Wir holten unsere Jacken und Mäntel, die wir am Tisch zurückgelassen hatten. In der Bar des Brauhauses kehrte langsam Ruhe ein, nur noch an wenigen Tischen saßen Gäste.
Kurz darauf traten wir in die kalte Januarluft hinaus.
»Hoffentlich kommt bald der Frühling.« Aline bibberte neben mir, und Tom schlang einen Arm um seine Freundin.
»Laut Bent wird es hier oft erst Ende April wirklich frühlingshaft«, sagte Nora, die ihre behandschuhte Hand mit Bents verschränkt hatte. Der Gehweg war schmal, und so liefen Aline und Tom mit Hendrik vor und Nora, Bent und ich hinter ihnen. Sören war an der Brauerei in das gerufene Taxi gestiegen.
Verrückt, wie sich alles verändert hatte, seit Linn beschlossen hatte, sich zu verdrücken. Ich war allein im Laden und kam mittlerweile erstaunlich gut zurecht, wir hatten neue Nachbarn, und ich musste fast schon lachen, wenn ich darüber nachdachte, wie gern ich Hendrik mittlerweile mochte, obwohl ich ihn anfangs derart abgelehnt hatte. Auch wenn mir Noras Verkupplungsversuche auf den Keks gingen, konnte ich nicht leugnen, dass ich ihn mochte, und ich hatte ein bisschen Angst davor, was passieren würde, wenn Linn zurückkam. Der Gedanke, die Beziehung zwischen ihr und Hendrik könne womöglich wieder aufflammen, behagte mir gar nicht. Obwohl weder etwas darauf hindeutete, schließlich waren beide nicht gut aufeinander zu sprechen, noch sollte es mir etwas ausmachen.
Wir erreichten das Max und gaben unsere Jacken an der Garderobe ab. Die Musik waberte uns entgegen, doch die Luft war um diese Uhrzeit – kurz vor Mitternacht – noch nicht so schwer und verbraucht.
Wir steuerten die Bar an und bestellten Mojitos – oje, ich konnte den Kopfschmerz förmlich kommen sehen, bei so vielen verschiedenen Getränken.
»Mit wessen Boot fahren wir eigentlich im Sommer raus?«, fragte Aline und schaute ihren Freund und Bent an.
»Ihr könnt das von Sören und mir leihen«, sagte Tom sofort. Seine Hand lag auf Alines unterem Rücken, wo ein Stück nackte Haut zwischen dem Jeansbund und dem kurzen Top hervorblitzte. Ich schmunzelte. Diese Geste mochte zwar in erster Linie zärtlich gemeint sein, doch sie zeigte auch deutlich, dass Aline zu ihm gehörte.
»Das von meinem Bruder und mir kann Nora auch gern nehmen.« Bent sah sie liebevoll an.
»Mein Vater leiht uns seins bestimmt auch, aber was haltet ihr denn davon, wenn wir uns eventuell ein eigenes kaufen und ihm einen richtigen Mädchen-Namen geben?«, schlug ich vor.
»Wie teuer ist denn so ein Boot?«, fragte Aline unsicher.
»Nach oben gibt es wohl kaum eine Grenze, aber für ein paar tausend Euro bekommen wir bestimmt eins, oder?« Ich sah Tom an.
»Joa, zehntausend müsstet ihr schon ausgeben, um etwas Ordentliches zu bekommen.«
»So viel?«, fragte ich, das wäre auch zu dritt für mich momentan nicht stemmbar. »Na ja, mein Vater ist eh den Großteil des Sommers nicht da, nehmen wir vielleicht doch lieber seins.«
»Wo fahren wir eigentlich als Erstes hin?«, warf nun Nora ein.
»Zu den Ochseninseln!«, rief Aline.
»Und dann einen Wochenendtrip in die dänische Südsee«, schlug ich vor.
In dem Moment wurde ein neuer Song angespielt. Plötzlich füllte sich die Tanzfläche – in den vergangenen dreißig Minuten waren immer neue Leute in den Club gekommen.
