Als wir bei Ilse ankamen, reagierten die meisten mit einem überraschten Gesichtsausdruck. Sven saß neben Ursel und schlürfte Kaffee aus einer von Ilses kleinen Tassen. Seine kräftigen Finger passten kaum durch den Henkel.
»Hallo«, flötete ich fröhlich.
»Schön, dass ihr zwei es geschafft habt«, sagte Ilse. »Wir haben gerade über Ostern geredet.«
Eifrig nickend streifte ich meine Jacke ab und zog den Ärmel des Pullis weit runter, damit niemand das Tattoo sah. Das hätte sicherlich noch erstauntere Blicke ausgelöst. »Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht.«
»Das überrascht uns nicht«, sagte Levin mit einem Grinsen. Hendrik und ich setzten uns auf zwei freie Stühle, Snørre legte sich auf den Boden zwischen uns. Alle sahen mich erwartungsvoll an.
»Ich habe mir überlegt, dass wir zu Ostern den Vorschlag von Hendrik und Sven mit der Rabattaktion aufgreifen könnten.«
»Ach, sieh an«, sagte Ursel. »Wie sollte das nochmal laufen?«
»Hendrik, erklärst du, wie du es dir gedacht hast?«
Hendrik wirkte für einen Moment überrascht, fing sich aber schnell. »Klar. Es wäre vielleicht eine Möglichkeit, die Kunden hier im Hof zu halten, wenn der Kauf in einem Laden gleichzeitig zu einem Rabatt bei einem der anderen führt. Dafür sollten wir uns Rabattkarten drucken lassen, die wir dann entsprechend entwerten oder den Kassenbon entsprechend kennzeichnen. Damit der Rabatt nicht in allen Geschäften eingelöst werden kann, sondern nur in jeweils einem. Und das Ganze als Aktion über vielleicht drei oder vier Wochen. Wenn es erfolgreich läuft, können wir uns überlegen, ob wir eine dauerhafte Rabattkarte einführen. Pro Einkauf in einem der Läden gibt es einen Stempel und bei zehn Stempeln zwanzig Prozent bei einem von uns.«
Wir diskutierten noch eine Weile über die genaue Vorgehensweise und stimmten schließlich alle dafür, die Aktion vier Wochen vor Ostern zu starten. Danach besprachen wir noch ein paar Kleinigkeiten, und die Versammlung löste sich gegen neun Uhr auf.
Wir liefen gemeinsam durch den Durchgang, und nachdem wir uns verabschiedet hatten, bog ich nach rechts ab. Hendrik war der Einzige, der denselben Weg hatte, zumindest bis er erneut rechts abbiegen musste, um zum Hintereingang und seinem Motorrad zu gelangen. Ich blieb kurz stehen und wollte ihm gerade einen schönen Abend wünschen, da fragte er: »Hast du vielleicht Lust, noch ein Glas Wein mit mir zu trinken?«
Ich klappte meinen Mund wieder zu. Im Grunde brauchte ich nicht lange darüber nachzudenken, denn ich verbrachte gern Zeit mit ihm. Dennoch waren da immer noch Zweifel, leiser zwar, doch nicht gänzlich verstummt. Aber hey – es war nur ein Glas Wein.
»Ja, warum nicht?«, antwortete ich. »Sollen wir in ein Lokal gehen?«
»Oder wir gehen zu mir oder zu dir. Das ist vielleicht entspannter für Snørre.«
»Dann zu dir.« Zwar war der Weg zu mir deutlich kürzer, aber etwas in mir sträubte sich dagegen, ihn mit in Linns und meine Wohnung zu nehmen. Außerdem – cooler als auf einem Hausboot konnte man einfach nicht wohnen. Es sei denn vielleicht in einem Penthouse direkt am Hafen.
»Okay, dann zu mir, mein Motorrad lass ich stehen.«
Wir liefen am Hafen entlang, die Lichter der Stadt spiegelten sich in der Spitze der Förde.
»Das Wetter ist heute so leise, weißt du, was ich meine?«, fragte ich.
»Ja, die Luft ist klar, aber kein Lüftchen weht.«
»Dieses Wetter mag ich auch im Winter, obwohl ich eigentlich ein echtes Sommerkind bin.«
Unter der Woche waren um diese Uhrzeit nicht mehr allzu viele Leute unterwegs. Wir plauderten über dies und das, und ich war wieder einmal erstaunt, wie schön es war, sich mit Hendrik zu unterhalten.
