Freddy begrüßte uns vor der Jugendherberge und teilte uns in zwei Gruppen auf. Die eine Hälfte, zu der wir und Hendrik sowie die Schlaghosenfraktion zählten, sollte zunächst runter zum Hafen, um dort die praktische Prüfung zu absolvieren. Die anderen schrieben in der Zeit die theoretische, im Anschluss tauschten wir.
Nora, Aline und ich schlenderten als Schlusslicht unserer Gruppe zum Hafen. Eines der Mädels, die heute nicht auf Schlaghose, sondern auf zerrissene Feinstrumpfhosen setzte, bei deren Anblick ich fröstelte, ließ sich zurückfallen, bis sie neben Hendrik lief. »Du bist doch der Hendrik von ArtFactory, oder?«
»Ja, genau«, antwortete Hendrik.
Die junge Frau strahlte. »Ich habe nächsten Monat einen Termin bei dir, ich möchte mir einen Schriftzug aufs Schlüsselbein tätowieren lassen.«
»Cool, weißt du schon was?«
Missmutig verzog ich den Mund. Die taten ja gerade so, als sei Hendrik ein Rockstar. Genervt verdrehte ich die Augen.
»Alles klar?«, fragte Nora mich.
»Hm? Ja, ich habe gestern noch bis Mitternacht gelernt. Ich hoffe, das hat gereicht.«
»Wird es schon! Und zur Not machst du eben die Theorie nochmal, wie Harro gesagt hat. Aber die Praxis bestehen wir jetzt erst mal alle. Wer will anfangen?«
»Wenn es euch nichts ausmacht, fange ich an. Bei Prüfungen bin ich immer schrecklich nervös, und ich will es schnellstmöglich hinter mich bringen«, meldete sich Aline links von mir zu Wort.
»Du schaffst das«, versicherte Nora ihr. »Lass uns nochmal alle Manöver in der Theorie durchgehen.«
Bis zum Anleger waren wir damit beschäftigt.
»Knoten sitzen alle?«, fragte Aline abschließend und sah mich und Nora an.
Ich nickte und dachte daran, wie Hendriks Hände meine berührt hatten, als er mir den doppelten Schotstek gezeigt hatte. Ich schaute mich nach ihm um. Miss Strumpfhose stand wieder bei ihren Freundinnen, und Hendrik quatschte mit zwei jungen Typen, die gemeinsam mit ihrem Vater den Schein machten. Als er meinen Blick auffing, zwinkerte er mir zu und kam kurz darauf zu uns.
»Und? Konntest du diese Nacht noch schlafen oder hast du durchgelernt?«
»Ich hab geschlafen, hätte ich durchgemacht, könnte ich heute nicht mal mehr Backbord von Steuerbord unterscheiden«, scherzte ich.
»Du packst das, nur unbedingt genau zeichnen. Das wären sonst unnötig verschenkte Punkte, wenn man es eigentlich richtig hat und dann um ein oder zwei Grad daneben liegt.«
»Der Stift ist schon angespitzt.«
»Wenn wir alle bestehen, stoßen wir heute Abend darauf an, oder?«, erkundigte sich Aline, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute.
»Klar, Bent und ich haben dieses Wochenende beide frei. Lara, kannst du Snørre bei deinen Eltern lassen?«, fragte Nora.
»Ich denke schon.«
»Leute – bitte näher kommen und zuhören!«, rief der Prüfer. »Ihr absolviert die Prüfung in den Gruppen, in denen ihr auch bei der Fahrstunde draußen wart. Macht die Reihenfolge untereinander aus. Wir beginnen dann zunächst mit den Knoten. Denkt dran, wer die nicht schafft, braucht den Rest gar nicht mehr zu machen.«
»Wie aufmunternd«, murmelte ich.
»Pro Gruppe rechnen wir mit circa 30 Minuten auf dem Wasser. Wer will zuerst?«
Die Schlaghosenfraktion riss ihre Hände hoch.