Ich ließ mich von Nora und Aline auf die Tanzfläche ziehen, und wir hoben ausgelassen die Arme zu dem Refrain von Call It Love von Felix Jaehn und Ray Dalton. Nach zwei Songs gesellten sich auch Tom und Bent dazu und zogen ihre Freundinnen an sich. Tom küsste Aline so innig, dass ich wegschauen musste. Grinsend tanzte ich weiter und gab mich ganz dem Rhythmus und der guten Laune der Leute hin, bis mich – ganz ähnlich, wie im Pub – ein Typ von hinten antanzte. Wütend fuhr ich herum.
»Was stimmt mit euch Typen nicht?«, rief ich. Die Musik verschluckte meine zornigen Worte. Dennoch war meine Mimik wohl unmissverständlich, denn der Kerl, seinerseits einen halben Kopf kleiner als ich und mit hautengem T-Shirt – so eng, dass sich sogar seine Brustwarzen deutlich unter dem Stoff abzeichneten, hob abwehrend die Hände und verkrümelte sich tanzend in eine andere Ecke. Aber mir reichte es, ich schob mich durch die Leute zum Rand des Floors und hielt auf die Bar zu, wo Hendrik noch auf dem Hocker saß und mit einem Mädel quatschte. Zunächst war ich unsicher, ob ich die beiden stören sollte, doch dann erkannte ich, dass es sich um Hendriks Schwester handelte.
»Kerrin!«, rief ich etwas zu überschwänglich – ich sollte dringend auf Wasser umsteigen.
Ihr Gesicht erhellte sich. »Hey! Herzlichen Glückwunsch zum Bootsführerschein.« Sie zog mich in eine kurze Umarmung.
»Danke!«
»Keine Lust mehr zu tanzen? Ich habe diesen schmierigen Kerl gesehen …«
»Das ist mir vor einiger Zeit schon einmal passiert – es nervt einfach nur. Ich meine, denken die Typen echt, es macht einen an, wenn die ihr Ding an meinem Hintern reiben?«
Kerrin warf lachend den Kopf in den Nacken. »Vielleicht wissen sie, dass sie noch weniger eine Chance haben, wenn du sie von vorn siehst.«
Das brachte mich auch zum Lachen.
»Nimm doch meinen Bruder mit, dann lassen sie dich bestimmt in Ruhe.«
Flüchtig schaute ich zu Hendrik, der in seinen schwarzen Klamotten, mit den tätowierten Armen und den breiten Schultern sicherlich eine abschreckende Wirkung gehabt hätte. Hendrik bemerkte meine Musterung nicht, da er in diesem Moment Getränke bestellte.
»Ich habe ihn bisher noch nie auf der Tanzfläche gesehen«, sagte ich abwehrend zu Kerrin.
»Na ja, es ist nicht seine Lieblingsbeschäftigung, aber er ist ein passabler Tänzer, also schämen muss man sich mit ihm nicht. Richtig, Hendrik?«
»Hm?« Er hielt mir ein Wasser hin, das ich dankbar annahm.
Unsere Finger streiften sich dabei, und mich erfasste schon wieder ein Kribbeln.
»Lara ist genervt von den Typen, die sie angraben. Du gehst doch bestimmt mit ihr tanzen und hältst sie fern, oder?«
»Klar.« Hendrik rutschte umgehend von dem Hocker, nahm noch einen Schluck aus seinem Glas, drückte es dann seiner Schwester in die Hand und sah mich auffordernd an.
»Äh …«, machte ich überfordert. Ich wollte nicht mit ihm tanzen!
Oder doch?
Ein kleiner Teil von mir wollte es definitiv. Eilig trank ich selbst noch einige Schlucke Wasser.
