Kapitel 23

Ich schob die Tür zur Brauerei auf und hielt mich links, um in die Bar zu gelangen, die mein Vater und Tom vor einigen Jahren vom Konzept und der Einrichtung her neu ausgerichtet hatten. Ich liebte es, dass sie den Charme des alten Industriegebäudes stärker hervorgehoben hatten. Die Wände waren rau verputzt, und stellenweise war sogar das rote Mauerwerk sichtbar.

Ich entdeckte meine Freunde an einem Tisch vor den großen Fenstern. Sie zeigten zum Außenbereich, der sich um diese Jahreszeit in der Winterruhe befand. Auf dem Weg dorthin winkte ich Dana zu, einer der Aushilfen hinter dem Tresen.

»Da bist du ja«, flötete Nora. »Setz dich!«

Neben Aline und Tom, Nora und Bent war auch Toms Kumpel Sören da. Ich begrüßte alle und hängte anschließend meinen Mantel über einen der Stühle.

»Wollt ihr auch was essen? Ich habe richtig Kohldampf.«

»Geht mir genauso, Gerald hat zwar heute frei, aber der neue Aushilfskoch ist auch gut. Seine Pasta mit dem selbst gemachten Pesto ist fantastisch«, erklärte Tom, und Aline nickte zustimmend.

Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, in dem es schon gewaltig grummelte. Mit dem Rücken zur Tür gewandt studierte ich die Speisekarte, und dennoch nahm ich es wahr, als Hendrik den Raum betrat. Alines Blick, der sich eine halbe Sekunde später über meine Schulter in seine Richtung hob, bestätigte es mir.

»Moin«, grüßte er, als er zu uns an den Tisch trat. Er setzte sich auf den freien Stuhl am Tischende rechts von mir. Nach ein paar Begrüßungsfloskeln orderten wir endlich das Essen und gleich ein Bier dazu. Hendrik ließ sich von Tom überreden, den Haustrunk zu probieren – ein Bier, das ich nicht mochte. Aber mein Vater und Tom schworen darauf.

»Ist echt toll geworden, die ganze Aufmachung der Brauerei hat sich verändert«, stellte Hendrik fest, nachdem er sich ausführlich umgeschaut hatte. Wir sprachen noch eine Weile über die Veränderungen, und dann erzählte Aline uns vom aktuellen Stand in Bezug auf ihren Comic. »Nächste Woche fahre ich für zwei Tage nach München zum Verlag, und wir besprechen den Titel und das Cover-Design«, berichtete sie stolz.

Während ich dasaß und den anderen zuhörte, fing ich Hendriks Blick auf und lächelte. Doch als ich danach weiter zu Nora schaute und den Ausdruck in ihrem Gesicht sah, fühlte ich mich ertappt, und mir wurde schlagartig bewusst, dass wir fast wirkten wie bei einem Pärchen-Treffen. Warum hatten wir nicht noch mehr Leute vom Kurs eingeladen? Zum Glück war zumindest Sören da. Ich griff zu meiner Serviette und drehte eine der Ecken zwischen meinen Fingern.

»Und mir hat sie auch einen eigenen Comic gezeichnet«, sagte Tom derweil und schwellte die Brust dabei fast so stark, wie Mister Superbrewer in Alines Comic. Unwillkürlich schmunzelte ich, und gleichzeitig ging mir das Herz auf, weil all diese wichtigen Menschen in meinem Leben momentan so glücklich waren.

»Cool, hast du Bilder davon auf dem Handy?«, fragte Hendrik. Aline und Tom scrollten durch die Bildergalerien ihrer Telefone, und Tom hielt ihm seines als Erster unter die Nase.

»Mega – wenn die Geschichte in Druck geht, will ich ein Exemplar haben.«

Tom steckte sein Handy wieder ein. »Ich habe darüber nachgedacht, mir Mister Superbrewer tätowieren zu lassen. Ich war auch schon bei dir im Studio deswegen, aber da warst du gerade in einem Termin, und ich habe nur kurz mit Sven geschnackt.«

Ich sah, wie gerührt meine Cousine war, ihre Augen glänzten verdächtig.

»Wäre auf jeden Fall ein cooles und einzigartiges Tattoo.«

»Und der ultimative Liebesbeweis von euch beiden!« Nora schien hellauf begeistert. Tom griff nach Alines Hand. Die zwei waren einfach füreinander geschaffen, kein Wunder, das es bei ihnen auf Anhieb gefunkt hatte.

»Kommen bei dir eigentlich häufig Paare, um sich dasselbe Tattoo stechen zu lassen, oder den Namen des anderen?«, fragte Bent.

»Oft nicht, aber es kommt von Zeit zu Zeit vor. Meistens sind es allerdings Tattoos, deren Verbindung oder Bedeutung nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar sind. Also kein Herz mit dem Namen des anderen.«

»Und wie lange dauert es im Schnitt, bis die Leute wiederkommen, um es sich überstechen zu lassen?«, fragte ich mit einem leicht spöttischen Ton in der Stimme.

