Kapitel 25

Am Montag steckte mir die Feierei immer noch in den Knochen, obwohl ich den ganzen Sonntag nur auf dem Sofa rumgeschimmelt hatte.

Zwei Stunden vor Ladenschluss sprang meine Mutter erneut im Laden ein, damit ich mit Hanna zur Anprobe für ihr Brautkleid gehen konnte. Etwas gestresst kam ich bei dem Geschäft unten am Hafen an.

»Hey, sorry, ich habe noch einen Schrank verkauft«, begrüßte ich sie atemlos.

»Kein Problem«, erwiderte sie mit einem Lächeln.

»Kommt sonst gar keiner?«, fragte ich erstaunt.

»Nein, nur wir beide. Meine Mutter wäre sicherlich liebend gern dabei, aber meine Familie macht mich schon genug verrückt wegen der Hochzeit, und meine Freundin Mia wollte kommen, aber ihr neuer Abteilungsleiter hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.«

»Dann genießen wir das Ganze halt zu zweit und suchen dir das schönste Kleid aus!«

Drinnen wurden wir von einer jungen Verkäuferin empfangen, die uns erst einmal aufforderte, auf einem rosafarbenen Samtsofa Platz zu nehmen.

»Erzähl doch mal«, sagte sie zu meiner Freundin, nachdem sie uns mit einem Glas Sekt versorgt hatte, »wo heiratest du und welche Vorstellungen hast du von deinem Brautkleid? Gibt es vielleicht Fotos von Kleidern, die dir gefallen?«

»Wir heiraten Anfang Juni am Strand in Glücksburg, und ja, ich hab ein paar Fotos …« Hanna holte ihr Handy hervor und zeigte der Verkäuferin einige Bilder.

»Also bist du noch nicht festgelegt, ob es weit oder eng sein soll?«

»Ich tendiere zu einer A-Linie, aber würde auch gern ein Fit and Flare anprobieren.«

»Okay, dann schlage ich vor, ihr zwei schaut die Kleider mal gemeinsam durch, und ich ergänze dann gegebenenfalls noch um ein oder zwei Modelle.«

Wir streiften durch die Reihen aus Tüll, Chiffon und Satin. »Wow, so viele schöne Kleider«, sagte ich bewundernd. »Schau mal, Hanna, das könnte ich mir super an dir vorstellen.« Ich zog ein Modell heraus, das ganz zarte Spagettiträger hatte und einen tiefen Ausschnitt. Die weiße Spitze verlief vom Oberteil bis in den Rock hinein, der aus mehreren Tüllschichten bestand. Eine davon war in einem Blush-Ton gehalten, sodass der Rock leicht rosa schimmerte. Trotz der Tüllschichten wirkte das Kleid nicht steif und schwer.

»Oh, ja, das gefällt mir.« Wir markierten es mit einem rosa Klipp. Hanna entschied sich noch für ein Fit and Flare, ebenfalls mit Spagettiträgern und in Blush, und für eine cremefarbene A-Linie.

»Das ist doch schon mal eine super Auswahl«, kommentierte die Verkäuferin. »Mit welchem willst du anfangen?«

»Mit dem engen.«

Ich setzte mich aufs Sofa, und Hanna und die Verkäuferin verschwanden in der Kabine. Fünf Minuten später trat meine Freundin mit hochgerafftem Rock hinter dem Vorhang hervor. Kurz musste ich angesichts ihrer schwarzen Socken schmunzeln, doch kaum wanderte mein Blick höher, verging mir das Lachen – denn wow, sie sah atemberaubend aus. Sie trippelte zu einem kleinen Podest, um sich selbst im Spiegel anzusehen.

Bevor ich das Hygge Up hatte, schaute ich an meinen freien Tagen gern die Sendung Zwischen Tüll & Tränen, daher wusste ich, dass die Braut sich erst selbst eine Meinung bilden sollte, ehe ich sie mit meiner beeinflusste. Also hielt ich mit einem verzückten Lächeln den Mund, während meine Freundin sich vor dem Spiegel drehte.

»Was meinst du, Lara?«

»Es ist wunderschön! Aber es muss sich wie dein Kleid anfühlen.« Mir war sofort klar, dass es nicht ihr Kleid war, sonst hätte sie mich nicht als Erstes nach meiner Meinung gefragt.

