Am Montag fuhr ich nach Ladenschluss zunächst nach Hause. Ich wollte neue Klamotten holen und dann zu Hendrik.
Im Wohnungsflur stand ein Koffer.
Es dauerte drei Sekunden, ehe ich begriff, was dieses Gepäckstück bedeutete. Linn. Sie war zurück. Ich schluckte, um meine trockene Kehle zu befeuchten. Schon seit zwei Tagen hatte ich ein zunehmend seltsames Gefühl im Magen gehabt. Das war manchmal so bei Zwillingen, ich konnte es nicht genau erklären. Wie damals, als sie im Eis einbrach – da war ich auch mit einem unguten Gefühl gegangen. Ein Teil von mir wollte in diesem Moment genau das: gehen. Doch um diese Konfrontation kam ich nicht herum.
Snørre schnüffelte neugierig am Koffer. Linn hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn beiseitezurollen. Und ich war nicht vorbereitet auf sie, auf das Gespräch, das nötig war – auf gar nichts. Ich wollte einfach nur, dass alles so weiterging wie in der letzten Woche.
»Lara?«, erklang ihre Stimme aus dem Bad. Ich schloss kurz die Augen und sammelte mich.
»Ja!«, antwortete ich, hängte dann wie ein Roboter meinen Mantel an den Haken, setzte mich in die Küche und wartete auf sie – wie schon so oft in meinem Leben.
Nur in ein Handtuch gewickelt kam sie in die Küche stolziert. »Snørre, du bist aber groß geworden!« Der kleine Hund freute sich, sie zu sehen, und sprang überschwänglich an ihr hoch, mir hingegen zog sich das Herz zusammen.
»Du bist also wieder da«, sagte ich steif, weil mir alle anderen Worte im Hals stecken blieben.
»Ja, war doch nur eine kleine Auszeit, nun bin zurück, und wenn du willst, übernehme ich den Laden diese Woche komplett, dann kannst du Urlaub machen. Pinkelt Snørre noch rein?«
In mir klinkte sich etwas aus und ich lachte humorlos auf. »Du warst über zwei Monate weg und du hast auf keine meiner Nachrichten reagiert. Denkst du echt, es läuft einfach so weiter wie vorher?«
»Äh, ja? Jetzt reg dich mal nicht gleich wieder auf.«
»Du bist so unfassbar!«, schrie ich und wusste gar nicht, wohin mit meinen Emotionen. »Du bist doch nur zurückgekommen, weil ich gedroht habe, die Zahlungen einzustellen!«
»Das stimmt nicht, mir bedeutet der Laden auch was, und er gehört genauso mir wie dir! Mama und Papa haben sich schließlich auch öfter eine längere Auszeit von der Brauerei genommen.«
Ich schnaubte. »Das war geplant, abgesprochen, in keiner Weise vergleichbar mit dem, was du mit mir abziehst!«
Sie sah mich für einen Moment aus verengten Augen an, ehe sie sich dem Hund zuwandte. »Komm, Snørre, wir gehen ins Wohnzimmer, dann kann sie sich erst mal abregen.«
Snørre sah zu mir und dann zu Linn, doch schließlich trottete er zu mir und sprang auf meinen Schoß. Automatisch strich ich über seinen Rücken. Ich sah das aufblitzende Entsetzen in Linns Gesicht, aber was hatte sie gedacht? Dass der Hund sich nicht an mich gewöhnen würde? Er war immerhin noch ein Welpe! In der nächsten Sekunde war ihre Miene wieder unergründlich, und sie lächelte träge. »Dann eben nicht.« Sie verließ die Küche.
Kurz überlegte ich, Snørre zu nehmen und zu Hendrik zu fahren, doch ich stand zu sehr unter Schock. Wie gelähmt saß ich da, ehe ich zu meinem Handy griff. Mit einem Kloß im Hals textete ich Hendrik.
Ich kann heute nicht kommen, Linn ist zurück.
Oh … Alles okay? Du kannst jederzeit anrufen oder vorbeikommen, ja?
Danke
Für einige Minuten blieb ich noch sitzen, bevor ich Linn in das Wohnzimmer folgte. Sie saß auf der Couch und tippte auf ihrem Handy herum. Hatte sie echt gedacht, sie könne so tun, als sei sie nur eben im Supermarkt gewesen? Als hätte mich ihr Verhalten nicht verletzt?
