich sackte mir das Herz in den Magen, zumindest fühlte es sich an, als triebe ein glühender Klumpen in meinem Bauch umher. Hatte ich es bisher weitestgehend vermieden, darüber nachzudenken, wurde mir nun klar, dass ich Snørre dann wieder abgeben musste, und der Gedanke behagte mir überhaupt nicht mehr.
Ich lächelte Nora unsicher an, zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster, hinaus auf die Förde, wo an diesem Januartag nur wenig Betrieb war.
Harro kam wieder rein, als seine Kippe aufgeraucht war. Kalter Nikotingeruch hing an ihm.
»Na, dann man los! Wer wirft die Boje rein?«
Wir übten das Manöver noch einige Male, bis Harro nur noch lobende Worte für uns übrig hatte.
Mit einem guten Gefühl kehrten wir zurück zum Hafen, und als wir von Bord gingen und uns verabschiedeten, wünschte uns Harro viel Glück für die Prüfung.
»Danke fürs Beibringen!«, rief Nora noch, als wir schon bei den Treppen angekommen waren, wo bereits die nächsten Schülerinnen bereitstanden. Es war die Schlaghosen-Fraktion.
»Mädels, ich gehe jetzt lernen, mich hat’s gepackt – ich will das schaffen!«, sagte ich zu Nora und Aline.
Wir verabschiedeten uns voneinander.
Beim Laden angekommen begrüßten mich meine Mutter und Snørre freudig. »Wie war es?«, erkundigte sie sich, während ich Snørre kraulte.
»Gut, aber auch anstrengend. Jetzt muss ich noch gewaltig Theorie pauken, damit ich morgen eine Chance habe, das Ganze zu bestehen.«
»Soll ich bleiben, damit du lernen kannst?«
Kurz überlegte ich. »Das wäre gut, wenn es dir nichts ausmacht … Schließlich musst du morgen wieder einspringen.«
»Das mache ich gern. Manchmal tut es mir wirklich leid, dass wir so häufig unterwegs sind und ich dir nicht mehr unter die Arme greifen kann. Aber wenn ich schon da bin, helfe ich mit Freuden. Ich liebe das Hygge Up schließlich auch.« Sie zwinkerte mir zu.
»Prima, dann gehe ich jetzt mit Snørre eine Runde und anschließend verziehe ich mich nach hinten und lerne dort.«
Zwei Stunden später rauchte mir der Kopf, aber immer häufiger lieferte ich fehlerfreie Fragerunden ab. Das ließ meine Hoffnungen stetig steigen – wenn da nicht die Navigationsaufgaben gewesen wären … Daran wollte ich mich nach Ladenschluss machen.
Nach einer Kaffeepause kurz vor achtzehn Uhr nahm ich meine Unterlagen mit nach vorn an den Tisch, an dem ich schon mit Aline und Nora gelernt hatte. Da war es einfach gemütlicher als hinten. Ich entzündete ein paar Kerzen und stellte leise Musik an.
»Ich glaube, ich habe ganz gut verkauft«, sagte meine Mutter und erzählte mir, was heute alles weggegangen war.
»Wenn du einen Job brauchst, sag Bescheid«, scherzte ich.
»Hast du was von Linn gehört?«, erkundigte sie sich.
»Nein, und ehrlich gesagt habe ich jetzt auch nicht die Energie, darüber zu reden.«
»Das verstehe ich. Ich bin auch schon weg. Ich hole Snørre und den Ladenschlüssel morgen früh bei dir ab.«
»Danke, das ist wirklich lieb. Ich lege den Schlüssel in die Küche und gehe auf jeden Fall vorher mit Snørre raus. Einen Wohnungsschlüssel hast du ja, oder?«
»Ja, den habe ich. Dann toi, toi, toi für morgen!« Sie drückte mich an sich. »Ich bin stolz auf dich.«
»Ich glaube, es heißt Mast- und Schotbruch«, erwiderte ich schmunzelnd.
»Was?«, fragte sie irritiert.
»Na, ›viel Glück‹ in Seemannssprache.«
»Ach so! Na dann Mast- und Schotbruch!« Sie lachte, als sie zur Tür ging und in den dunklen Hof hinaustrat.
Ich schloss hinter ihr ab und vertiefte mich in die Navigationsaufgaben, während Snørre zu meinen Füßen eine Kaustange zerlegte. Die erste bekam ich recht gut hin, da ich sie bereits kannte.
Dann hakte es immer mehr, und ich linste alle paar Minuten in die Lösungen. Als es am Fenster klopfte, zuckte ich zusammen. In der schwachen Außenbeleuchtung stand Hendrik und deutete zur Tür. Seufzend erhob ich mich und öffnete.
»Hey«, begrüßte ich ihn.
»Ich wollte gerade nach Hause, da habe ich dich hier sitzen sehen. Alles okay? Lernst du für morgen?« Er deutete auf den Tisch, wo das Navigationsbesteck verteilt lag.