»Optisch finde ich es auch mega, aber es ist wirklich eng, und ich frage mich, ob es mir auf Dauer nicht zu unbequem ist.«

»So ein Hochzeitstag ist lang«, stimmte ich ihr zu. »Da solltest du dich rundum wohlfühlen.«

»Dann lass uns doch jetzt im Vergleich eines der weiten Kleider anprobieren.« Die Verkäuferin griff zu dem blushfarbenen.

Als Hanna das zweite Mal aus der Kabine kam, war ihr ganzes Auftreten ein anderes. Dieses Mal fiel es mir noch schwerer, nicht gleich in Begeisterung auszubrechen. Dennoch wartete ich, bis Hanna sich vor dem Spiegel betrachtete. »Gefällt mir viel besser – es fühlt sich so schön leicht an.«

»Ich finde es auch wunderschön!«, rief ich und rückte vor Aufregung ein Stück auf dem Sofa vor. Hanna lächelte und drehte sich auf dem Podest hin und her, der Tüll rauschte dabei von einer Seite zur anderen.

»Möchtest du noch das cremefarbene Kleid anprobieren? Oder soll es auf jeden Fall eins in Blush werden?«

»Ich würde es gern noch anprobieren, aber das hier ist ein klarer Favorit.«

Hanna verschwand in dem Traum aus Tüll und Spitze wieder hinter dem Vorhang, und ich trank einen Schluck Sekt. Hanna war nicht die Erste aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, die heiratete. Aber Hanna war diejenige, die mir am nächsten stand. Wenn ich sie nun in diesen Kleidern sah, erfasste mich ein wenig Wehmut, und ich fragte mich, ob ich jemals auch jemanden finden würde, dem ich in solch einem Kleid die ewige Liebe schwören wollte.

Hanna trat aus der Kabine, und dieses Mal gelang es mir nicht, neutral zu bleiben. So gut ihr der Blush-Ton gestanden hatte, diese cremefarbene Variante machte sie für mich erst richtig zur Braut. Außerdem passte das Kleid perfekt zu ihrem Teint und den braunen Haaren. Ich blinzelte und kräuselte die Nase, doch es nützte alles nichts, und ich musste nach einem Taschentuch greifen, die glücklicherweise überall auslagen. Schniefend tupfte ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

»So schlimm?«, scherzte Hanna.

»Sehr witzig«, murmelte ich.

Hanna löste ihren Blick von mir und schaute sich im Spiegel an. An der Art, wie sie ihre Lippen aufeinanderpresste und über den Stoff strich, bemerkte ich, dass sie ebenfalls begeistert war. »Ich glaube, das ist es«, brachte sie noch heraus, bevor auch bei ihr die Tränen flossen.

Ich stand auf und hielt ihr eine der Taschentuchboxen hin. »Es ist wunderschön. Das schönste Kleid, das ich je an einer Braut gesehen habe. Du wirst damit alle umhauen.« Plötzlich wuchs sich der Tränenbach bei mir zu einem Strom aus. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie übermannten mich in diesem Moment alle möglichen Gefühle.

»Alles okay?«, fragte Hanna mit besorgtem Blick, und ich riss mich zusammen und schnäuzte mich einmal. »Du bist einfach märchenhaft schön, und ich freue mich so für dich und Chris!«

Hanna lächelte, und die Sorge verschwand aus ihren Zügen. Sie strich wieder über die Spitzenapplikationen an der Corsage.

»Danke, Lara. Der Ausschnitt ist auch noch im Rahmen, oder?«

»Na klar, du heiratest schließlich nicht in der katholischen Kirche, sondern am Strand, und außerdem macht es das Kleid zu einer perfekten Mischung aus Prinzessin und Sexyness. Genau das, was du auch bist.« Ich drückte sie an mich. Wir bewunderten jedes kleine Detail, während die Verkäuferin die Schneiderin holte, die die Länge des Kleides abstecken sollte. Davor probierte Hanna sich noch durch einige Schuhe und entschied sich für ein Paar mit flachen Absätzen.

»Das ist eine gute Wahl, dann kannst du später die Schuhe auch ausziehen – wenn ihr am Strand heiratet – , und das Kleid wird trotzdem nicht zu lang sein«, erklärte die Verkäuferin.

Mit einem Schleier und den Schuhen in einer Tüte verließen wir schließlich das Geschäft um kurz nach neunzehn Uhr.