»Linn …«, begann ich.
»Hast du die Fotos in der Gruppe gesehen? Von der Show, die wir für die Gäste auf die Beine gestellt haben?«
Irritiert schüttelte ich den Kopf.
»Eigentlich sollte ich gar nicht mitspielen, aber es war total witzig, du musst dir unbedingt das Video dazu ansehen.«
»Äh, nein, ich will mir nicht deine Urlaubsbilder ansehen. Ich will mit dir übers Hygge Up reden.«
»Das war kein Urlaub – hast du eben selbst gesagt.«
Ich schnaubte auf. »Ist doch total egal!«, fuhr ich sie unwirsch an.
»Jetzt rege dich nicht sofort wieder auf … ich verstehe, du willst reden. Das kenne ich ja von dir. Du zerdenkst und zerredest ja alles gern. Aber darf ich auch erst mal ankommen, Luft holen? Reicht das nicht auch morgen? Es wirkt so, als würdest du dich überhaupt nicht freuen, dass ich wieder da bin! Ich habe dich vermisst!«
Ich sah die Provokation in ihrem Blick, und ich schwieg. Dieses Mal ließ ich mich nicht von ihr um den Finger wickeln. Wie benommen stand ich da und hörte nicht mal, was Linn von ihrer Zeit auf Gran Canaria erzählte – es interessierte mich schlichtweg nicht.
Schließlich verschob ich das Gespräch über den Laden auf morgen und ging früh zu Bett. In der letzten Stunde hatte sich ein pochender Kopfschmerz hinter meinen Schläfen breitgemacht. Auf dem Rücken liegend starrte ich an die Decke, bis ich ein Fiepen vor der Tür hörte. Ich öffnete sie einen Spalt, und der kleine Hund tapste ins Zimmer und kuschelte sich an mich. Ich zog ihn ganz dicht zu mir und driftete in den Schlaf.
Natürlich schlief Linn noch, als ich aufstand, und deswegen machte ich alles wie in den letzten Monaten und nahm Snørre mit.
Doch kaum war ich eine Stunde im Hygge Up, tauchte sie auf.
»Was für ein Scheiß-Wetter!«, schimpfte sie und sah sich im Laden um. »Oh, du hast den großen Schrank verkauft.«
»Ja, schon im letzten Jahr.«
»Ich dekoriere die Ecke hinten links heute mal um, willst du nicht frei machen? Snørre und ich kriegen das schon hin.«
Ich seufzte. »Nein, Linn, eigentlich will ich mit dir reden. Ich habe viel nachgedacht, seit du mich im Stich gelassen hast.«
Ihre Stirn kräuselte sich, und dieser mir wohlbekannte trotzige Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. »Ich habe dich nicht im Stich gelassen, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier, oder?«
»Aber so funktioniert das nicht! Entweder du übernimmst exakt die Hälfte von allem, oder du bekommst weniger Geld. Ich habe darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, die GbR aufzulösen.«
»Was? Nur weil ich mal eine Auszeit brauchte? Vielleicht brauchst du auch mal eine! Ich würde dir das nicht verwehren. Und du allein kannst die GbR nicht auflösen!«
Man durfte nicht den Fehler machen, Linn zu unterschätzen. Bei aller Leichtigkeit in ihrem Leben war sie nicht dumm. War klar, dass sie genau wusste, was rechtlich möglich war.
»Ja, mag sein, nur ich bin mir meiner Verantwortung bewusst.«
»Ach ja, verantwortungsvoll sein – das kannst du ja so gut«, ätzte sie. »Aber das hier ist genauso mein Laden wie deiner, und ich bin jetzt zurück und habe dir sogar angeboten, erst mal freizumachen, aber du siehst dich ja zu gern in der Rolle der Märtyrerin.«
»Geht’s noch?« In diesem Moment fragte ich mich, ob sie mich im Grunde ihres Herzens wohl liebte oder doch eher hasste.
Die Tür schwang auf, und Hendrik kam herein. Snørre stürmte auf ihn zu, und meiner Schwester wich ein bisschen die spanische Bräune aus dem Gesicht. Hendrik bedachte sie mit einem neutralen Gesichtsausdruck. »Hallo Linn«, sagte er und kam dann geradewegs zu mir.