»Vielen Dank nochmal für das Tattoo, aber ich fühle mich schlecht, wenn ich es nicht bezahle.«
»Warum? Ich habe das gern gemacht. Ich freue mich, dass du so gute Freundinnen hast. An deine Cousine kann ich mich von früher gar nicht erinnern. Hat sie woanders gelebt?«
»Tatsächlich wussten wir bis zum Spätsommer nichts voneinander.« Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.
»Wow, das ist echt tragisch.«
Ich nickte. »Ihre Mutter hat fast dreißig Jahre lang gedacht, Jochen wollte weder sie noch das Baby, und in diesem Glauben ist sie sogar gestorben.«
Für einige Minuten spazierten wir schweigend weiter.
»Lara«, begann Hendrik, während ich gleichzeitig ansetzte, etwas zu sagen. Wir lachten beide. »Du zuerst«, sagte er.
»Ich habe mich an etwas von früher erinnert. Wie wir zwei bei der Party von einem von Linns Freunden zusammen auf dem Sofa saßen …«
»… und die Leute synchronisiert haben«, vollendete er meinen Satz. »Ja, daran erinnere ich mich auch.«
Die Luft lud sich auf und elektrisierte meinen Körper. Er wusste es noch!
Ich überlegte, ob ich ihn auf seine Worte über mich ansprechen sollte. Doch noch während ich abwog, erreichten wir das Hausboot, und das Gespräch kam zum Stillstand. Dieses Mal passte ich besser auf, als ich über die kleine Brücke ging. Bis wir drinnen angelangt waren, wirkte Hendrik nachdenklich.
»Setz dich ruhig schon. Möchtest du Wein oder lieber Bier? Ich habe welches von der Flensburger Biermanufaktur da.« Er sah mich über die geöffnete Kühlschranktür hinweg an.
»Lieber Wein«, antwortete ich. »Schaust du dich schon nach Wohnungen um?«, wechselte ich das Thema.
»Ja, ein wenig, aber irgendwie kann ich mich in diesem Jahr nur schwer von dem Boot trennen.«
»Das verstehe ich.«
»Ich sitze auch verdammt gern auf der Dachterrasse.«
»Selbst im Winter?«
»Klar, mit einer Decke lässt es sich dort an windstillen Tagen wie heute eine Zeit lang aushalten.«
»War das eine Einladung, den Wein auf der Dachterrasse zu trinken?«, fragte ich mit erhobener Augenbraue.
»War das eine Aufforderung, dich dazu einzuladen?«
»Auf jeden Fall!« Ich erhob mich.
»Nimm du Snørre und dein Weinglas, ich kümmere mich um die Decken.«
Also schlüpfte ich erneut in meine Jacke und setzte außerdem die Mütze auf. Snørre bekam den Mantel angezogen. Draußen wartete ich auf dem kleinen Vordeck und ließ zuerst Hendrik die schmale Treppe nach oben gehen. Anschließend folgte ich ihm. Ich war schon fast angekommen, als ich mal wieder stolperte – das schien allmählich zur Gewohnheit zu werden. Hendriks Hand war blitzschnell an meinem Arm mit dem Glas.
»O Mist, jetzt habe ich gekleckert.«
»Na, Hauptsache, du bist nicht mit Snørre abgestürzt.«
»Normalerweise bin ich gar nicht so schusselig«, brachte ich zu meiner Verteidigung hervor. »Muss an deinem Boot liegen.«
Hendrik schmunzelte. Das konnte ich selbst in dem faden Licht gut erkennen. Als ich mich aufrappelte, standen wir uns plötzlich ziemlich nah gegenüber. Und irgendwie lud sich die Luft abermals elektrisch auf.
Ich musste meinen Kopf ein wenig in den Nacken legen, um Hendrik ansehen zu können. Mein Brustkorb hob und senkte sich heftig, als würde ich gerade einen Berg und nicht zehn Stufen zu einer Dachterrasse erklimmen. Hendriks Lippen lockten mich verführerisch, und ich verspürte plötzlich den eindringlichen Wunsch, von ihnen zu kosten. Vielleicht sollte ich mir wirklich mehr Zeit für Abenteuer nehmen, dachte ich, als seine Hand meine Wange berührte. Er beobachtete jede meiner Regungen, als wartete er nur darauf, dass ich ihn gleich wegstoßen würde. Doch das hatte ich nicht vor. Leider konnte ich ihn auch nicht näher zu mir ziehen, da ich im linken Arm Snørre hielt und rechts das Glas. Ich schloss die Augen und genoss das Kribbeln auf meiner Haut. Auf Zehenspitzen beugte ich mich ihm entgegen. Als seine Lippen weich auf meine trafen, sog ich scharf die Luft ein. Es war keine stürmische Knutscherei, sondern vielmehr ein langsames Genießen, und oh Mann, das war so viel besser! Langsam öffnete ich den Mund, und seine Zunge fand den Weg zu meiner. Seine Hände umfassten meine Wangen, was nötig war, ansonsten wäre ich vermutlich ins Wanken geraten. Schaukelte das Boot? Irgendwann verabschiedete sich jeder noch so abstruse Gedanke, und ich versank völlig in dem Kuss.