»Das war jetzt aber erstaunlich wenig Gegenwehr«, sagte Kerrin verblüfft. »Dann viel Spaß, ich verschwinde gleich, ich habe morgen Mittag einen Kurs. Wir sehen uns Donnerstag!«
Ich nickte und war immer noch völlig überfordert, doch dann bewegten sich meine Beine wie von allein, und ich folgte Hendrik zur Tanzfläche. Kurz davor griff er nach meiner Hand, und ich hätte schwören können, der komplette Alkohol, den ich an diesem Abend getrunken hatte, entfaltete seine Wirkung just in dem Moment. Auf jeden Fall wurde mir ein wenig schwindelig, als sich seine Finger kräftig und warm um meine schlossen. Er bahnte uns einen Weg weiter in die Mitte und blieb dann stehen, wartete, bis ich vor ihm stand. Für einige Sekunden betrachtete er mich, und in meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Erst mit Verzögerung begriff ich, dass wir uns inmitten der Tanzenden befanden und uns keinen Zentimeter rührten. Hendriks Mundwinkel wanderten nach oben, und statt meine Hand loszulassen, hob er sie an und drehte mich einmal um mich selbst. Ich grinste, und danach war der Bann gebrochen. Unsere Finger glitten auseinander, und unsere Körper bewegten sich zur Musik. Kerrin hatte recht, Hendrik konnte tanzen.
Ich ließ mich vom Beat treiben. Die Menge schob uns dichter zusammen, und Hendriks Duft, der mir schon allzu vertraut war, waberte durch die stickige Luft zu mir herüber. Meine Atemzüge wurden tiefer, und vermutlich hob sich mein Brustkorb deutlich sichtbar. Auf jeden Fall rutschte Hendriks Blick einmal zu meinem Dekolleté, das in dem schlichten Shirt ansonsten wohl eher wenig bot.
Da spürte ich einen Stoß gegen meinen Rücken und fand mich kurze Zeit später in Hendriks Armen wieder, beziehungsweise in einem – mit dem anderen hielt er den völlig betrunkenen Typen auf Abstand. Ich war zu alt für so eine Scheiße!, dachte ich und wollte mich aus Hendriks Arm lösen, doch der lag wie ein schützender Eisenriegel um meine Taille, und zugegeben, das hatte etwas Behagliches. Für eine Sekunde erlaubte ich mir, dieses Gefühl zu genießen, legte sogar meine Hände auf seinen Arm. Dann drückte ich sanft dagegen und Hendriks Aufmerksamkeit kehrte von dem Typen zu mir zurück.
»Alles okay?«, fragte er dicht an meinem Ohr. Sein Atem streifte eine empfindliche Stelle, und ich erschauderte und holte zittrig Luft, ehe ich nickte – seinen Arm hatte er noch immer nicht von mir genommen. Er richtete sich wieder etwas auf, um mir ins Gesicht zu sehen. Nur zwanzig oder dreißig Zentimeter trennten uns. Seine Augen waren so dunkel, und ich vermochte nicht zu sagen, was dahinter vorging. Aber ich hätte es gern gewusst.
Ich schluckte.
»Sollen wir wieder an die Bar?«, fragte er.
Benommen nickte ich erneut. Hendriks Arm gab mich frei, und für einen Wimpernschlag verspürte ich Enttäuschung. Doch mit dem Verlassen der Tanzfläche kehrte ich in die Realität zurück und fragte mich, was eigentlich eben zwischen uns passiert war. Ich löste meine Hand aus seiner. Wie war sie da überhaupt hingekommen?
Die anderen saßen schon wieder am Tresen, ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sie nicht mehr mit uns auf der Tanzfläche waren. Ich ignorierte die Blicke meiner Freundinnen, und die Männer gaben sich zum Glück völlig normal und fragten nur, ob wir etwas trinken wollten.
»Wasser!«, krächzte ich.
Nach ein paar Schlucken konnte ich wieder ein bisschen klarer denken und leitete meinen Abgang ein. »Es ist schon echt spät, ich glaube, ich hau jetzt ab.«
»Nee, nee, Cousinchen!«, rief Aline sofort und griff nach meiner Hand, als könnte mich das davon abhalten, nach Hause zu gehen. Ihre Finger fühlten sich im Gegensatz zu Hendriks zart und klein an. »Als ihr auf der Tanzfläche wart, haben wir beschlossen, dass wir noch einen Absacker bei Hendrik auf dem Hausboot trinken.«
Hendrik, der gerade sein Glas an die Lippen geführt hatte, verschluckte sich um ein Haar. Offenbar war er von diesen Plänen genauso überrascht wie ich.