»Ja, die Fahrstunde heute lief gut, und nun will ich unbedingt bestehen.«
»Soll ich dir helfen?«
»Nein, geht schon. Ich komme zurecht.«
»Das weiß ich, aber ich helfe dir gern, und ehrlich gesagt sind mir die Navigationsaufgaben am liebsten.«
Ich stöhnte. »Wie bist du denn drauf?«
»Komm, ich gebe dir etwas von meiner Begeisterung dafür ab«, sagte er grinsend.
»Na, das wäre so, als ob du einem Fisch das Leben auf dem Land schmackhaft machen willst.«
Er hatte begonnen, den Reißverschluss seiner Jacke zu öffnen, und hielt mittendrin inne. »So schlimm?«
»Na ja, also mit Taschenrechner und meinen Notizen würde ich es hinbekommen.«
Hendrik zog sich einen Stuhl vom Tisch. »Ah, das schriftliche Multiplizieren und Dividieren – ja, das ist lange her. Aber mein Neffe hat in der Schule eine neue Methode, halbschriftlich nennt die sich, und ich finde die einfacher.«
»Kerrin hat schon ein Kind?«
»Nein, ich habe außer ihr noch zwei weitere Geschwister. Es ist der Sohn meines älteren Bruders.«
»Wow, vier Kinder. Ich schätze, meine Eltern hatten nach uns Zwillingen keine Lust mehr auf weitere. Möchtest du einen Kaffee?«
»Da sag ich nicht nein.«
Mit zwei Bechern setzte ich mich Hendrik gegenüber vor meine ausgebreiteten Notizen und schob einen Becher in seine Richtung.
»Danke. Also, wo hakt es?«
»Den rechtsweisenden Kurs oder den magnetweisenden Kurs kann ich ermitteln. Die Besteckversetzung kapiere ich nicht ganz. Oder diese Frage: Auf welcher Position befindet sich das Schiff nach Koppelort um 11:54 Uhr?«
»Die Besteckversetzung ist ganz einfach …«
»Wenn man etwas kann, ist es immer einfach«, neckte ich ihn, als er sich über den Tisch zu mir vorbeugte.
»Was dagegen, wenn ich mich zu dir auf die Bank setze? Auf dem Kopf zu lesen ist wohl keine meiner Stärken.«
»Und das als Tätowierer? Auweia!« Ich schmunzelte, rückte aber gleichzeitig ein Stück zur Seite.
»Ich mache nur selten etwas komplett freihändig.«
»Hast du dich schon mal verstochen?«
»Joa, ist schon vorgekommen«, sagte er, und ich glaubte, einen Hauch Rot auf seinen Wangen wahrzunehmen. »Aber ich konnte es immer retten. Hat also niemand bemerkt.« Er zwinkerte, und mein Herz tat unerwartet einen extra Schlag. Konzentration, Lara !, ermahnte ich mich selbst und lächelte unsicher, ehe ich meinen Blick auf die Unterlagen heftete.
»Bei der halbschriftlichen Multiplikation gehst du so vor …« Er notierte eine Aufgabe und erklärte mir die einzelnen Schritte. Ich versuchte, mich nicht von seiner Nähe ablenken zu lassen, von seinem Geruch, und auch nicht von dem kleinen Tattoo hinter seinem rechten Ohr, was mir schwerfiel. Das wiederum verwirrte mich. Was ging hier vor sich? Es musste an dem mitreißenden Liebesroman liegen, den ich gerade las, in dem es um eine verhinderte Liebe ging, die auch nach zehn Jahren noch ungebrochen war – so als könne nichts die Gefühle der beiden löschen. Ich verscheuchte die Romanhelden aus meinen Gedanken. So lief das im echten Leben wohl leider nur selten bis gar nicht.
Eines stand auf jeden Fall fest: Dank Hendriks Hilfe würde ich in Zukunft nie wieder einen Taschenrechner brauchen. Als Nächstes erklärte er mir die Besteckversetzung. Als ich den Zirkel ansetzte, legte er seine Hand über meine und korrigierte die Position. Mein Blick fiel auf unsere übereinanderliegenden Hände, und ich schluckte. Hendrik zog seine Hand wieder zurück, doch auf meiner Haut kribbelte seine Berührung deutlich nach.
»Verstanden?«, fragte er.
»Nee«, antwortete ich und wusste nicht, ob ich damit die Besteckversetzung oder meine Reaktion auf seine Berührung meinte.
Als ich kurz vor Mitternacht häufiger blinzeln musste, um nicht einzuschlafen, warf ich den Stift vor mir auf den Tisch. »Das muss reichen!«
»Du schaffst das morgen, bis auf ein paar kleine Unsicherheiten, hast du es drauf«, beruhigte Hendrik mich.
»Na ja, das hier ist ja nur ein Part – obwohl es bei den Ankreuzfragen tatsächlich zum Schluss auch einigermaßen lief.«
»Sitzen die Knoten?«
Ich stöhnte unterdrückt auf. Die hatte ich völlig vergessen.