Er lächelte, aber in seinen Augen las ich die Frage, ob alles okay war. Fast unmerklich schüttelte ich den Kopf und versuchte, ihm stumm zu verstehen zu geben, dass es keine gute Idee war, meiner Schwester jetzt zu offenbaren, dass etwas zwischen uns lief. Das würde nur vom eigentlichen Thema ablenken.
Hendrik verstand und blieb vor dem Kassentresen stehen.
»Ich habe noch eine Frage wegen der … äh … Osteraktion. Sollte ich jetzt eigentlich die Karten in den Druck geben?«
Das hatten wir schon längst geklärt, aber ich war ihm dankbar, dass er so schnell schaltete. Ich schluckte und nickte. »Kannst du ruhig machen. Erst mal fünfhundert?«
»Ja, das klingt gut, bis … dann.«
Ich nickte erneut, während er Snørre noch mal streichelte. Linn verfolgte alles haargenau, und ich sah schon, bevor Hendrik den Laden wieder verließ, dass es in ihrem Kopf ratterte. Ich gab vor, die Belege vom Vortag zu sortieren, doch ich spürte ihren stechenden Blick auf mir.
»Was denn für eine Osteraktion?«
»Die Kunden erhalten beim Einkauf einen Rabattgutschein für einen der anderen Läden.«
»Ich dachte, du bist gegen das Tattoo-Studio?«
»War ich auch, aber ich lag falsch mit meiner Einschätzung.«
»Aha. Ihr scheint ja inzwischen richtig dicke miteinander zu sein.«
»Hm«, machte ich und schaffte es nur, sie flüchtig anzusehen.
»Scheiße, ihr habt was miteinander!«, keuchte sie, und ich schloss die Augen, holte tief Luft und zwang mich anschließend, sie anzusehen. Zu meinem Erstaunen sah sie ernsthaft getroffen aus. »Du leugnest es nicht einmal … du … du …« Sie sah mich aus ihren blauen Augen an, die meinen so ähnlich waren. Doch ihre blickten so kalt wie die Arktis. »Es reicht dir wohl nicht, mir den Laden wegnehmen zu wollen und den Hund, nein, Hendrik willst du auch noch!«
»Mir war nicht klar, dass er dir gehört «, erwiderte ich ruhig. »Und den Laden und Snørre hast du zurückgelassen, und ich hatte keine Wahl, als mich zu kümmern.«
»Du … du bist so eine blöde Kuh! Ich hasse dich! Wie konntest du mir das antun?«
Verwirrt zog ich meine Stirn kraus. »Das mit dir und Hendrik ist doch ewig her, ich verstehe dein Problem nicht ganz.«
»Und außerdem habe ich dir gesagt, dass er mich bitter verarscht hat!«, schrie sie nun, und ich hoffte, es möge keine Kundschaft hereinkommen.
»Aber du hattest das bis zu seinem Auftauchen im Hof nicht einmal erwähnt. Warum hast du nie etwas gesagt, wenn es so schlimm für dich war?«
»Was hat er dir denn erzählt?«
»Nichts«, log ich. »Und ihr wart doch erst zwanzig, da macht man eben Fehler. Du hast wahrhaftig auch viele gebrochene Herzen hinter dir zurückgelassen.«
»Das stimmt überhaupt nicht. Meistens war mir und den Männern völlig klar, dass es sich um nichts Ernstes handelte.«
Ich sah sie an und öffnete den Mund, um zu widersprechen. Oder warum sonst hatte sie häufiger versucht, mich mit ihren Verflossenen zu verkuppeln, damit sie ihre Ruhe hatte? Doch sie war schneller und fuhr aufgebracht fort: »Und du glaubst, ich war sein Fehler, und jetzt hat er endlich den perfekten Zwilling? Oder was willst du damit sagen?«
»Nein, ich …« Ich verstand gerade nur Bahnhof, und die Situation überforderte mich maßlos. Es war schon schwierig genug, sich wegen des Ladens mit ihr auseinanderzusetzen, und Snørre … »Können wir bitte heute Abend weiter darüber reden?«, sagte ich leise, als die Türglocke ging und eine Kundin reinkam.