»Natürlich nur, wenn Hendrik nichts dagegen hat«, schob Aline schuldbewusst hinterher. »Aber wir sind echt neugierig auf dein Boot.«
Hendrik wünschte sich in dem Moment bestimmt, uns bei dem Kurs zum Bootsführerschein besser nichts davon erzählt zu haben.
»Klar, wieso nicht«, erwiderte er dennoch gelassen.
»Cool«, sagte Tom und rutschte von seinem Hocker. »Laufen wir oder fahren wir mit dem Taxi?«
»Ich finde, wir gönnen uns ein Taxi.« Bent gähnte.
»Dann rufe ich einen Bus für sechs Personen.«
Wir leerten unsere Gläser und schoben uns durch den vollen Club. »Jetzt waren wir gar nicht oben im Phono«, sagte Nora, als wir an der Garderobe auf unsere Jacken warteten.
»Ein andermal, das Max ist eh cooler.« Ich musste ebenfalls gähnen und schaute auf die Uhr meines Handys – halb drei schon. Hoffentlich brachten meine Eltern Snørre morgen nicht so früh. Am besten ich schrieb ihnen nochmal.
»Das stimmt«, pflichtete Hendrik mir bei und fuhr dann an Aline gewandt fort, »kennst du die Band Echt?«
»Hm, nee, ich glaube nicht. Was haben die denn so gesungen?«
»›Sag mal, weinst du etwa, oder ist das der Regen, der von deiner Nasenspitze tropft‹ …«, stimmte ich einen der größten Hits der Flensburger Band an.
»Genau, oder ›Die Welt schaut rauf zu meinem Fenster, mit müden Augen, ganz staubig‹ …« Tom und Bent stimmten mit ein, und zu dritt schmetterten wir den Refrain. »Es ist vorbei, bye, bye Junimond …«
Lachend schlüpften wir in unsere Jacken und drückten den Männern ihre in die Hand.
»Allerdings ist das ein von Rio Reiser gecoverter Song«, erklärte Hendrik.
»Klingt auf jeden Fall cool«, sagte Aline. »Und was ist mit denen? Sind die hier aufgetreten?«
»Mein älterer Bruder hat früher mit der Band hier gefeiert, in der Anfangszeit nach dem ersten Hit konnte man sie noch häufig im Max treffen.«
»Was machen die eigentlich heute?«, fragte Tom.
»Der Sänger dreht Musik-Videos, ziemlich erfolgreich. Ich komme nur gerade auf keins«, antwortete Hendrik.
»Das mit Mark Forster auf Island zum Beispiel«, half ich ihm aus.
Unser Taxi wartete bereits, und Nora, Aline und ich quetschten uns auf die hinterste Bank.
»War ein toller Abend, Mädels. Das habe ich echt mal wieder gebraucht.«
»Und er ist noch nicht zu Ende …«, entgegnete Aline.
»Nur ein Absacker«, erinnerte ich sie. »Sonst müsst ihr mich morgen, wenn mir der Schädel dröhnt, daran erinnern, dass es das auf jeden Fall wert war.«
Nora gluckste. »Dito.«
Der Taxifahrer brachte uns in nicht einmal zehn Minuten auf die andere Hafenseite und ließ uns beim Alten Industriehafen raus. »Aber nicht mehr mit dem Boot rausfahren, ihr scheint mir nicht fahrtüchtig«, mahnte er.
»Wir liegen hier vor Anker, keine Sorge«, sagte Hendrik. »Danke fürs Fahren.«
Wir gingen die Stufen hinunter, warteten aber, bis Hendrik vor uns das Boot betrat.
»Von außen kenn ich es, unser Boot liegt ab März wieder da vorn.« Tom deutete zu seinem Liegeplatz. »Aber ich war noch nie auf einem Hausboot.«
»Es ist recht komfortabel und für einen allein völlig ausreichend. Außerdem ist dieser Hafen verhältnismäßig ruhig.« Hendrik schloss die Tür auf, und wir traten ein. Ich warf meinen Mantel aufs Sofa.
»Schaut euch gern um, ich mache uns was zu trinken, ja? Was wollt ihr? Noch einen Mojito?«
»Klingt gut«, sagte Bent, und die anderen nickten, mich eingeschlossen. Da ich das Hausboot schon kannte, folgte ich Hendrik zur Küchenzeile.