Hendrik lachte und zog das blaue Übungsseil unter meinen Unterlagen hervor. Die nächsten dreißig Minuten übten wir die Knoten, wobei Hendrik des Öfteren nach meinen Händen griff, um mich zu korrigieren. Im Gegensatz zu mir schien das bei ihm keine körperlichen Reaktionen hervorzurufen. Vielleicht sollte ich mich doch mal wieder auf Tinder anmelden?, dachte ich. Ich schien irgendwie … bedürftig.
»Von oben durchstecken, nicht von unten«, sagte Hendrik, und ich befolgte die Anweisung rasch, bevor er erneut korrigierend eingreifen konnte.
Snørre, der die letzten Stunden in seinem Körbchen geschlafen hatte, wurde wieder munter und sprang zu uns auf die Bank und beendete dadurch schließlich die Übungen. Er kletterte über Hendrik und quetschte sich zwischen uns.
Hendrik schmunzelte. »Meine Oma hatte einen Pudel, als wir Kinder waren, der ist auch ständig auf dem Schoß herumgekrabbelt.«
»Den Namen Schoßhund haben sie sich wohl verdient.«
»Leider impliziert der, dass ein Pudel nicht mehr braucht als menschliche Gesellschaft. Dabei sind sie so schlau und sensibel. In meinen Augen eine völlig verkannte Hunderasse. Aber laut meiner Schwester sind Pudel oder Pudelkreuzungen heute so beliebt wie noch nie. Hoffentlich schadet das der Rasse nicht, und sie bleibt so ursprünglich, wie sie ist. Wusstest du, dass sie von französischen Jagdhunden abstammen? Das hat meine Oma immer erzählt, um zu entschuldigen, dass er sich im Garten auf Vogeljagd begeben hat.«
»So was meinte mein Opa schon. Jagdtrieb hat Snørre auf jeden Fall auch, aber nicht sehr ausgeprägt. In der Hundeschule ist ein Dackel, und seine Besitzerin kann ihn gar nicht von der Leine lassen, der ist sofort weg.«
»Gefällt es dir bisher bei Kerrin?«
»Sehr – es macht echt Spaß, und ich lerne eine Menge. Nochmal danke für den Tipp.«
Für einen Moment sagte keiner von uns was. Ich dachte vielmehr daran, wie sehr sich alles in den letzten Wochen verändert hatte.
»Hör zu, Hendrik, es tut mir nicht nur leid, dass ich Vorurteile eurem Laden gegenüber hatte. Ich hatte sie auch dir gegenüber, wegen früher.« Ich blickte zu Snørre und kraulte ihn. Hendrik hatte zur selben Zeit dieselbe Idee, und unsere Hände stießen gegeneinander. Wir schauten auf. »Sorry«, murmelte er und zog seine Finger zurück. »Wieso wegen früher, wegen der Sache mit Linn?«
»Ja, auch … ich habe dich wohl einfach immer mit meiner Schwester und ihrem chaotischen Leben in Verbindung gebracht.« Damit sagte ich nur die halbe Wahrheit. Zu gern hätte ich ihn damit konfrontiert, was er zu Linn über mich gesagt hatte. Ihm erzählt, dass ich davon wusste. Doch seit Tom es mit Schubsen auf dem Schulhof verglichen hatte, fühlte es sich an, als sollte das alles längst verjährt sein. Ich hatte beschlossen, es zu vergessen. Wieso empfand ich es dennoch so, als stünde es zwischen uns?
»Ich muss ja einen verdammt schlechten Eindruck bei dir hinterlassen haben. Mein Verhalten Linn gegenüber war nicht okay, aber ich war ehrlich zu ihr, und ich hoffe, du bringst mich heute nicht mehr nur mit ihr in Verbindung.«
Ehrlich war er wohl zu ihr gewesen, zumindest in Bezug auf mich, den Rest konnte ich nicht beurteilen.
»Ja, lassen wir es gut sein. Jetzt sehe ich dich als netten Nachbarn, der mir ständig ungefragt zu Hilfe kommt.« Ich grinste, bevor mir plötzlich Tränen in die Augen stiegen, doch ich blinzelte sie rasch weg. In letzter Zeit benötigte ich verdammt häufig Hilfe, dabei hatte ich doch sonst immer alles bestens im Griff gehabt. Hendrik drehte seinen Kopf zu mir und sah mich lange an, und auch wenn ich seinen Blick nicht erwiderte, spürte ich ihn auf meiner Haut.
»Wir sollten nach Hause gehen, es ist spät«, sagte ich schließlich und räumte das Navigationsbesteck zusammen.
Hendrik brachte die Kaffeebecher nach hinten und schlüpfte anschließend in seine Jacke. Kurze Zeit später schaltete ich das Licht aus, und wir verließen durch die Hintertür den Laden.
»Gute Nacht und bis morgen!«, sagte ich.
»Gute Nacht … und Lara? Ich habe dich schon immer unabhängig von deiner Schwester gesehen.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn und hätte am liebsten gefragt, wie er das meinte und warum er das sagte, doch da setzte er sich schon seinen Helm auf und schmiss das Motorrad an, das laut in der kalten Nachtluft röhrte.
»Bis morgen«, murmelte ich und lief mit Snørre nach Hause.