»Sollen wir in der Hafenküche noch etwas essen gehen?«, schlug meine Freundin vor. »Wir haben uns in letzter Zeit viel zu wenig gesehen.«

»Sehr gern, ich frage nur kurz meine Mutter, ob es okay ist, wenn ich Snørre später abhole.«

»Linn ist also noch nicht zurück?«

»Nope , und sie reagiert auch nicht auf meine Anrufe.« Im Gehen schrieb ich meiner Mutter, und sie schickte mir einen Daumen nach oben.

Wir steuerten das Restaurant unweit des Museumshafens an und hatten Glück, denn wir erhielten einen Platz direkt am Fenster. Hanna stellte die Tüte neben sich auf den Stuhl.

»Was war das eben für ein Gefühl? Wusstest du sofort, dass es dein Kleid ist?«, fragte ich neugierig.

»Ja, tatsächlich schon, als ich es in der Kabine angezogen habe! Es fühlte sich einfach supergut an, es zu tragen. Das blushfarbene, das du rausgesucht hast, war aber auch toll. Vielleicht ist es ja irgendwann mal dein Kleid.«

Ich lachte auf, doch Hannas Miene wurde ernst.

»Ist alles in Ordnung bei dir? War wirklich nur das Kleid der Grund für die Tränen?«, bohrte sie nach. Es war schon immer schwer, ihr etwas vorzumachen.

Ich wandte den Kopf zur Seite. »Heute ist dein Tag, da will ich dich nicht mit meinen Problemen volljammern.«

»Papperlapapp, mein Tag ist bei meiner Hochzeit im Juni. Und außerdem komme ich mir wie eine schreckliche Freundin vor, weil ich so wenig Zeit für dich hatte.«

»Die Tür schwingt ja bekanntlich in beide Richtungen, ich hatte auch viel zu tun im Laden und mit Snørre.«

»Was bedrückt dich? Ich sehe dir doch an, dass was los ist! Ist es wegen Linn?«

»Ach, ich weiß auch nicht … Mit dem Laden geht es mir gut, und es stört mich nicht mal mehr sonderlich, dass Linn nicht da ist. Im Gegenteil, irgendwie ist es erleichternd. Aber dass ich das so empfinde …«

»Verursacht dir Schuldgefühle?«, beendete Hanna den Satz, und ich nicke. »Hör mal, sie hat dich im Stich gelassen, mal wieder, du hast keinen Grund, dich mies zu fühlen!«

»Es ist nicht nur das. In den letzten Wochen, also eigentlich seit Snørre weggelaufen ist …«

Der Kellner unterbrach mich, da er die Getränke servierte. Ich schaute ihm nach. Es fiel mir schwer, es mir selbst einzugestehen, und es war noch viel schwerer, es laut auszusprechen. »Also Hendrik und ich … Es gibt hin und wieder solche Momente … Und am Samstag … ich glaube, wir hätten uns fast geküsst.«

»Was? Wie – du glaubst es?«

»Na ja, ich weiß ja nicht, ob nur ich den Wunsch verspürt habe oder er auch.«

»Okay, verstehe. Wo genau liegt jetzt das Problem?«

»Hallo? Wir reden über Hendrik

»Der gut aussehende Typ, der neben dir das Tattoo-Studio eröffnet hat – ich weiß.«

»Er war mal mit Linn zusammen!«

»Das ist sehr lange her, oder? Da kannten wir uns noch nicht einmal. Und mal ehrlich, wer war das nicht?« Hanna hatte noch nie ein Problem damit gehabt, ihre Meinung über Linn offen auszusprechen.

Geräuschvoll stieß ich die Luft aus. »Auch wieder wahr«, murmelte ich. »Aber allein die Tatsache, dass sie mal ein Paar waren, zeigt doch, dass das mit uns niemals etwas werden könnte. Ich meine, vor einigen Wochen wollte ich ihn noch aus dem Hof ekeln, ich will keinen Mann wie ihn!«

»Was meinst du mit einem ›Mann wie ihn‹?«

»Na ja, so einen unangepassten mit Tattoos und so.«

Hanna prustete los. »Mit Tattoos und so? Lara, jeder hat heutzutage Tattoos!«

»Aber nicht jeder hat gleich ein Tattoo-Studio, das ist doch nichts Solides.«

»Genauso solide wie ein Geschäft mit alten Möbeln, würde ich sagen. Weißt du, was ich glaube?«