Bis es Herrn Snørre zu bunt wurde. Er zappelte mit aller Kraft in meinem Arm. Wir lachten, und Hendrik nahm ihn mir ab. Was um alles in der Welt war da passiert? Und warum nur konnte ich es nicht abwarten, ihn wieder zu küssen?
Etwas verlegen setzte ich mich neben Hendrik und stellte erst mal das Weinglas ab, aber nicht, ohne vorher einen kräftigen Schluck zu nehmen. Wie gesagt, ich hatte schon länger keine Zeit für »Abenteuer« dieser Art mehr gehabt und war mir daher nicht sicher, wie ich mich nun verhalten sollte. Doch Hendrik ließ es nicht zu, dass ich mich unwohl fühlte. Er rutschte zu mir und breitete die Decke über uns aus. Snørre kuschelte sich auf Hendriks Schoß, während dieser seinen Arm hinter mir auf die Lehne legte und seine Hand leicht meine Schulter berührte.
»So lässt es sich aushalten«, murmelte er.
Ich schaute ihn an und lächelte leicht, was er umgehend erwiderte, ehe er mich sanft näher zog. Unsere Lippen fanden erneut zueinander. Seine Küsse waren so zärtlich, und ich vergrub meine linke Hand in seinem Haar. Irgendwann – viel zu früh – endete auch dieser Kuss, und ich lehnte mich gegen seine Schulter, genoss jede Berührung unserer Körper und wollte plötzlich, dass diese Nacht nie zu Ende ging. Doch gegen die kühle Meeresluft halfen auch heiße Küsse und Decken nur begrenzt, und eine halbe Stunde später begann ich zu bibbern.
»Sollen wir wieder runtergehen?«
»Ungern, aber ist wahrscheinlich besser«, murmelte ich in den dicken Stoff seiner Jacke. Er streichelte sanft über meinen Nacken, wo seine warmen Finger eine heiße Spur hinterließen.
Snørre schlief inzwischen so tief und fest, dass er nur kurz die Augen öffnete, als ich ihn hochnahm. Fast tat mir der Kleine leid, weil wir ja gleich noch zurücklaufen mussten.
»Danke für den schönen Abend«, sagte ich unten auf dem kleinen Vordeck.
»Ein echter Seesterntag.«
»Ein was?«, fragte ich.
»So haben wir als Kinder immer die besonders coolen Tage bezeichnet. Weil ein Tag am Meer meistens ein guter Tag war, und wenn man dann noch einen Seestern gesehen hatte … war er perfekt. Und irgendwie benutzen wir diese Beschreibung heute noch in der Familie.«
Kurz lächelten wir uns an, doch dann sah Hendrik mich wieder mit diesem Blick an, der mir jedes Mal unter die Haut ging und Fragen in meinem Kopf hinaufbeschwor.
»Warum siehst du mich so an?«, platzte es aus mir heraus.
Er hob leicht die Brauen. »Wie sehe ich dich denn an?«
»Wenn ich das wüsste, würde ich nicht fragen«, gab ich grinsend zurück.
»Ich sehe dich eben gern an und meistens gehen mir dabei ziemlich viele Fragen durch den Kopf …« Er trat einen Schritt näher zu mir, und ein heißer Schauer lief über meinen Rücken.
»So? Mir auch. Welche Fragen sind es denn bei dir?« Wie schnell mein Herz schlug! Wie gern ich ihn noch einmal küssen wollte!