Linn fixierte mich für einen Moment, und ich erschrak ein wenig vor der Wut in ihrem Blick. Dann stapfte sie an mir vorbei, rief zweimal den Hund, aber der sah nur mich an. Sie riss ihre Jacke vom Haken und zwei Sekunden später knallte die hintere Ladentür zu. Snørre zuckte zusammen und schaute unsicher zu mir hoch. Ich war genauso verwirrt, so viel stand fest.
Den Rest des Tages verbrachte ich in einer Art Nebel. Es waren einfach zu viele Baustellen auf einmal. Snørre, der Laden und Hendrik – und alles war irgendwie mit meiner Schwester verknüpft. Hendrik schrieb mir mehrmals.
Alles okay da drüben?
Sehen wir uns heute Abend noch?
Die erste Nachricht ignorierte ich, auf die zweite antwortete ich ausweichend, dass ich erst einmal ein paar Dinge mit Linn klären musste und ich mich bei ihm melden würde. Danach kam nichts mehr von ihm.
Nach Ladenschluss wollte ich nicht sofort nach Hause und fuhr erst mal an den Strand, lief eine Stunde mit Snørre am Wassersaum entlang. Linn konnte nicht einfach zurückkommen, wenn es ihr passte oder weil ich drohte, ihr den Geldhahn zuzudrehen, und dann denken, es lief hier alles weiter wie zuvor. Sie benahm sich wie ein trotziges Kind. Doch was sollte ich machen, wenn sie sich völlig querstellte? Ich schaute auf Snørre. Wir wohnten zusammen, es spielte im Grunde keine Rolle, ob er mir oder Linn gehörte, redete ich mir ein. Ich würde ihn jeden Tag sehen. Dennoch stiegen mir Tränen in die Augen. Er und ich waren in den letzten Wochen zu einem Team zusammengewachsen, und Linn hatte überhaupt keine Ahnung von Hunden. Vielleicht konnten wir abwechselnd zu Kerrin in die Hundeschule gehen.
Ein klein wenig zuversichtlicher fuhr ich zu unserer Wohnung. Bereits im Hausflur dröhnte mir der Sound einer Band entgegen, die ich nicht kannte. Linn saß im Wohnzimmer und lackierte sich die Nägel. Ich fütterte erst einmal Snørre und ging dann zu ihr. Ich rechnete schon mit einer zickigen Bemerkung, aber erstaunlicherweise wirkte Linn eher bedrückt.
Während ich noch nach einem Anfang suchte, sagte sie: »Der Laden bedeutet mir genauso viel wie dir, und ich verspreche, dass ich ab jetzt fünfzig Prozent von allem übernehmen werde. Ich habe mit Mama geredet und … na ja, sie hat mir klargemacht, wie schwer die letzte Zeit für dich war.«
Erstaunt hörte ich zu und war hin- und hergerissen. Ich wollte ihr so gern glauben, doch sie hatte mir vor allem im letzten Jahr ein ums andere Mal bewiesen, dass sie wunderbar leere Versprechungen machen konnte.
»Es tut mir leid, ehrlich! Ich …«, fuhr sie fort, doch ich unterbrach sie.
»Linn, ehrlich gesagt habe ich es satt, an deine Versprechungen zu glauben. Ich bin nicht länger bereit ...«
»Meinst du etwa, es ist leicht für mich?«, fiel sie nun mir ins Wort.
»Wie meinst du das?« Ich wusste nicht, was für sie schwerer als für mich sein sollte.
»Na, mit dir!«
»Mit mir?«, fragte ich und musste lachen.