Hendriks Blick glitt zu mir. »Auch das kommt vor – aber ich glaube daran, dass viele einfach bis an ihr Lebensende glücklich mit dem Tattoo und dem Partner oder der Partnerin leben.«

Sein Gesichtsausdruck war dabei so unergründlich, dass ich die Lider senkte und den Kopf abwandte. Kurz war es still am Tisch, was aber nicht lange währte, da unser Essen gebracht wurde. In den nächsten Minuten war das Klappern von Geschirr und Besteck das vorrangige Geräusch.

Ich genoss diesen Abend mit Freunden – das hatte ich schon viel zu lange nicht mehr gemacht, und ich spürte, wie es meine Akkus auflud.

»Ist Snørre allein zu Hause?«, fragte Hendrik irgendwann.

»Er ist bei meinen Eltern – ich habe heute also unbegrenzt Ausgang«, scherzte ich.

»Gut«, sagte Hendrik schlicht und sah mich wieder mit diesem Ausdruck an, von dem ich früher immer gedacht hatte, er gelte Linn und nicht mir. Zum Beispiel als wir uns im Sommer im Pub getroffen hatten. Ich dachte an Noras Worte und schluckte. Dabei gestattete ich es mir, für ein paar Sekunden in dem Braun von Hendriks Augen zu versinken – was meinen Pulsschlag ein wenig aus seiner Ruhezone emporschnellen ließ, bevor ich mich den restlichen Nudeln auf meinem Teller widmete.

»Wie findest du den Haustrunk?«, fragte Tom quer über den Tisch.

Hendrik griff erneut zu dem Bierglas und nahm einen Schluck. »Er ist anders, etwas gewöhnungsbedürftig, aber er hat definitiv was.«

Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck hob Tom sein Glas und berichtete anschließend über die neue Sorte, an der er gerade tüftelte. Unsere Teller wurden wieder abgeräumt, und ich erhob mich, um zur Toilette zu gehen.

Als ich danach am Waschbecken stand, um mir die Hände zu waschen, trat Nora in den Raum. Sie lehnte sich neben dem Waschtisch an die Wand und sah mich an.

»Was ist?«, fragte ich lachend, weil sie so seltsam dreinschaute.

»Merkst du es eigentlich gar nicht?«

»Was genau meinst du?« Obwohl ich eine Vorahnung hatte, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln würde, gab ich mich ahnungslos.

»Na, wie er dich anschaut!«

»Du bildest dir das ein, Nora.« Ich griff zu einem der kleinen Gästehandtücher, und als meine Hände trocken waren, warf ich es in den dafür vorgesehenen Korb.

»Ich weiß, was ich sehe, und ich wusste es vom ersten Moment an, als er im Sommer beim Quizabend im Pub zu uns an den Tisch getreten ist. Und … ihr scheint euch jetzt ja auch ganz gut zu verstehen. Vielleicht solltest du dich von deiner Max-Mustermann-Traummann-Version verabschieden und in Erwägung ziehen, dass eine nicht so aalglatte Schale trotzdem einen guten Kern haben kann.«

Ich seufzte. Hätte ich ihr doch nur nie von meiner ersten großen Liebe Max erzählt. »Nora«, begann ich. »Erstens, ja, wir verstehen uns ganz gut. Mehr ist da allerdings nicht und wird es auch nie sein, ganz egal, wie du seine Blicke deutest.« Eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte Lügnerin , doch ich hielt dem Blick meiner Freundin stand. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, waren Verkupplungsversuche ihrerseits. Es reichte schon, dass ich selbst komische Reaktionen in Hendriks Nähe zeigte.

»Weißt du«, redete sie weiter, ohne auf meine Worte einzugehen, »ich habe über deine Max-Mustermann-Beschreibung nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass Hendrik sogar ziemlich viel davon mitbringt: Er hat sein Leben im Griff, besitzt einen eigenen Laden. Auf den zweiten Blick ist es fast schon erschreckend viel, aber eben erst auf den zweiten. Und wenn du immer noch mit seinen Äußerungen von damals haderst, sprich doch einfach mal mit ihm darüber. Irgendwie passt das nämlich gar nicht zu ihm und der Art, wie er dich ansieht … Aber natürlich weiß ich nicht, wie er früher war.«

Zumindest äußerlich unbeeindruckt sagte ich: »Du glaubst doch nicht, dass ich mich für die abgelegten Männer meiner Schwester interessiere.«

Noras Haltung veränderte sich, sie ließ die vor dem Bauch gekreuzten Arme sinken. »Okay, ja, das kann ich verstehen.« Sie trat neben mich, und im Spiegel sahen wir uns an, ehe ich mich abwandte und die Tür öffnete.

»Aber … Lara?«

»Hm?«

»Ich sehe nicht nur seine Blicke …«

Mein Herz vergaß vor Schreck eine Sekunde lang zu schlagen, weil ich mich ertappt fühlte. O Gott, ich hatte zu offensichtlich gestarrt. Hoffentlich hatte es sonst niemand bemerkt, vor allem Hendrik nicht! Ich gab mich erneut gelassen und verdrehte gespielt genervt die Augen, bevor ich schnell die Tür zwischen Nora und mir schloss.