»Viele …«
»Nenn mir eine!«
Er trat noch näher. »Ich frage mich zum Beispiel, was passiert wäre, wenn ich damals die richtige Schwester zuerst kennengelernt hätte.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Warum sagte er das? Nach dem, was ich von Linn wusste, war das nicht … Doch noch ehe ich den Gedanken weiterverfolgen konnte, waren Hendriks Lippen wieder auf meinen. Dieses Mal weniger zart, sondern ausgehungert. Und sein Hunger entfachte auch meinen, der sonst höchstens hin und wieder zaghaft anklopfte, zum Beispiel beim Lesen einer heißen Liebesszene im Roman.
»Geh nicht«, raunte er in mein Ohr und küsste die empfindliche Stelle dahinter. Ich ließ meinen Kopf gegen seine Brust sinken und atmete zittrig ein.
Wie hätte ich gehen können? Was auch immer er damals über mich gedacht oder gesagt haben mochte, änderte nichts an dem Knistern von heute. Und es war doch nur ein Abenteuer … nicht mehr.
Meine Finger verflochten sich mit seinen, und im nächsten Moment befanden wir uns im Wohnbereich des Hausbootes. Unsere Jacken warfen wir achtlos auf den Boden, zwischen den Küssen lachten wir über Snørre, der irritiert von unserem Verhalten schien und uns aus seinen großen Augen anstarrte.
»Warte, ich muss ihm noch den Mantel ausziehen«, sagte ich und machte mich ans Werk. »Du musst jetzt kurz hierbleiben«, erklärte ich ihm.
»Oder etwas länger, aber fühl dich ganz wie zu Hause«, sagte Hendrik und schlang seine Arme um mich. Zehn Sekunden später schloss er die Schlafzimmertür hinter uns. Ich saß auf dem Bett und schaute ihn an, als er seinen Pullover samt Shirt in einer geschmeidigen Bewegung über den Kopf zog. Hm, sein Oberkörper war definitiv sehenswert. Die Tätowierungen zogen sich bis zu seinen Schultern, aber der restliche Oberkörper war weitestgehend nicht tätowiert. Langsam trat er näher und strich sanft meine Haare aus dem Gesicht. Ich griff zum Saum meines Shirts, zog es aus und warf es in eine Ecke neben das Bett. Hendrik fuhr über die Stelle mit meiner Tätowierung. Anschließend glitt seine Hand hoch bis zu meinem Kinn, und er hob es leicht an, sodass ich ihm ins Gesicht sehen musste.
»Was würdest du von mir denken, wenn ich dir sage, dass ich es unheimlich sexy fand, dir dieses Tattoo zu stechen?«
Seine Augen wirkten dunkel und voller Verlangen, das ebenso in mir pulsierte.
»Und was ist, wenn ich dir sage, dass es mir genauso ging?«
Er lächelte, dann beugte er sich vor und verschloss meinen Mund mit seinem, während meine Finger an seinem Oberkörper emporglitten.
»Snørre schnüffelt an der Tür«, sagte ich und hob träge den Kopf, bevor ich ihn wieder in Hendriks Arm legte. Ich wollte noch nicht aufstehen, ich wollte nicht, dass das hier endete. Noch immer pulsierten die Nachwehen meines Orgasmus durch meinen Körper. Der Sex war so unglaublich intensiv gewesen – entweder lag es daran, dass ich länger keinen gehabt hatte, oder es lag an Hendrik. Nicht so viel nachdenken, Lara!, erinnerte ich mich.
»Soll ich ihn reinlassen?«, murmelte Hendrik in mein Haar.
»Er wird ins Bett springen«, warnte ich ihn vor.
»Das ist mir klar, mich stört das nicht. Ich stelle ihm noch rasch eine Schale Wasser hin. Möchtest du auch etwas trinken?«
»Gern.« Es schien nicht so, als erwartete Hendrik, dass ich mich nun anzog und ging. Also kuschelte ich mich in sein Kissen und starrte genüsslich auf seinen nackten Hintern, als er die Tür zum Flur öffnete. Snørre sprang keine Sekunde später aufs Bett und schien ernsthaft erleichtert, mich gefunden zu haben. Nach einer kurzen Streicheleinheit rollte er sich am Fußende zusammen.
Hendrik kam mit einer Flasche Wasser, zwei Gläsern und einer Tüte Chips zurück. Nachdem er alles auf dem Nachtschrank abgestellt hatte, glitt er zurück unter die Decke. Er küsste meine nackte Schulter, setzte sich danach an das Rückenteil gelehnt hin und zog mich in seinen Arm. Und so befriedigend der Sex auch gewesen war – diese zärtliche Geste sorgte für einen viel größeren Tumult in meinem Bauch. Wie oft hatte ich mir, wenn ich abends im Bett einen meiner Liebesromane las, genau das gewünscht? Einfach zu kuscheln, fernzusehen, etwas zu lesen. Aber nie, nicht in meiner kühnsten Vorstellung hätte ich gedacht, dass ich das mit Hendrik erleben würde. Mein Kopf und mein Herz hatten immer noch ein paar Diskussionen am Laufen. Und ich seufzte.