»Nee, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen will.«

»Du hast dir in deinem Kopf irgendeinen Typen zurechtgemalt, und immer wenn dir jemand zu nahe kommt, holst du diesen Typen hervor und nimmst ihn als Begründung, dass der andere doch nicht der Richtige ist. Aber ich denke, das machst du nur, weil du Angst davor hast, dich zu verlieben.«

»So ein Quatsch. Außerdem hat Hendrik mich damals Linn gegenüber als lästiges Hühnerauge bezeichnet!«

Hanna lachte so laut, dass die Leute am Nachbartisch sich umdrehten.

»Lara, ich liebe dich wirklich sehr. Aber ich glaube, es wird Zeit für dich, deiner Schwester ihre Grenzen aufzuzeigen, damit du mal Zeit hast für dich und dein eigenes Leben. Vielleicht findest du es ja auch ganz bequem, sie und deine Probleme mit ihr als Ausrede zu benutzen, dass du keine Zeit für die Liebe hast. Aber wenn du diesen Hendrik scharf findest, dann go for it ! ›Am Ende bereuen wir nur das, was wir nicht probiert haben‹ – das stand letztens noch auf deinem Letterboard.«

»Was hat das denn mit seinen Äußerungen von damals zu tun?«, brummte ich.

Das Essen wurde serviert, und ich ließ Hannas Worte sacken.

»Vielleicht nutzt du das ja auch nur als Ausrede, dich von ihm fernzuhalten. Denk nicht so viel nach, sondern mache einfach mal!«

»Aber er ist nun mal nicht der Prinz meiner Vorstellung.«

»Da wären wir wieder bei dem, was ich vorhin gesagt habe. Und du sollst ihn ja auch nicht gleich heiraten und eine Familie mit ihm gründen, sondern einfach mal loslassen und Spaß haben. Zeig ihm, dass du mehr bist als ein lästiges Hühnerauge!«

»Warum bin ich noch mal deine Trauzeugin?«

»Ach komm, du lässt dich doch nicht heute noch von so einer albernen Bemerkung verunsichern.«

Ich hob die Schultern. »Außerdem habe ich keine Zeit für Abenteuer.«

»Solltest du dir aber nehmen. Das Leben ist kurz.«

»Hm«, machte ich. Meine Empfindungen in Hendriks Gegenwart überforderten mich einfach. Mit etwas Abstand konnte ich das alles völlig rational betrachten, aber wenn er dicht neben mir stand oder wir uns berührten, dann setzte irgendetwas bei mir aus.

Den Rest des Abends redeten wir über Hannas Hochzeit, und ich verdrängte Hendrik entschieden aus meinem Kopf. Es reichte schon, dass ich die letzten beiden Nächte von ihm geträumt hatte. Allein bei dem Gedanken an den Traum bekam ich rote Wangen. Dieses Mal war es nämlich nicht bei einer Fahrt auf dem Motorrad geblieben … Ich konzentrierte mich entschieden auf Hannas Ausführungen für den Ablaufplan ihrer Hochzeit.

Als wir später das Restaurant verließen, drückte ich sie an mich. »Du wirst die schönste Braut sein, die ich jemals gesehen habe.«

»Danke, meine Liebe. Mit dir an meiner Seite werde ich den Wahnsinn hoffentlich überstehen. Erwähnte ich schon, dass meine Freundin Mia mit Chris’ Freund Julius zusammen war und die beiden eine unschöne Trennung hinter sich haben? Natürlich kommen beide zur Hochzeit – und Julius mit seiner Neuen.«

»Oje, ich hoffe, Mia ist über ihn hinweg. Sonst möchte ich nicht in ihrer Haut stecken.«

»Das hoffe ich auch«, murmelte Hanna.

»Schau doch mal auf einen Kaffee im Laden vorbei, ich habe schon die erste Frühjahrsdeko bekommen, und Snørre musst du auch unbedingt wiedersehen. Er ist echt groß geworden. Nicht dass du dich wieder vor ihm fürchtest.«

Sie lächelte. »Mach ich. Und – Lara?«

»Ja?« Ich drehte mich nochmal um.

»Du brauchst keinen scheiß Prinzen, der dich rettet. Sondern einfach einen Typen, der dich glücklich macht.«