Zurück am Tisch vermied ich es, Hendrik zu oft anzusehen, und vertiefte mich in ein Gespräch mit meiner Cousine.

Inzwischen hatte einer der Männer eine Runde Schnäpse geordert. Die Stimmung im Lokal wurde generell lauter und ausgelassener.

»Prost!«, rief Tom. »Auf euren Bootsführerschein!«

Wir stießen unsere Gläser aneinander und kippten anschließend die klare Flüssigkeit hinunter. Irgendwann überredete Tom uns, mit in seine »Brauwerkstatt« zu kommen, um die neueste Sorte zu probieren, die ich bereits an Weihnachten bei meinen Eltern gekostet hatte. Hendrik, Sören und Bent waren sofort Feuer und Flamme, und wir Mädels folgten den über die Vollmundigkeit des Bieres fachsimpelnden Männern. Beim Gehen merkte ich, dass ich schon ganz schön beschwipst war. Den anderen erging es aber nicht anders. Und als Tom sich – ganz Braumeister – vor den Kessel stellte und darüber schwadronierte, was er sich bei diesem Bier gedacht hatte, lallte selbst er ein wenig. Was zur Folge hatte, dass ich unterdrückt kicherte.

»Stimmt was nicht, Lara?«, fragte er.

»Mister Superbrewer hat offenbar etwas zu viel von seinem eigenen Zaubertrank gehabt«, sagte Aline mit einem breiten Grinsen, und mein Gekicher wurde zu einem ausgewachsenen Lachanfall, mit dem ich auch Aline und Nora ansteckte.

Tom grunzte abfällig: »Frauen«, gluckste dabei aber selbst. Die anderen Jungs gaben sich Mühe, sich mit ihrem Kumpel solidarisch zu zeigen, doch das Zucken ihrer Mundwinkel verriet sie, bis sie schließlich auch lachten.

»Dann probiert halt einfach, das Bier spricht eh für sich«, brummte Tom und drückte uns allen ein Glas in die Hand.

»Ist echt lecker«, sagte ich nach einem Schluck und leckte mir den Schaum von der Oberlippe. Unbedacht schaute ich in die Runde und traf dabei auch auf Hendriks Blick, den ich doch seit dem Toilettengespräch mit Nora so erfolgreich gemieden hatte. Sofort erhöhte sich meine Körpertemperatur um mindestens ein Grad, und dazu gesellte sich eine neue körperliche Reaktion: Ein wohliger Schauer zog über meine Haut.

Schnell sah ich weiter zu Tom, der nun die Inhaltsstoffe seines Bieres aufzählte. Bio-Küstengerste war das Einzige, was ich davon registrierte. Zur Ablenkung nahm ich noch einen Schluck und im Anschluss gleich einen weiteren.

Eine Weile standen wir noch in der Pausenecke bei den Kesseln, bis jemand vorschlug, ins Max zu gehen, dem Club unweit der Brauerei.

»Da war ich ewig nicht«, sagte ich und erinnerte mich an all die Mittwochabende in der Oberstufe, an denen wir dort mit den vielen Studierenden in der Stadt gefeiert hatten.

»Dann wird es mal wieder Zeit, oder?«, sagte Bent, und Tom nickte zustimmend.

»Was ist das Max?«, fragte Nora ahnungslos.

»Ein Club, nicht weit von hier«, sagte Aline. »Ich lauf häufig daran vorbei.«

»Unten ist das Max und oben das Phono, da tummeln sich eher die Möchtegern-elitären-BW L er.«

»Dann bin ich wohl fürs Max«, sagte Aline. »Ich war ewig nicht mehr tanzen.«

Alle überlegten jetzt, wann sie das letzte Mal in einem Club waren.

»Wir waren im Sommer im Pub«, sagte Nora, »aber in einem Club war ich zuletzt vor ein paar Jahren.«

Ich gähnte unterdrückt.

»Nee, nee – du machst jetzt nicht schlapp«, ermahnte mich Aline prompt. »Wir feiern heute den bestandenen Führerschein – und zwar richtig!«

Ich war mittlerweile so angeduselt, dass meine Vernunft sich zumindest teilweise verabschiedet hatte und ich nicht mehr daran dachte, wie ich mich nach einer Party-Nacht fühlen würde.

»Ich sag doch gar nichts – ich bin dabei.«

»Hendrik und Sören, ihr auch?«, fragte Tom.

»Nee, ich bin erledigt, ich ruf mir ein Taxi«, erklärte Sören.

Doch Hendrik sagte: »Klar, wieso nicht?«

Mein Herz tat einen unangemessen freudigen Schlag, den ich jedoch geflissentlich ignorierte. In dem Moment fiel mir auf, dass ich im Verdrängen recht gut war. Schließlich verdrängte ich auch die Probleme mit Linn schon länger entschlossen. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich darauf stolz sein sollte oder es einfach bemitleidenswert war.