»Ja, lach nur. Aber weißt du, wie ätzend es ist, mit dem perfekten Zwilling aufzuwachsen? Weißt du, wie mich deine perfekte, überkorrekte Art ankotzt? Seit ich damals auf dem Eis eingebrochen bin, hast du mich immer wieder spüren lassen, dass du recht hattest. Mir blieb doch letztlich nur die Rolle des schwarzen Schafes! Aber es reicht dir scheinbar nicht mehr, neben mir zu glänzen und Everybody’s Darling zu sein. Nein, jetzt willst du mir auch noch den Laden wegnehmen, der meine Idee war! Und den Hund, den ich mir angeschafft habe. Und du kriegst den Hals nicht voll. Also nimmst du auch noch den Mann, der mir alles bedeutet hat, den ich so sehr geliebt habe.«
»Was? Was redest du für einen Blödsinn? Vor ein paar Wochen hast du noch erzählt, Hendrik sei ein Arsch, von Liebe war nie die Rede!«
»Ja, um dich von ihm fernzuhalten.«
»Mich fernzuhalten? Ich … ich verstehe das alles nicht.«
Der Reihe nach, sagte ich mir im Stillen und versuchte mich zu beruhigen. »Ich will dir den Laden nicht wegnehmen. Ich weiß, dass er deine Idee war.« Fairerweise musste ich zugeben, dass ich mich ohne Linn vielleicht nie getraut hätte, den Job im Krankenhaus an den Nagel zu hängen. »Aber es funktioniert eben nicht, wenn du die Idee hast, die ganze Arbeit aber an mir hängen bleibt. Wir hatten doch gesagt, das ist unser Baby.«
»Dann solltest du nicht ständig alles an dich reißen.«
Zunächst wollte ich widersprechen, doch ganz unrecht hatte sie nicht. Weil ich immer im Vorhinein das Schlechteste von ihr erwartete, erledigte ich tatsächlich vieles lieber gleich selbst. In mir rumorte es. Zu Hause waren früher durchaus Sätze gefallen wie »Warum nimmst du dir kein Beispiel an Lara?« oder »Lara kommt immer pünktlich nach Hause«. Womöglich hatte ich mich all die Jahre zu sehr auf meine Seite der Medaille fokussiert und mich nicht genug auf Linn eingelassen.
Ich atmete lange aus, wog ab, welche Möglichkeiten ich hatte. Wollte ich die Trennung beim Geschäft jetzt tatsächlich durchziehen und riskieren, dass wir uns bis in alle Ewigkeiten darüber verkrachten? Ich dachte an meine Mutter, daran, wie sehr ihr das zusetzen würde. Vielleicht, wenn ich mein eigenes Verhalten auch änderte … Vielleicht sollte ich ihr – uns – noch diese eine Chance geben.
»Wie würdest du es dir denn in Zukunft vorstellen?«, fragte ich zögerlich.
Kurz wirkte meine Schwester verdutzt. Elegant schlug sie die Beine übereinander. »Gut … Ich … Also, ich würde zum Beispiel lieber länger im Laden stehen als die Buchhaltung zu machen. Dafür könnte ich aber auch mal eine Einkaufstour nach Holland allein übernehmen.«
Ich zögerte prompt, weil wir uns nicht immer einig waren, welche Möbel sich am besten fürs Hygge Up eigneten, ehe ich sagte: »Schön, können wir so machen, aber ich will dann einen Tag in der Woche komplett frei haben für den Papierkram, und wir erstellen für jeden Monat einen Plan, wann wer im Hygge Up ist.« Wir besprachen noch einige weitere Punkte, und es fühlte sich wie das erste gute Gespräch seit Ewigkeiten an. In mir regte sich ein Hauch Zuversicht.
»Gebongt. Ich verspreche dir, ab jetzt hänge ich mich wieder rein.« Sie lächelte, und es war ein wenig, als wenn ich in den Spiegel schaute. Wie konnte mich ihr Glück nicht selbst glücklich machen, wenn sie mein Ebenbild war?
»Urlaub wird aber in Zukunft abgesprochen, und nicht länger als zwei oder drei Wochen am Stück.«
»Ja, ist angekommen, tut mir echt leid, Sis.«
»Außerdem – ich bin mit Snørre zur Hundeschule gegangen, es bringt ihm Spaß, und ich habe eine Menge gelernt. Was hältst du davon, wenn wir weiterhin abwechselnd mit ihm hingehen?«, nahm ich das nächste Thema in Angriff.
»Klar, wieso nicht. Wann ist es?«
»Donnerstags um sieben.« Sicherheitshalber verschwieg ich, dass es sich bei Kerrin um Hendriks Schwester handelte. »Und, ähm, er braucht bei Temperaturen unter zwölf Grad einen Mantel, sein liebster ist der grüne.« Ich fühlte mich wie eine Mutter, die ihr Kind einer anderen anvertrauen musste. Es ist ihr Hund, ermahnte ich mich.