Die drei Frauen begaben sich zum Prüfungsboot, während wir uns oben über das Geländer an der Kaimauer lehnten und zusahen, wie sie ihre Knoten knüpften. Die mit den langen Dreadlocks verhedderte sich einmal beim Palstek, aber im zweiten Anlauf schaffte sie es. Schließlich begab sich Miss Feinstrumpfhose zum Steuer. Während ich ihr zusah, ging ich alle Handgriffe zum Ablegen noch einmal selbst durch.
»Warst du nicht eigentlich in der Gruppe bei den Mädels?«, fragte ich Hendrik, als das Boot unterwegs war.
»Zuerst ja, aber am Donnerstag war es zeitweise zu windig, und es wurde einiges verschoben. Weil mir die neue Uhrzeit nicht passte, wurde ich einer anderen Gruppe zugeteilt.«
»Ach so«, antwortete ich. Das hatte den Mädels bestimmt nicht gefallen.
Es dauerte tatsächlich kaum 30 Minuten, bis das Prüfungsboot wieder in den Hafen gefahren kam. Anhand der strahlenden Gesichter war klar erkennbar, dass die drei bestanden hatten.
Als Nächstes ging Hendrik mit zwei älteren Herren an Bord. Die Knoten gingen ihnen leicht von der Hand, und schon waren sie auf dem Weg auf die Förde hinaus. Alle bestanden die Prüfung.
»Viel Glück«, sagte Hendrik, als wir nach ihm an Bord gingen. Mit feuchten Händen, trotz der kalten Luft, streiften wir uns die Rettungswesten über.
»Lara Martens?«, rief der Prüfer.
Ich hob die Hand.
»Einmal den Palstek, bitte.« Er deutete zur Reling, um die das Tau gelegt war.
Mit leicht zittrigen Fingern gelang es mir auf Anhieb, ihn zu knoten.
»Wofür wird der verwendet?«
»Zum Befestigen an einem Ring oder einem Pfahl.«
»Dann bitte noch den Kreuzknoten und seine Verwendung.« Während ich ihn knotete, ging ich im Kopf das Bild mit dem Baum und der Schlange durch. »Damit kann man zwei gleich starke Seile verbinden.«
»Super. Die Nächste, bitte. Aline Räuber.«
Meine Cousine knotete souverän den Kreuzknoten und den Achterknoten. Als sie fertig war, schlugen wir uns ab.
»Nora Köhler, zeig uns den Schotstek und den Palstek.«
Beim ersten Versuch verhedderte sich Nora einmal. Ich drückte beide Daumen fest auf die Zeigefinger. Das schaffst du, feuerte ich sie in Gedanken an.
Im zweiten Anlauf saß der Knoten und der nächste ebenfalls. Danach sollte Aline ablegen. Wir absolvierten alle Manöver wie eine eingespielte Crew, retteten die Boje dreimal souverän, und dann legten Nora und ich noch beide einmal an. Der Prüfer schien zufrieden.
»Alle bestanden! Dann mal auf zur Theorie.«
Erleichtert und lachend stiegen wir von Bord und liefen hoch zur Jugendherberge. Im dortigen Snackautomaten zogen wir uns erst mal M&M’s und kauften uns eine Cola.
Die Theoriegruppe hatte sich laut schnatternd im Eingangsbereich zerstreut – sie waren offenbar fertig. Ihre Bögen wurden nun kontrolliert, dann erhielten sie Bescheid.
Einige Zeit später kam einer der Prüfer und verkündete, dass alle bestanden hatten. In der Zwischenzeit waren auch die Letzten aus der Praxisgruppe eingetroffen – auch sie hatten bestanden.
Nun waren wir mit der Theorie dran. Nervös nahm ich an einem der Tische im Schulungsraum Platz – wir mussten jeweils allein sitzen. Ich legte mir alles, was ich benötigte, zurecht. Der Prüfer teilte die Bögen aus. Ich schaute nochmal nach rechts, wo Hendrik saß. Er reckte den Daumen nach oben. Dann konzentrierte ich mich auf die Fragen. Mein Plan war es, erst die Aufgaben zum Ankreuzen durchzugehen und als Letztes die Navigationsaufgabe zu lösen.