»Alles okay?«, flüsterte Hendrik und küsste meine Stirn.
Verhalten nickte ich, ehe ich mich etwas aufrichtete, dabei aber die Decke vor meiner Brust festhielt.
»Versteh mich nicht falsch, ich wollte das hier. Sehr sogar. Aber es ist trotzdem irgendwie … unerwartet, verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich denke schon. Aber deswegen muss es nichts Schlechtes sein.«
»Nein«, murmelte ich und ließ den Kopf an seine Brust sinken. Zeichnete träge eines der Tattoos auf seinem Arm nach.
»Es ist mir etwas unangenehm, das anzusprechen, es ist auch nicht wichtig, aber … damals schienst du für mich nicht viel übrig zu haben. Na ja, du warst auch mit Linn zusammen …«
»Wie kommst du darauf?«
»Linn erwähnte so was …«
»Was genau?«
»Etwas über Anhängsel, lästig wie Hühneraugen.«
»Wie bitte?« Hendrik lachte, wirkte aber gleichzeitig verwirrt.
»Ist schon okay!«
»Nein, das ist nicht okay. So was habe ich nie gesagt!«
Ich war ein wenig enttäuscht, ich hatte gehofft, wir könnten offen darüber reden und würden am Ende vielleicht sogar über unsere jüngeren Ichs lachen.
»Lara.« Er griff nach meinem Arm und sah mich an. In seinem Blick lag ehrliche Verwirrung. »Das habe ich nicht gesagt, wie kommst du darauf?« Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was Linn genau gesagt hatte. Wieder dachte ich an Toms Worte mit dem Schubsen auf dem Schulhof und ärgerte mich, es überhaupt angesprochen zu haben. Womöglich hatte Hendrik es schlichtweg vergessen.
»Vergiss es einfach, vielleicht habe ich was verwechselt.«
Hendrik zögerte, doch er sagte nichts mehr.
»Warum bist du eigentlich nach Kopenhagen gegangen?«, wechselte ich das Thema und wünschte mir, ich hätte das vorherige nicht angeschnitten.
»Um in einem Tattoo-Studio zu arbeiten. Bei Mikkel Jørgensen, der ist europaweit recht bekannt, und das war eine große Chance.«
»Und hast du nach dem Abi gleich angefangen zu tätowieren? Ich erinnere mich nicht mehr, was du damals gemacht hast, oder besser gesagt, ich dachte, du machst gar nichts.«
»Ich habe tatsächlich ein Jahr lang gejobbt, bis ich wusste, was ich wollte. Dann habe ich eine Ausbildung zum Holzbildhauer hier in Flensburg begonnen.«
»Ah, ja, die Auszubildenden hatten kürzlich eine Ausstellung. Ist diese Holzskulptur im Wohnzimmer von dir?«
Hendrik nickte.
»Wow, die ist mega. Warum bist du nicht dabei geblieben?«
»Na ja, als Holzbildhauer ist es nicht unbedingt leicht, seinen Kühlschrank zu füllen. Damals wusste ich nur, ich wollte was Kreatives machen, und da lag das irgendwie nahe. Aber bereits während der drei Jahre habe ich mit dem Tätowieren angefangen. Die Zeit dort hat mir sicherlich geholfen, mich weiterzuentwickeln, auch zeichnerisch. Aber so ein Studium, wie Aline es gemacht hat, wäre im Nachhinein schon cooler gewesen.«
»Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich hätte mir die Ausbildung zur Krankenschwester schließlich genauso sparen können. Aber wer sagt schon nach dem Abi: Ich mache jetzt meinen eigenen Laden auf?«
»Ja, rückblickend ist völlig klar, wie man sich hätte entscheiden sollen …« Hendrik zog mich noch dichter an sich. Ich rollte mich auf ihn und blickte in seine Augen. Es lag so viel Zärtlichkeit darin, dass es mir ein bisschen Angst machte. Ich beugte mich vor und küsste ihn. Bis ich Snørres Nase an meiner Wange spürte. Wir mussten beide lachen, und in diesem Moment wünschte ich mir, die Zeit anhalten zu können.