»Kann ich dir helfen?«
»Klar. Du könntest zwei Limetten schneiden, die sind da im Kühlschrank.«
Ich fischte zunächst die Zitrusfrüchte aus dem Kühlschrank und suchte mir anschließend ein Messer und ein Brett, während Hendrik sich um das Eis und den Alkohol kümmerte. Als wir mit den Gläsern in den Wohnbereich gingen, saßen die anderen vier schon aufgereiht auf dem Sofa. Wir überreichten ihnen die Getränke und setzten uns danach dem Sofa gegenüber auf den Boden.
»Mega cool – Aline und ich mieten es den ganzen Sommer, oder?«, sagte Tom. Aline nickte. »Ein Traum.«
»Echt toll, hätte ich früher gewusst, dass du es vermietest, hätte ich statt auf dem Campingplatz hier gewohnt«, bemerkte Bent.
»Ey!« Nora stieß ihn an. »Dann hätten wir uns womöglich gar nicht kennengelernt.«
»Stimmt auch wieder.« Er zog Nora zu sich und küsste sie.
»Du hast dich gerade gar nicht mit uns umgeschaut«, sagte meine Cousine zu mir, und alle Augen waren plötzlich auf mich gerichtet.
»Ähm, ja … Nun, ich war schon mal hier.«
Nora verschluckte sich an ihrem Mojito und versuchte nicht einmal, ihre Überraschung zu verbergen.
»Du warst schon mal hier?«, echote sie dann.
Ich merkte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Das kam jetzt völlig falsch rüber.
»Ja, an dem Tag, nachdem Snørre weggelaufen war, habe ich Hendrik abends noch ein Fischbrötchen spendiert, und da war ich eben neugierig – so wie ihr«, sagte ich betont gleichmütig.
Glücklicherweise entdeckte Aline in dem Moment Hendriks Notizbuch. »Zeichnest du darin deine Entwürfe?«
»Manchmal, aber meistens eher die ersten Skizzen.«
»Darf ich? Mir ist nämlich auch gerade eine tolle Idee gekommen.«
»Klar, ein Stift liegt unterm Couchtisch.«
»Was ist dir denn eingefallen?«, fragte ich neugierig und war heilfroh darüber, dass wir das Thema gewechselt hatten.
»Na ja, ich dachte an ein kleines Tattoo, das mich an den Bootsführerschein erinnert und an die Liebe zum Meer.«
Aline begann einen Anker zu zeichnen und versah ihn mit einem Herz.
»Ein klassisches Glaube-Liebe-Hoffnung-Tattoo?«, fragte Hendrik und beugte sich vor, um es besser sehen zu können.
»Hm, da wird der Glauben kirchlich assoziiert, mit einem Kreuz, oder?«
Hendrik nickte.
»Nee, das will ich nicht. Ich glaube schon an gewisse … Dinge, aber eben nicht unbedingt an die Institution Kirche.«
»Du könntest die Wörter Love, Faith, Hope nehmen«, schlug Hendrik vor. »Faith wird zwar auch für den Glauben an Gott genutzt, aber ich finde, es kann der Glaube an alles sein.«
»Oder Faith mit einem Anker verbunden.« Nora beugte sich ebenfalls zu Aline. »Bent hat so ein schönes Anker-Tattoo mit einer Welle und Koordinaten.«
Aline schaute hoch. »Wir könnten auch zusammen eins entwerfen und uns alle drei das Tattoo stechen lassen, dann symbolisiert es gleichzeitig unsere Freundschaft. Nur ein klitzekleines.«
»Tolle Idee!«, erwiderte Nora, und beide sahen mich an.
»Was? Oh, nein! Kein Tattoo für mich.« Energisch schüttelte ich den Kopf. Einige Strähnen lösten sich aus meinem hohen Pferdeschwanz und verfingen sich in meinen Wimpern. »Das bleibt schließlich für immer!«
Aline kicherte. »Das ist der Sinn der Sache, eine Erinnerung, die bleibt.«
In Wahrheit hatte ich schon mal darüber nachgedacht, mir eine Welle aufs Handgelenk tätowieren zu lassen, aber das war bestimmt fünf Jahre her. Außerdem wollte ich das jetzt nicht zugeben, weil ich so gegen das Studio gewesen war.