Zu jedem Themengebiet gab es zwei Fragen. An die meisten erinnerte ich mich und fand schnell die korrekte Antwort. Bei einigen musste ich das Ausschlussverfahren anwenden, und hin und wieder riet ich schlichtweg. Danach atmete ich erst mal durch, schaute kurz nach links und rechts. Hendrik zeichnete bereits, Nora und Aline schienen gerade die Navigationsaufgabe zu lesen. Ich senkte meinen Blick wieder auf den Prüfungsbogen.
Ein Sportboot befindet sich am 23. 05. 2022 in der Deutschen Bucht auf der Fahrt aus der Jade nach Langeoog. Um 13:30 Uhr wird die Tonne »1b/Jade 1« nahebei passiert. Die Fahrt über Grund wird mit 6 kn angenommen.
Okay, wenn mich nicht alles täuschte, war das Nr. 3 aus dem Übungsbogen. Die hast du gestern noch gelöst, Lara, feuerte ich mich selbst an und las weiter. Entnehmen Sie der Seekarte die geografische Position des Sportbootes um 13:30 Uhr.
Ich griff zum Geodreieck. »Nahebei« bedeutete, dass das Boot genau die Position der Tonne hatte, die es nahebei passierte. Das verwirrte mich jedes Mal, weil für mich nahebei eben nahebei war. Aber gut – ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich suchte die Tonne und legte das Geodreieck so an, dass ich die Position auf dem Längen- und im Anschluss auf dem Breitengrad ablesen konnte. Hendriks Worte klangen mir dabei im Kopf, und ich versuchte, meine Striche so genau wie möglich zu setzen. Ich notierte das Ergebnis und las die nächste Aufgabe durch.
Von dieser Tonne aus wird der Kurs auf die Tonne »Accumer Ee« abgesetzt. Tragen sie den Kurs in die Seekarte ein.
Das war leicht, ich suchte die Tonne, setzte das Geodreieck und den Stift an und zog eine Linie zwischen beiden Tonnen.
Die nächste Frage war einfach. Wie lautet der rwK? Die Formel für den rechtsweisenden Kurs kannte ich inzwischen im Schlaf. Ich versank völlig in der Aufgabe und hatte sogar ein wenig Spaß dabei. Glücklicherweise blieben mir größere schriftliche Rechnungen erspart, sodass ich als Letztes die Farbe, Kennung und das Toppzeichen der Tonne Accumer Ee beschrieb. Danach legte ich den Stift zufrieden zur Seite. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass schon einige gegangen waren. Hendrik saß nicht mehr an seinem Platz, Nora auch nicht. Aline und ich gaben zeitgleich ab.
»Und?«, fragte sie.
»Lief ganz gut. Und bei dir?«
»Auch, denke ich – ich wusste alles.«
Wir stiegen die Treppe aus dem Untergeschoss hoch, wo wir auf die anderen trafen. Aufgekratzt redeten alle durcheinander und fragten gegenseitig die Ergebnisse ab.
»Ich brauche noch mehr Schoki«, verkündete ich schließlich, trat an den Snackautomaten und zog mir eine weitere Packung M&M’s.
Kaum hatte ich die Tüte aufgerissen und mir eine Handvoll in den Mund gestopft, kam der Prüfer um die Ecke. »Ich mache es kurz und schmerzlos …«
Mein Herzschlag nahm an Fahrt auf, und ich schluckte etwas umständlich die Schokoladen-Nuss-Mischung hinunter.
»Alle haben bestanden! Super Truppe!«
Erleichtertes Raunen ging durch die Reihen.
»Bestanden!«, rief Nora und umarmte erst Aline, dann mich.
»Wir sind so gut«, murmelte meine Cousine in mein Ohr, als wir uns auch umarmten.
»Das hätte ich echt nicht für möglich gehalten! Aber zumindest war dann die Lernerei nicht umsonst, nochmal hätte ich mich damit nicht gequält.« Ich lachte. »Vielen Dank fürs Unterstützen, ohne euch und Hendrik hätte ich das nicht geschafft.«
»Ohne Hendrik?«, fragte Nora mit neugierigem Blick.
»Was ist mit mir?«, fragte selbiger und drehte sich zu uns um.