Kurz wirkte es, als wolle Linn etwas Spitzes erwidern, doch sie schluckte es runter, pulte an ihren frisch lackierten Nägeln und schwieg eine Weile, ehe sie sagte: »Ich habe ihn echt geliebt, weißt du. Und ein Teil von mir tut es noch immer. Aber er hat mir das Herz gebrochen. Vielleicht konnte ich mich wegen ihm nie ganz auf jemand anderen einlassen. Weil … weil ich es tief in mir drin noch nicht verwunden habe.«
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich begriff, dass sie nicht mehr von Snørre, sondern von Hendrik sprach.
In mir zog sich alles zusammen. »Bist du dir sicher?«, fragte ich, denn ich war ehrlich irritiert von ihrer Aussage.
»Ob ich mir sicher bin, wer mir das Herz gebrochen hat?« Sie lachte bitter.
»Aber … Aber wieso hast du denn nie etwas gesagt?«
Linn zog ihre schmalen Schultern nach oben. »Keine Ahnung, ich schätze, es war mir unangenehm.« Sie sah mich an, und auch wenn sie entschieden dagegen anblinzelte, erkannte ich, dass ihre Augen feucht schimmerten.
In meinem Innern verquirlten sich die Gefühle für Hendrik und Linn, dazu gesellte sich eine gehörige Portion schlechtes Gewissen.
»Linn, wenn ich das gewusst hätte …«, begann ich. Meine Gedanken rasten zurück zu all den Herzklopf-Momenten der letzten Wochen, dann schaute ich in das Gesicht meiner Schwester. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nie was mit ihm angefangen.« Ich wusste, dass es der Wahrheit entsprach, so sehr sie auch schmerzte. Aber wer fing schon etwas mit dem Ex der Schwester an, wenn der ihr das Herz gebrochen hatte? Niemand tat so etwas. Aber ich, ich hatte es getan, und so sehr ich ihr immer vorwarf, egoistisch zu sein – ich war es offenbar ebenso.
»Und nun? Jetzt weißt du es. Du kannst nicht mit ihm zusammen sein. Das ertrage ich nicht, okay? Er … er war der einzige Typ, in den ich jemals richtig verliebt war. Du hättest dir jeden anderen aussuchen können, aber nicht ihn.«
Zwar klang sie ein wenig, als spräche sie von ihrem Lieblingsspielzeug, aber unabhängig davon wurde mir klar, dass es nicht funktionieren würde. Dass ich es ihr nicht antun konnte, mit dem Mann zusammen zu sein, für den sie einst starke Gefühle gehabt hatte und der sie offenbar so sehr verletzt hatte, dass sie noch heute nicht darüber hinweg war. Ich hatte sie völlig falsch eingeschätzt, und ich schämte mich dafür, dass ich automatisch angenommen hatte, die Sache zwischen ihr und Hendrik habe keine Bedeutung für sie, weil sie oft in belanglosen Geschichten mit Männern steckte.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Drückende Stille senkte sich über das Zimmer. Ein Teil von mir sträubte sich, die nächsten Worte auszusprechen, doch der andere Teil wusste, dass es unumgänglich war. »Es … ich werde das mit ihm beenden.« In dem Moment, als ich die Worte aussprach, waren sie mir schon zuwider und schmeckten bitter auf meiner Zunge. Ich hätte am liebsten jede Silbe zurückgenommen. Aber Linn war meine Schwester. Mein Zwilling. Wie konnte mir ein Mann, den ich vor wenigen Wochen noch selbst aus dem Hinterhof ekeln wollte, jetzt wichtiger sein als der Mensch, der dieselbe DNA besaß wie ich? Selbst wenn ein Teil meines Herzens schrie und protestierte, konnte ich Hendrik nicht über Linn stellen.
Tränen verschleierten meine Sicht. Snørre schien meinen inneren Aufruhr zu spüren und legte seinen Kopf auf mein Bein.
»Gut.« Linn schien etwas überrascht. Doch dann lächelte sie und schlang ihre Arme um mich, während ich versuchte, das Zittern meiner Unterlippe zu verbergen. Ihr vertrauter Duft nach Kokos-Duschgel stieg mir in die Nase. »Es tut mir so leid, dass ich einfach abgehauen bin. Aber jetzt wird alles anders.«