Ich rutschte etwas näher an Hendrik heran, um Alines Zeichnung ansehen zu können. »Wie wäre es denn, wenn du das Wort Faith nimmst und es mit einem Anker beginnst und mit einem Herz beendest?«
Aline setzte den Stift an. »So?« Sie schob mir den Block hin.
»Fast, noch etwas dezenter, als Verlängerung der Buchstaben quasi.«
»Darf ich mal?«, fragte Hendrik.
»Klar.« Meine Cousine schob ihm den Stift und das Notizbuch hin, und Hendrik begann zu zeichnen. Da ich links von ihm saß, war sein Arm im Weg, und ich konnte nicht sehen, was, bis er fertig war und sich zurücklehnte.
»Oh, ja, das ist es!«, rief Aline sofort verzückt. Nora nickte ebenfalls begeistert.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Hendriks Bild war schlicht und dennoch wunderschön, und in mir regte sich der irrationale Wunsch, diesen Mini-Schriftzug mit dem Anker und dem Herz auf meiner Haut zu tragen.
Bent und Tom zeigten sich ebenfalls begeistert, und niemand machte Anstalten, seiner Freundin die Idee auszureden. Und bei mir gab es niemanden, der mir ins Gewissen redete, normalerweise war ich diejenige, die meiner Schwester ins Gewissen redete.
»Sieht toll aus«, sagte ich schließlich.
»Also bist du dabei?«, fragte Aline mit strahlenden Augen. Ich schaute sie an und empfand so viel Zuneigung für meine Cousine, die noch so neu in meinem Leben war. Es war eine ungetrübte Zuneigung, ganz anders als die zu Linn …
Ich blickte von Aline zu dem Tattoo und fühlte wieder den Wunsch, es auf der Haut zu tragen.
»Wir können ja erst mal anfangen, und du überlegst es dir in der Zeit«, sagte Nora schließlich diplomatisch.
»Hast du eine Maschine hier?« Meine Cousine sah Hendrik erwartungsvoll an. Doch der hob abwehrend die Hände.
»Heute wird niemand mehr tätowiert.«
»Oh, schade!«
»Tattoos gibt es nur mit 0,0 Promille – abgesehen davon, dass auch ich was getrunken habe.«
Erstaunt sah ich Hendrik an. Das hätte ich nicht erwartet.
»Ah, aber das war früher bestimmt anders, oder?«, fragte Tom.
Hendrik lachte. »Ja, als ich anfing zu tätowieren, wurde die Maschine häufiger bei Partys rausgeholt, aber das ist ewig her.«
»Vielleicht solltest du uns deine schlimmsten Tattoo-Sünden zeigen, damit Aline und Nora es sich noch einmal überlegen«, ergänzte Bent frotzelnd.
»Die meisten sind gecovert.« Hendrik blickte plötzlich etwas ernster. »Hier habe ich noch ein Andenken an einen Freund, der auch unbedingt mal tätowieren wollte.« Er zog den Ärmel seines T-Shirts ein Stück höher. Zwischen all den kunstvoll gestochenen Tattoos kam Bart Simpson zum Vorschein. Ich grinste. Die vier auf dem Sofa beugten sich vor, um es zu erkennen.
»Warum ausgerechnet Bart?«
»Frag mich nicht, soweit ich mich erinnere, hatte ich kein Mitspracherecht.«
»Es scheint dir ja zu gefallen, oder warum hast du es nicht übertätowiert?«, fragte Tom.
»Es ist eine Erinnerung an ihn, er ist vor ein paar Jahren bei einem Autounfall in einem Vietnam-Urlaub gestorben.«
»Oh, scheiße, Mann, das tut mir leid«, sagte Tom.
Meine Finger begaben sich ganz von allein zu den Linien des Tattoos und berührten es sanft. »Schön, so ein Andenken zu haben.«
Hendriks Blick fand meinen, und erst da ging mir auf, dass ich ihn einfach angefasst hatte. »Sorry«, murmelte ich und ließ meine Hand rasch sinken.