»Ohne dich hätte ich es nicht gepackt«, wiederholte ich.
»Dabei haben wir die Besteckversetzung gar nicht benötigt.«
»Und das halbschriftliche Dividieren und Multiplizieren auch nicht.« Ich kicherte.
»Ist Wissen fürs Leben, behauptet mein Bruder immer, wenn sein Sohn fragt, warum die nur so einen Blödsinn in der Schule lernen.«
»Stimmt, wo du es sagst! Mir ist echt nicht klar, wie ich bisher ohne leben konnte.«
Nora und Aline hatten unserer Unterhaltung interessiert gelauscht. Jetzt fragte meine Cousine: »Hendrik, wir treffen uns heute Abend in der Brauerei, um auf den Führerschein anzustoßen. Hast du nicht auch Lust zu kommen?«
»Warum nicht? Du meinst die Brauerei, die Laras Vater und deinem Freund gehört, oder? Er hat mich an Silvester schon eingeladen, mal vorbeizuschauen, aber ich habe es bisher nicht geschafft. Das letzte Mal war ich vor zehn Jahren dort. Es soll sich seitdem einiges getan haben.«
»Na, dann ist das doch die beste Gelegenheit. Um sieben?«
Hendrik nickte. »Dann bis später.« Er hob die Hand zum Gruß, als der Prüfer ihn aufrief und er nach vorn ging, um seinen Schein in Empfang zu nehmen.
»Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich ihn eingeladen habe?«, erkundigte sich Aline bei mir. »Aber ich dachte, wenn du mit ihm zusammen lernst, hast du sicherlich nichts dagegen.«
»Klar, kein Problem.«
»Freut mich, dass ihr jetzt gut miteinander auskommt. Hendrik scheint echt in Ordnung zu sein. Hast du ihn mal wegen damals angesprochen?«
»Ja, er ist in Ordnung«, gab ich zu. »Und nein, ich habe beschlossen, die Sache abzuhaken. Letztlich müssen wir ja nur einigermaßen miteinander auskommen.«
Aline nickte nachdenklich.
»Und er ist ein Schnittchen«, warf Nora ein, die sich mal wieder auf den völlig falschen Aspekt bei der ganzen Sache konzentrierte.
»Definitiv«, bestätigte Aline prompt.
Sie sahen mich beide erwartungsvoll an, und ich steckte mir zur Ablenkung erst mal eine weitere Handvoll M&M’s in den Mund. So konnte ich zumindest nichts Dummes sagen.
»Lara Martens«, ertönte mein Name.
»Komme!«, nuschelte ich mit vollen Wangen und zerkaute die M&M’s auf dem Weg zum Prüfer im Eiltempo.
»Herzlichen Glückwunsch, und Mast- und Schotbruch!« Er überreichte mir meinen Schein.
»Danke schön!«
Nora und Aline waren nach mir dran, als wir alle unsere Führerscheine in den Händen hielten, machten wir ein Selfie von uns dreien.
»Ich habe ja noch Schoki am Mund«, stellte ich fest, als ich das Foto meiner Mutter senden wollte.
»Sieht doch süß aus – zum Anbeißen.« Nora kicherte, und ich stimmte mit ein und teilte das Foto im Anschluss auch noch in meiner Instagramstory.
Aline und Nora schickten es ihren Freunden, und da verspürte ich ihn plötzlich wieder, diesen Wunsch, auch jemanden zu haben, dem ich es senden konnte. Niemandem aus der Verwandtschaft, sondern jemandem, der zu mir gehörte, weil wir uns dafür entschieden hatten, weil wir einander gefunden hatten und einander liebten. Diese eine Person aus 80 Millionen, wie Max Giesinger es in seinem Song besang. Oder von mir aus auch der Eine aus acht Milliarden. Doch wie sollte er mich finden? Nicht umsonst beschrieb der Text wohl, wie unwahrscheinlich es ist, denjenigen zu begegnen. Die Zeile »Die Chance, dass wir beide uns treffen ging gegen null und doch stehen wir jetzt hier« ging mir durch den Kopf.
Unterdrückt seufzte ich und schob das Gefühl beiseite.