»Also, Leute, ich bin durch für heute und will nach Hause.« Bent stellte sein leeres Glas auf den Tisch.
Alle erhoben sich, und wir bestellten zwei Taxis, eines für Tom, Aline und mich und eines für Bent und Nora, die in die andere Richtung mussten.
»Danke für die Getränke und die Bootsführung«, sagte Bent zu Hendrik.
»Gern.« Vorsichtig trennte er die Seite aus dem Notizbuch und gab sie Aline. »Schlaft ein paar Nächte darüber, und falls ihr es dann immer noch wollt, schiebe ich euch kurzfristig dazwischen oder ihr kommt nach Ladenschluss vorbei.«
»Danke!« Aline steckte den Zettel in ihre Tasche.
»Tolles Boot, Hendrik.« Nora zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch.
»Ich benutze noch kurz dein Bad, wenn es okay ist?«, fragte ich Hendrik.
Er nickte. »Du weißt ja, wo es ist.«
»Wir gehen schon zur Straße und fangen die Taxis ab!«, rief Nora beim Hinausgehen.
Nachdem ich auf der Toilette gewesen war, folgte ich meinen Freunden nach draußen. Hendrik stand mit den Händen in den Hosentaschen vergraben auf der Kaimauer und lächelte mich an. »Ich glaube, das zweite Taxi ist gerade vorgefahren.«
»Du solltest reingehen, es ist definitiv zu kalt, um hier im Shirt rumzustehen.« Mein Atem erzeugte kleine weiße Wölkchen, und ich sehnte mich plötzlich heftig nach dem Frühling. Leider nahm der Winter im Norden häufig Ende Januar nochmals richtig Fahrt auf.
In Gedanken versunken trat ich auf die kleine Brücke, blieb am Ansatz hängen und strauchelte ein wenig, was Hendrik dazu bewog, mir seine Hand hinzuhalten. Ohne darüber nachzudenken, griff ich zu, und ein kleiner Falter machte in meinem Bauch einen Flügelschlag. Ich schluckte, als ich bei Hendrik auf der Landseite ankam. Und plötzlich schien für einen Moment die Zeit still zu stehen. Ich verspürte den Drang, meine Hand zu heben, um die feinen Lachfältchen um seine Augen zu berühren … Hendrik sah mich wieder auf diese Weise an, die ich einfach nicht recht einordnen konnte. Plötzlich flackerte eine Erinnerung in meinem Kopf auf. Linn, Hendrik und ich bei einer Party, nur wenige Monate, bevor ich Hanna kennengelernt hatte. Linn war schon länger verschwunden, und weil ich sonst niemanden kannte, setzte ich mich zu Hendrik. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, die Füße auf dem Couchtisch abgelegt. Wir synchronisierten die Gespräche der anderen Partygäste, und Hendrik hatte es so gut drauf, dass ich mir zwischendurch vor Lachen fast in die Hose pinkelte. Nach einem weiteren Lachanfall sah er mich genauso an wie jetzt, und seine Hand berührte meine. Es hatte auch damals in meinem Bauch geflattert, ich bekam einen Schreck und zog hastig meine Hand zurück. »Ich bin nicht Linn!«, sagte ich barsch. Hendrik öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch da rauschte Linn heran. »Da seid ihr ja, los, ich will ins Max!« Sie zerrte an Hendriks Hand.
»Ich gehe nach Hause«, murmelte ich noch, ehe ich aufsprang und den Raum verließ. An den nächsten Wochenenden blieb ich lieber im Schwesternwohnheim an der Westküste. Als ich wieder nach Hause fuhr, waren die beiden schon getrennt, und Linn erzählte mir, was Hendrik über mich gesagt hatte. Ich fühlte mich – obwohl es albern war – betrogen von ihm. Weil der Abend für mich besonders gewesen war, doch das erzählte ich nie jemandem, denn schließlich hätte ich als Schwester nicht so empfinden sollen. Zurück im Hier und Jetzt blinzelte ich ein paarmal und trat einen Schritt zurück. »Ich sollte los … die anderen warten auf mich.«
Hendrik nickte.
Ich rannte die Stufen zur Straße hoch und stieg in das Taxi.